Obama und die Moral der Finanzkrise (1)

USA. (hpd) Seit einiger Zeit wird von Politikern hinsichtlich ökonomischer Entwicklungen „moralisch" kommentiert und interveniert. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel setzte der neue US-Präsident Obama, der von „Verantwortungslosigkeit" der Manager sprach. Was kann er damit gemeint haben?

Ein Kommentar von Rudolf Mondelaers


Teil 1

Auf die Nachricht über die Bonuszahlungen an Wall-Street-Banker in Höhe von 20 Milliarden Dollar - trotz der gegenwärtigen Finanzkrise -, reagierte Präsident Obama aufgebracht: „Das ist der Gipfel der Verantwortungslosigkeit". Sein Vize Joe Biden assistierte mit Worten wie "empörend" und für die Steuerzahler "beleidigend". Ja, er folgte sogar den Fußspuren des deutschen Bundespräsidentschaftskandidaten Peter Sodann und will die Verantwortlichen am liebsten verhaften lassen.

Sie stellen sich damit in die lange Reihe von Politikern, die mit moralischen Beschwörungen die Finanzkrise lösen wollen. In Europa angefangen mit der Müntefehringschen biologischen Verdammung der Heuschrecken über den Aufruf des Bundespräsidenten Köhlers zu mehr Demut und Anstand bis zu der zugespitzten Forderung Sarkozys, dass der Kapitalismus Moral lernen muss.

Verantwortung, Demut und Anstand sind alles moralische Wertbegriffe und der Verstoß gegen diese Tugenden ist dann auch „beschämend". Es handelt sich daher offensichtlich um eine neue Version der heute in allen Bereichen diskutierten „Wertedebatte": Die Finanzkrise als eine Moralkrise.

Doch es ist mehr. Mit dem Versuch, die Finanzkrise moralisch zu bewerten ist die Wertedebatte zum Kern des Problems vorgestoßen, dem Verhältnis zwischen der heute alles bestimmenden Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt.

Freilich geht es zunächst scheinbar nur um die oberflächige Krise der Finanzen und nicht um das kapitalistische Wirtschaftsmodell an sich. Nur, wer etwas Ahnung von wirtschaftlichen Zusammenhängen mitbringt weiß, dass Geld und Finanzen nicht nur unentbehrliche Schmiermittel des kapitalistischen Motors sind, sondern bereits seit den historischen Urformen des Kapitalismus sein Herz und Nieren, sein Ziel und Wirkungsweise, sein Anfang und Ende sind. Untersucht man politökonomisch die Mechanismen der nationalen und internationalen Umverteilungsregulierung, Produktions- und Konsumtionsstrukturen sowie der Energie und Ressourcenanwendung der letzten Dezennien Kapitalismus - aber auch die des Pseudosozialismus -, münden sie alle in den Versuch, ihre zunehmende konfliktreiche Aussichtslosigkeit durch die aufgeblähte Schöpfung von leeren Finanzinstrumenten zu umgehen. Und irgendwann platzt natürlich diese inhaltslose Blase. Die Finanzkreisläufe sind die Oberfläche, genauer die Spitze des kapitalistischen Eisberges, ergo: Ihre Krise ist der Zusammenbruch des ‚Berges'. Hier nach Moral zu suchen, bedeutet die Moral des kapitalistischen Berges urbar machen zu wollen. Das hat Sarkozy unbewusst begriffen, als er Moral für die Wirtschaft forderte. Das Thema Moral und Ethik wurde schon immer dann gestellt, wenn gravierende gesellschaftliche Umbrüche auftreten. Sie erzwingen ein Nachdenken über das gemeinsame Miteinander und die eigenen sowie gesellschaftlichen Wertmaßstäbe.

Die Frage ist nur, ob man in dem ‚Berg' dieses kostbares ‚Mineral' Moral finden wird? Ob dort ein solches Wertmaß bzw. Verhaltenskriterium überhaupt existiert?

Diese Fragestellung geht letztendlich über das rein Ethisch-Philosophische hinaus. Hätte die Ökonomie keine Moral, dann kann das zu solchen Fragen führen wie z. B.: Muss der heutige Kapitalismus nicht gesetzmäßig die universellen Menschenrechte verletzen bzw. ist er prinzipiell sogar antizivilisatorisch? Ist er unfähig die weltweite Armut zu eliminieren? Birgt er immer totalitäre Tendenzen? Ist er grundsätzlich nicht in der Lage, die sich abzeichnende Ressourcenknappheit und Klimakatastrophe abzuwenden?

