Dynamik und Komplexität einer Region

(hpd) Die politische Entwicklung im Nahen Osten bildet immer wieder ein Schwerpunktthema der medialen Berichterstattung.

Dabei stehen meist diktatorische Herrschaftspraktiken und soziale Verelendung, bürgerkriegsähnliche Unruhen und terroristische Anschläge im Zentrum. So sehr derartige Erscheinungsformen die dortige Realität mit erfassen, so wenig lässt sich die Region auf damit verbundene Klischees reduzieren.

 

Darauf wollen die Autoren des Sammelbandes „Von Marokko bis Afghanistan. Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten" aufmerksam machen. Herausgegeben hat ihn der an der Universität Duisburg-Essen lehrende Politikwissenschaftler Jochen Hippler, der darin seinen akademischen Schülern ein Forum für ihre Analysen bietet. Sie wollen in dieser gebündelten Form eine Einführung in die politische Entwicklung des Nahen und Mittleren Ostens präsentieren. Hierbei orientiert man sich an folgenden Fragen: Wer sind die wichtigsten Akteure? Worin bestehen ihre Interessen? Wie versuchen sie sie durchzusetzen? Welche Haltung nimmt der Westen ein?

Der Sammelband besteht aus drei Teilen: Zunächst geht es um eine allgemeine Skizze zu den Grundproblemen der konfliktträchtigen Region, wobei immer wieder für eine differenzierte Betrachtung unabhängig von einer spezifischen Interessenlage des Westens plädiert wird. Dem folgen Länderstudien zu Afghanistan, Irak, Iran, Libanon, Marokko, Palästina und Syrien. Sie beschreiben und kommentieren die jeweilige aktuelle Situation mit unterschiedlichen Schwerpunkten, etwa bezüglich des Atomkonfliktes mit dem Iran, des Opiumanbaus in Afghanistan oder dem Staatszerfall ohne Staatlichkeit in Palästina. Und schließlich finden sich noch Beiträge, die auf allgemeine Problemfelder des Nahen und Mittlern Ostens eingehen: Hierbei geht es um die Demokratieförderung in arabischen Ländern, die Hintergründe des islamistischen Terrorismus, die Rolle der USA im Mittleren Osten, die Diskriminierung von Frauen in muslimisch geprägten Gesellschaften und die zukünftigen Konfliktpotentiale durch die Wasserknappheit der Region.

Bilanzierend betrachtet handelt es sich um einen überaus kenntnisreichen und problemorientierten Sammelband, der einen guten Überblick zu den Konfliktfeldern und Umbrüchen in der Region vermittelt. Bei den Länderstudien enttäuscht das Fehlen von Beiträgen über Ägypten, Algerien, Israel oder Saudi Arabien. Dafür nennt Hippler zwar in der Einleitung Gründe, gleichwohl kann angesichts der politischen Bedeutung dieser Länder der Hinweis auf den „Mut zur Lücke" nicht so recht überzeugen. Als formaler Kritikpunkt wäre darüber hinaus noch darauf zu verweisen, dass die Länderstudien keine einführenden Gesamtdarstellungen, sondern problemorientierte Erörterungen darstellen. Aber gerade dies macht auch deren inhaltlichen Reiz aus. Hierbei weisen die Autoren auf wichtige Zusammenhänge hin, etwa bezüglich der negativen Auswirkungen der Opiumökonomie auf den Staatsbildungsprozess in Afghanistan oder der politischen Legitimation für das iranische Streben nach dem Besitz von Atomwaffen.

Unabhängig davon, ob man allen Bewertungen zustimmt oder nicht, enthalten die einzelnen Aufsätze beachtenswerte und reflexionswürdige Analysen und Einschätzungen. So wird etwa das Aufkommen des politischen und terroristischen Islamismus nicht direkt aus der Religion abgeleitet. Vielmehr stehe er für ein politisches und soziales Konfliktpotential, das sich religiös wie säkular artikulieren könne. Selbst Bin Ladens Gewaltbegründung sei inhaltlich säkular ausgerichtet und nur verbal religiös überlagert. Die Rolle des Islam bestehe bei den Islamisten lediglich darin, dass er zusätzliche individuelle oder kollektive Motive anbiete.

Besondere Beachtung verdient auch die Analyse zu den aktuellen Konflikten im Irak, wo das ursprüngliche Projekt der Bush-Administration völlig gescheitert ist. Man habe das erreicht, was man zu beseitigen vorgab: dass das Land zu einer Brutstätte des Terrorismus wurde. Derartige Einschätzungen werden in differenzierter Argumentation und klarer Sprache vorgetragen, sie schärfen den kritischen Blick auf die Dynamik und Komplexität der Region.

Armin Pfahl-Traughber

 

Jochen Hippler (Hrsg.), Von Marokko bis Afghanistan. Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten, Hamburg 2008 (Konkret Literatur Verlag), 252 S., 17,00 €