Nicht nur das Internet ist voll von Verschwörungsideologien. Welche sozialpsychologischen und soziologischen Aspekte dabei von Bedeutung sind, thematisieren die Beiträge eines aktuellen Sammelbandes "Radikalisierung durch Verschwörungstheorien".
"Letztlich geht es Verschwörungstheorien um eine Attribution von Verantwortung in einer modernen Welt, in der Verantwortung diffundiert, Zusammenhänge weitläufiger werden und Bürger keinen Adressaten mehr für ihre Probleme zu finden glauben außer 'denen da oben'". Dies schreibt die Politikwissenschaftlerin Astrid Séville, hier als Herausgeberin eines Sammelbandes über Verschwörungsvorstellungen. Dieser geht zurück auf eine vom Sir Peter Ustinov Institut geplante Konferenz, die bereits 2022 in Wien durchgeführt wurde. Die Aufsatzfassungen dort gehaltener Vorträge ließen demnach etwas auf sich warten. Darin enthaltene Bezüge insbesondere auf Corona-Deutungen erklären sich auch so. Mittlerweile gibt es für Konspirationsvorstellungen schon wieder andere Themenschwerpunkte. Dies bestätigt auch ein wenig die einleitend zitierte Aussage, wonach die Attraktivität derartiger Denkvorstellungen eben mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun hat, insbesondere der Elitenkritik und dem Verantwortungsgefühl.
Der gemeinte Band, erschienen als "Radikalisierung durch Verschwörungstheorien. Zum Umgang mit einem demokratiegefährdenden Phänomen", hat aber eine noch darüber hinausgehende Perspektive. Diese ist indessen nicht so stark auf besondere Inhalte konzentriert, wie der erwähnte Titel nahelegt. Erstaunlicherweise fehlt eine ideen- und realgeschichtliche Blickrichtung, dominiert doch eine sozialpsychologische beziehungsweise soziologische Perspektive bei den jeweiligen Verfassern. Das führt auch in der Gesamtschau dazu, dass die abstrakte Ebene ein wenig zu sehr vorherrscht. Häufig hätte man sich mehr Bodenhaftung bei Darstellung und Deutung gewünscht, denn die präsentierten Inhalte verdienen sehr wohl breitere Wahrnehmung. Hinzu kommt noch bei den neun enthaltenen Aufsätzen, dass sich die letzten Beiträge mitunter zu sehr vom eigentlichen Thema entfernen. Dies spricht nicht für ihren Erkenntnisreichtum, es muss aber bei dem präsentierten Sammelbandtitel schon angemerkt werden.
Zunächst aber zu den jeweiligen Inhalten, wobei hier wie bei den meisten Sammelbandrezensionen diese nur kurz genannt werden können. Am Beginn steht eine Betrachtung von Konspirationsvorstellungen aus einer allgemeinen sozialwissenschaftlichen Perspektive, hier von Nils Kumkar vorgenommen. Dem folgt ein mit Michael Butter geführtes Interview, worin er sich über Besonderheiten und Funktionsweisen von Verschwörungsideologien auslässt. Darin finden sich auch einige der sonst fehlenden Ausführungen zu historischen Gesichtspunkten derartiger Vorstellungen, welche erst die gegenwärtige Bedeutung davon im inhaltlichen Vergleich deutlich machen. Danach werden Adornos Autoritarismus-Studien von Clara Schliessler reaktiviert, um sie mit Esoterik und Konspirationsmentalität zu verknüpfen. Leider endet dann bereits die eigentliche Schwerpunktsetzung zu Verschwörungsvorstellungen. Denn danach bilden diese nur noch marginal Bezugspunkte für aber kontextuell interessante Fragestellungen.
Dies gilt etwa noch für die Analyse zu Einsamkeitserfahrungen von Jugendlichen, hier von Michele Deutsch und Paulina Fröhlich vorgelegt. Sozialpsychologische Betrachtungen zum Corona-Komplex sind danach bei Markus Brunner und Florian Knasmüller ein Thema. Ein weiteres Interview, hier zur Beratungspraxis durch die Bundesstelle für Sektenfragen, steht danach im Zentrum. Und dann wird auch der digitale Bereich genauer in den Blick genommen, einmal bezogen auf Hassreden und Staatsphobie in Sozialen Medien durch Maria Do Mar Castro Varela, und einmal auf die algorithmische Dimension digitaler Konspirationsvorstellungen durch Helena Mihaljevic. Der Band endet mit Binnenansichten zur Wissenschaftskommunikation von Elke Ziegler. Insgesamt entsteht kein einheitliches oder rundes Bild, was aber für die meisten Sammelbände gilt. Sie liefern für weiterführe Analysen wichtige Bausteine, nicht mehr und nicht weniger ist wohl angesichts der aktuellen Forschungslage nicht nur zu Verschwörungsvorstellungen möglich.
Astrid Séville (Hrsg.), Radikalisierung durch Verschwörungstheorien. Zum Umgang mit einem demokratiegefährdenden Phänomen, Frankfurt am Main 2025, Wochenschau-Verlag, 173 Seiten, 26,90 Euro