(tv/hpd) Alexander VI. Borgia ist der am meisten verkannte und verlästerte Papst der Geschichte. Doch ist seine Bedeutung noch längst nicht erkannt. Um ihn aufzuwiegen, müssten mindestens fünf Benedikt XVI. herhalten. Jedenfalls reicht Ratzinger, Benedikt der Blasse, bei weitem nicht an den Borgia heran. Ein paar Sätze zu der gerade auf Pro 7 laufenden Serie "Die Borgias": Sex-Macht-Mord-Amen.
Von Horst Herrmann
Alexander VI. Borgia besaß nun einmal die erstaunliche Gabe, die Zuneigung derer zu wecken, die ihn interessierten. Frauen wurden „von ihm stärker angezogen als Eisen von einem Magnet“ (Guarino da Verona). Daraus darf geschlossen werden, dass er sie seine Wünsche kaum je erraten ließ. Seine Wahl zum Papst störte diese Potenz nicht.
Kein Wunder: Eine Frau, die damals keinen Geliebten vorweisen konnte, wurde bisweilen als reizlos oder gesellschaftlich kompromittiert angesehen. Und ein Mann, der sich keine Geliebte hielt, war entweder impotent oder finanziell ruiniert. War dem Borgia zuzumuten, sich anders zu verhalten, als erwartet wurde?
Italien war der Natur des Fleisches gegenüber stets nachsichtig gewesen. Ein gewisses Maß an Zerstreuung scheint die Epoche jedem, nicht zuletzt dem zölibatären Kleriker, zugebilligt zu haben. Die Entrüstung über all dies, das Wahre wie das Erdichtete, kommt erst im moralisierenden 18. Jahrhundert auf. Viele Zeitgenossen der Borgia sind um einiges abgebrühter. Das Tabu des Sexuellen ist erst noch auszumachen; Ähnliches gilt für die modernen Tabus Geld, Macht, Tod.
Es gibt nach Johannes van Ussel zahlreiche Zeugnisse für die betont prosexuelle Einstellung und Lebensweise der Menschen im 15. und im 16. Jahrhundert. Es war ja allgemein anerkannt, dass jeder Mensch zu seiner Sexualität stehen und sie auch äußern dürfe, damit seine Gesundheit nicht in Gefahr gerate. Körperlichkeit wurde in einem Maß praktiziert, die heute verlernt ist. Die Menschen berührten, streichelten, umarmten sich in der Öffentlichkeit, Ammen und Eltern masturbierten kleine Kinder, um sie ruhig zu halten. Ältere Menschen hatten Kontakte zu Jugendlichen, die heute als sexuelle Belästigung gelten. Die Selbstbefriedigung, von der die Bibel schweigt, war kein Thema für Theologen; sie wird erst seit dem 18. Jahrhundert von Medizinern und dann von Geistlichen im Rahmen ihrer hands-off-Pädagogik als „Affengräuel“ bekämpft.
Daheim schlafen alle nackt, die ganze Familie, die Bediensteten in einem Raum. Bei feierlichen Anlässen stellen die Städte ihre hübschesten Mädchen nackt zur Schau. Vor- und außereheliche Beziehungen sind fast schon institutionalisiert, jedenfalls kein Grund, sich aufzuregen. Fürsten huldigen der Promiskuität; kaum jemand kritisiert sie.
Der berühmte Zeitgenosse der Borgia, Erasmus von Rotterdam (1466-1536), illegitimer Sohn eines Dorfpriesters und selbst Kleriker, stellt wenige Jahrzehnte später den Geist der Zeit dar: Jungfrauen mag er nicht, denn „wie es für einen Wein besser ist, getrunken zu werden, bevor er sauer wird“, hat es keinen Sinn, lange Jungfrau zu bleiben. Das zölibatäre Leben kommt einer Kastration gleich, Enthaltsamkeit ist keine Tugend. Und er ruft die Strafe Gottes auf weltliche wie kirchliche Obrigkeiten herab, die „uns das Recht, unsere Ehen scheiden zu lassen, genommen haben“.
Die Problematisierung des Sexuellen, ein Erbübel noch heute, stammt aus dem späten 18. Jahrhundert. Vom 16. Jahrhundert an, an dessen Beginn die Borgia stehen, nimmt die Verdrängung der Sexualitäten zu. Schließlich wird das bürgerliche Verhaltensmuster, von einer durchaus dem Zeitgeist angepassten Kirche gefördert, als das einzig sittliche durchgesetzt. Es fordert den Körper als Organ der Leistung statt der Lust. Es favorisiert eine bloße Leistungsmoral, die das lustvolle Erleben von Eros und Sexualität ebenso misstrauisch wie neidisch beäugt.
Verständlich, dass das Bürgertum die Wertesysteme anderer Zeiten und Schichten nicht versteht und als unsittlich charakterisiert. Dem Borgia-Papst ist das nicht anzulasten.
Dazu noch das ZITAT DER WOCHE: „Das Christentum saß nicht mehr auf dem Stuhl des Papstes! Sondern das Leben! Sondern der Triumph des Lebens! Sondern das große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen!“ (Friedrich Nietzsche)
Die Serie läuft jeweils mittwochs um 20:15 Uhr auf Pro7. Heute der 2. Teil.
Erstveröffentlichung des Textes hier.
Prof. Dr. Horst Herrmann hat u.a. das Buch "Die Heiligen Väter. Päpste und ihre Kinder" verfasst, in der er sich auch mit Alexander VI. beschäftigt.