Diese Fragen stellen sich schon lange, aber die Diskussion über die Moral der Finanzkrise spitzt sie zu und stellt die Frage, was wir als Zukunft der Menschheit wollen und wie die dafür notwendigen Lösungen sowie Aktionen aussehen können. Und das ist eine sehr politische Frage. Auch für Obama.

Die Theodizee des Kapitalismus

Die Frage nach der Existenz einer Moral der kapitalistischen Wirtschaft bzw. der Wirtschaft überhaupt reflektiert das auch im Rahmen der Wertedebatte oft aufgeworfene Theodizeedilemma. Sie hinterfragt seit den alten Ägyptern und Persern den „Gut und Böse"-Konflikt der Menschheit, sucht nach dem Sinn des Handelns. Es tangiert die durch viele kapitalismuskritische Akteure postulierte These, dass es der kapitalistischen Marktwirtschaft heute gelungen ist, sich als eine neue Religion zu statuieren.

Es ist auch keine Zufälligkeit, dass die Begriffe von Wirtschaft und Religion teilweise beinahe deckungsgleich sind. Das „Credo" (Ich glaube") des Religiösen zeigt seine Entsprechung im „Kredit" der Bank, die den Angaben des Kunden glaubt. Der „Gläubige" der Religion hat eine große Ähnlichkeit mit dem „Gläubiger" im Wirtschaftsleben. Ohne „Schuld" gäbe es keine „Schuldner" und ebenso keinen „Offenbarungseid" ohne die „Offenbarung".

Auch Walter Benjamin war der Ansicht, dass sich der Kapitalismus zur universellen Kultreligion erhoben habe. In ihr spielt das Marktgeschehen die Rolle des Kults und der zur Natur verklärte Homo oeconomicus die Rolle Gottes. Moralisch gut und richtig handelt derjenige, der den Kult des Marktes tagtäglich ausübt und sich der Konkurrenz ohne Rücksicht unterwirft.

Die Produzenten und Konsumenten glauben an die Allmächtigkeit und Allwissenheit des globalisierten kapitalistischen Wirtschaftssystems und vertrauen auf sein letztendliches Paradiesversprechen, seien es der „Genuss ohne Reue" oder „Eigener Herd ist Goldes wert". Sie stellen dann aber doch die Frage, insbesondere seit der Finanzkrise, wie die Existenz eines solchen verheißungsvollen Systems mit der Existenz des „Bösen" in der Welt vereinbar sei.

Die sehr kontroversen Antworten darauf liefern die unzähligen Schulen der Volkswirtschaftler und Wirtschaftsethiker. Wie bei den Theologen und Religionsphilosophen differieren die Antworten auf einer Skala von komplexer Einheit bis zu Einseitigkeit. Wobei die These der göttlichen Undurchschaubarkeit bei den heutigen Volkswirten theoretisch zwar nicht vorkommt, praktisch jedoch vorherrscht. Das alles ist großenteils eine Glaubensfrage.

Eine ganz raffinierte Lösung des Problems haben sich dabei diejenigen Religionen ausgedacht, welche die Freiheit des Menschen außerhalb der eigentlichen Wirkung des göttlichen Systems setzen. Nicht Gott selber, sondern das freie, individuelle Handeln der Menschen (der bösen Manager) ist daher Ursache des Übels. Das System per se will nicht das Übel, kann es aber nicht verhindern und schickt als Wundpflaster einen das Paradies offenbarenden Sohn (den Wohlfahrtsstaat) der aber krisenhaft sterben muss. Falls die Menschen übrigens diese Offenbarung nicht akzeptieren, zieht ER sich völlig zurück und sie werden zur Ausgeburt und Opfer aller Übel und Verluste. Folglich verdammen diese Religionen dann auch die böse Habgier in der Wirtschaft, verurteilen - trotz eigenen beträchtlichen Vermögens - die Geldanhäufung und verbieten sogar manchmal den Zins. Konkret dagegen tun sie aber nichts, sondern exkommunizieren eher diejenigen, die das wie die Befreiungstheologen ernst meinen.

Im Kern geht es wie bei der Theologie darum, ob Gut und Böse einheitliche Bestandteile des Systems sind (Dualismus), oder ob das Böse bzw. der Teufel außerhalb des Systems lebt (Monismus). Bei der Wirtschaft dreht sich das Theodizeedilemma um Folgendes: Dualistisch besäße die Wirtschaft eine Moral, monistisch jedoch fällt die Moral aus dem System heraus und wird zu einer externen („göttlichen") Macht. Beim Dualismus kann die Wirtschaft sich selbst moralisch ausrichten, beim Monismus müsste die Moral von Außen aufgezwungen werden.

Wo und auf welchen Wurzeln nun Obama in dieser Kontroverse steht, ist heute schwer zu sagen. Seine bisherige Biografie und politischen Äußerungen lassen vermuten, dass er eine (religiös geprägte) dualistische Anschauung vertritt, da er ja, wie seine europäischen Politkollegen, die Wirtschaftsakteure selbst zu moralischem Handeln aufruft. Inwiefern dies nachhaltige religiöse Wurzeln entspringt, ist spätestens dann zu hinterfragen, wenn seine Verbindungen mit dem moralisch kontrovers bewerteten ACORN-Netzwerk berücksichtigt werden. Ob er sie nach einem Jahr Amtspraxis explizit weiter durchsetzen will, ist überhaupt fragwürdig. Für diese Prognose lohnt es sich, die meist ausgewiesenen Experten in Sache Wirtschaftsethik kurz zu befragen, um so den Realismus und die Zukunftsträchtigkeit seiner heutigen Position zu prüfen.

Reine Wirtschaftsmoral gibt es nicht

Zur Ehrenerklärung der politischen Ökonomie ist festzustellen, dass es kaum Verteidiger des Dualismus, d.h. der These der inneren moralischen Qualität der kapitalistischen Wirtschaft gibt. Auch der Vater der Politischen Ökonomie, Adam Smith, sah die Wirkung der Moral im Mechanismus der „unsichtbaren Hand" nur durch das Agieren eines externen „unparteiischen Beobachters" in der Seele jedes zivilisierten Menschen. Der trachtet danach, die Sympathie seiner Mitmenschen zu gewinnen und steuere das Handeln der Wirtschaftskapitäne in diesem Sinne. Typisch dafür war die Periode des vorindustriellen Kapitalismus, wo das Verhältnis zwischen den Kaufleuten auf Vertrauen basierte. Spätestens mit dem Übergang des Handelskapitalismus vom hanseatischen Typ zum Kredit- und Zinsregulierten norditalienischen Typ verschwand diese Verhaltensnorm und wurde durch harten Gewinnzwang ersetzt. Vertrauen als moralische Leitplanke der Wirtschaft ist heute nur noch eine historische Legende bzw. fristet ein Nischendasein.

Sogar die heute der neoliberalen bzw. -konservativen Sichtweise vertretenden und vorrangig zum Kreise der vorherigen USA-Regierung gehörenden Wirtschaftsethiker und -politiker haben das verstanden. Sie praktizieren deshalb einen nicht mehr reinen Dualismus. Sie halten den neoliberalen Kapitalismus mit wenig Staat und viel private Freiheit zwar für die beste aller Wirtschaftsordnungen, begreifen aber auch, dass diese durch Kräfte gefährdet wird, welche die Wirtschaft selbst hervorruft. Nach Adam Smith verwandeln sich individuelle Unmoral wie etwa das ungezähmte Gewinnstreben und der gierige Eigennutz durch das Wirken der „unsichtbaren Hand" zwar in öffentliche Tugenden, aber darauf ist scheinbar kein Verlass mehr. Die liberale Ordnung kann also nur überdauern, wenn ihr moralische Werte aufgezwungen werden.

Statt Moral hat sich der berüchtigte Nihilismus eingenistet. Danach unterminieren die nicht auf konservative Werte ausgerichtete systemimmanente individuelle Freiheit und auch die Auswüchse des regulierenden Wohlfahrtsstaates die gesellschaftliche Moral. Hier treffen sie sich mit dem neuen Papst Ratzinger, der den Pluralismus der Werte zum Übel aller modernen Verhaltensweisen deklariert. Er verlangt den Respekt vor den einheitlichen Moralvorstellungen des strengen „heiligen" Vaters. Zwar kann nur eine freie Marktwirtschaft die optimale Effizienz sichern und haben die Menschen die Freiheit des Handelns, aber dieses Handeln muss durch einen strengen Vater moralisch gelenkt werden, sodass sie auf den freien Markt erfolgreich sind. Der Neokonservatismus glaubt deshalb zwar an die Möglichkeit des moralischen Handelns in der Wirtschaft, nur nicht mehr, dass es einen Eigenläufer ist. Von Außen muss es moralische Diktate geben. Sie haben Angst davor, dass pluralistisch ausufernde individuelle Moralvorstellungen die Ökonomie unterminieren. Wie die heutige Situation beweist, würde solches Wirtschaften die Akzeptanz in der Bevölkerung unterminieren, dass die Entlohnung der Manager und Unternehmer gerecht bezahlte Leistungen seien. Selbst die heilige Kuh des Privateigentums käme so in Gefahr: Eigentum würde wieder Diebstahl!

Insgesamt können auch die nuancierenden Dualisten schwerlich begründen, wie der nur verbale Appell an die Adresse von Unternehmern, sich moralisch zu benehmen, zu einer Veränderung ihres Verhaltens führen soll. Jederzeit können sie das ablehnen und tun dies auch mit dem Verweis auf externe, von ihnen nicht beeinflussbare Markt- und Sachzwänge. Diesbezügliche Forderungen werden deshalb aus Gründen der vorgeblich unüberbrückbaren Inkompatibilität von wirtschaftlicher Effizienz und moralischem Handeln ad absurdum geführt. Appelle an Verantwortung, Demut, Anstand oder generell Moral rufen zwar ideale Verhaltensnormen auf, stehen aber außerhalb des realen Geschäftslebens. Deshalb reagiert der von der Finanzkrise getroffene Staat praktisch nur mit neuen Regeln, nicht, wie seine Politiker, mit der Aufforderung an die Wirtschaftsakteure, nun endlich moralisch zu werden. Moral kann aber offensichtlich nur in Form juristisch sanktionierter Zwangsregeln greifen.

Es kann dann aber nur gesagt werden, WAS getan werden muss, das WARUM kann aber systemimmanent nicht begründet werden. Eine solche "Ethik" wird mit dem Basta-Argument „es gebe keine Alternative" autoritär gerechtfertigt. Moral wirkt dann nur noch in Form des Verweises auf die Rettung von Arbeitsplätzen, weil ihr die wirklichen Motive fremd sind. Aber die Realität des politischen Lebens - besonders in Form des ausufernden Lobbyismus und der Manipulation der gesetzlichen Regelungen -, macht auch dies fraglich. Eine Analyse der aktuellen Maßnahmen zur Begrenzung der finanziellen Macht zeigt, dass auch sie sehr weich bleiben und kaum substanzielle Änderungen an die Entscheidungskriterien der finanzkapitalistischen Elite herbeiführen. In diesem Kontext ist auch die Aussage Obamas zu deuten: „Er sei nicht grundsätzlich gegen Profite und Boni, aber jetzt sei "nicht der richtige Zeitpunkt" dafür.

Wirtschaft ist ohne Moral

Die Skepsis über die Erfolgsaussichten von Moralaufrufen an die kapitalistischen Unternehmer und Manager wird besonders durch die Argumentation der Wirtschaftstheoretiker genährt, die auf der Frage „Was hat der Kapitalismus mit Moral zu tun?" schlicht antworten: Gar nichts! Nach ihnen haben moralische Werte keine ökonomische Relevanz. Moral ist nur virtuelles Beiwerk der Wirkungsbedingungen des Kapitalismus. Lediglich wenn sich mit Moral große Profite erwirtschaften ließen, hätte sie Marktrelevanz und vielleicht einige Auswirkung auf die Gestaltung der Produktion. Die zentrale These ist hier, dass die Unmoral eine Systemfrage ist. Sie wird nicht durch Fehler im System hervorgerufen, sondern durch das System selbst. Die Konsequenz daraus ist dann, dass der Kampf gegen die unmoralischen Zustände sich nicht auf das als Fehlverhalten bewertete individuelle oder gruppenmäßige Verhalten richten, sondern gegen das System als Ganze angehen soll. Wenn Unternehmer oder Manager sich "unmoralisch" verhalten, dann nicht, weil sie es selbst so wollen, sondern weil sie durch die Regeln des kapitalistischen Systems dazu gezwungen werden. Würden sie sich nicht unterordnen, würden sie Pleite gehen. Nur die Veränderung der Systemparadigmen und seinen inhärente Wirkungsmechanismen kann die Moral retten.

Wenn auch diese Sichtweise in vieler Hinsicht durch die Realität bestätigt wird, hat sie doch für die praktische Politik als schwierig erscheinenden Konsequenzen. Sie impliziert den Entwurf eines gesellschaftlichen Gegenmodells mit entsprechenden neuen ethischen und moralischen Leitlinien. Und auch wenn dies als Prozess gesehen wird, bleibt die Skizierung der Grundlinien einer moralischen Utopie unerlässlich. Die leidvollen Erfahrungen mit der versuchten Umsetzung solcher Modelle in der Geschichte machen die Dimension dieser Sichtweise deutlich und sollten zu extremer Vorsicht aufrufen. Vor allem die Frage wie die dazugehörenden Wirtschaftssysteme Motivation und Anreiz ohne moralfreie Effizienz gestalten können ist weitgehend ungeklärt.