Gute Vorsätze hält das neue Jahr genügend bereit: Sich Zuversicht bewahren. Den Kopf klar behalten. Weniger und bessere Medien konsumieren. Und: X zum Teufel jagen. Denn das Soziale Netzwerk, auf dem heute Abend sein Käufer mit der Kanzlerkandidatin der AfD live sprechen will, erfüllt wichtige Mindeststandards für freie Meinungsäußerung nicht mehr.
Dabei sollte die Plattform – nach Elon Musks Worten – eigentlich genau dafür stehen, seit er sie gekauft hat: die Freiheit, endlich alles sagen zu können. Das war zwar von Anfang an Unsinn, wie der bezahlte "blaue Haken", der für gekaufte Reichweite stand, schnell bewies. Stattdessen wurde die Plattform immer unverhohlener zu Musks persönlichem Werkzeug politischer Manipulation, eine mächtige algorithmische Meinungsmaschine. Immer stärker wird deutlich: die Welt hat ein Problem, wenn der reichste Wirtschaftsboss gleichzeitig noch ein zentrales US-Regierungsamt innehat und obendrein einen so wirkmächtigen Propagandakanal besitzt.
Worum geht es? X, ehemals Twitter, das Lieblingsnetzwerk meinungsstarker Männer ab 50. Es wird zur Zeit noch von 7 Prozent der Deutschen mindestens einmal in der Woche besucht. Vor der Übernahme von Twitter waren es noch 10 Prozent. Doch quasi als Gewohnheitsrecht aus Twitter-Zeiten ist ihm eine einmalige Stellung zueigen, wenn es um politisch relevante Aussagen, Zitate und Pressepräsenz geht. Nicht auf Bluesky (2 Prozent), Threads (4 Prozent) oder gar Instagram (38 Prozent), sondern auf X werden politische Bomben zum platzen gebracht, Begriffe und Bonmots geprägt und das Ringen um die Deutungshoheit ausgetragen. Musk selbst ist dabei Akteur und unfairer Ringrichter in einem. Er zitiert auch schon mal nachts um 3 Uhr seine leitenden Angestellten aus dem Bett, weil sein eigener Beitrag weniger Interesse findet als der von Joe Biden. Allgemein fiel bei X schon bald eine algorithmisch manipulierte Unwucht auf, die mitunter mit der Handsteuerung ausgeführt und von Elon Musk persönlich beauftragt wird.
Der Meister fummelt also höchstselbst am Algorithmus. Ein Mann, der zusehends Verschwörungsmythen anhängt, der sich faschistoide Märchen einflüstern lässt und im Rausch der Macht manchmal je nach Laune groteske Dinge von sich gibt. Zum Beispiel gerade erst: "Chancellor Oaf Schitz or whatever his name is will lose". Für ein normales Management wäre das undenkbar, für eine normale Politik unsagbar, für vernünftige Menschen untragbar. Aber an Musk ist nichts normal und genau das fasziniert seine Fans. Sie erleben ihn als Kaiser Nero, als einen Tausendsassa, der das Risiko liebt, dem viel gelingt und der gleichzeitig unglaublich manipulierbar ist. Er unterstützt die AfD vom Hörensagen und ohne ein einziges valides Argument, aber mit voller Überzeugung. Er widerspricht seinen eigenen Statements. Man kann ihm beim Denken und bei seiner persönlichen Radikalisierung zusehen. Er ist eitel, peinlich und gefährlich – aber wer sagt es ihm?
Elon Musk als tragischer Held? Hoffentlich.
Das Gegenteil des taktischen Überlebenskünstlers, der ohne strategische Weitsicht vor sich hin wurstelt, ist der Visionär, der sich im Konkreten verstolpert. Es gab vor nunmehr 100 Jahren schon mal einen Tech-Milliardär, der Autos herstellte: Henry Ford. Seine Fließbänder und die Vermassung des Verbrennungsmotors haben unsere Welt tief geprägt. Weniger bekannt ist, dass sein Buch "Der internationale Jude" maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung der NSDAP hatte. Als Mitglied des "America First Committee" versuchte er 1940/41 den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zu verhindern, ohne den der Faschismus in Europa wahrscheinlich triumphiert hätte.
Henry Ford konnte unkonventionell und strategisch denken und ist große Wagnisse eingegangen. Sein Fehlschlag mit der künstlichen Industriestadt "Fordlandia" in Brasilien ist Legende, hat aber nichts daran geändert, dass Ford bis heute einer der Top-10-Automobilhersteller ist. Führungsfiguren wie Ford, Musk, Trump oder Putin faszinieren ihre Umgebung, lassen aber ständig andere über die Klinge springen, um ihre Fehleinschätzungen auszubügeln. Die Realität scheint folgenlos an ihnen abzuperlen.
Twitter unter seine Kontrolle zu bringen war – man muss es so sagen – ein strategischer Geniestreich von Elon Musk. Ob wir ihm die selbstzufriedene Plumpheit dieses "netten Versuchs" durchgehen lassen oder sie sogar noch belohnen, ist uns überlassen. Doch selbst wenn seine Vorhaben an der einen oder anderen Stelle scheitern, lernt Musk schnell und wird immer gefährlicher: Neben X besitzt er nicht nur einen technologisch führenden Autokonzern, sondern auch Firmen, die mit KI oder mit neuronalen Maschine-Mensch-Schnittstellen arbeiten, einen konkurrenzlos billigen Zugang zum Weltraum und ein einmalig dichtes Satellitennetzwerk, das Krisengebiete mit dem Internet verbindet. Und wenn er der Meinung ist, damit damit das Richtige zu tun, dann knipst er das Internet auch schon mal aus.
Als die große Linie wird erkennbar: Meinungen beeinflussen, Lügen als Halbwahrheiten verkaufen, Hindernisse aus dem Weg räumen, aus extrem viel Geld noch mehr Geld machen. Und dann: sich als Zentrum des Universums fühlen, als erratisches Universalgenie und beiläufiger Richter über das Gute, Wahre und Schöne. Die Frage ist allein, ob wir es dazu kommen lassen, oder ob wir es boykottieren. Ob wir es bestreiken. Und ob eine kritische Masse von Amerikanerinnen und Amerikanern noch aufwachen, die selbst als überzeugte Republikaner immerhin nicht Trump und Musk als ein Paar von absolutistischen Sonnenkönigen auf Lebenszeit legitimiert haben.
Zeit, dieser Sekte die Gefolgschaft zu kündigen
All das haben wir in den letzten Jahren heraufkommen sehen, und doch war der Impuls, woanders hinzugehen, X zu verlassen, für viele nie stark genug. Befangen durch ihre Followerzahl, die man sich ja anderswo erstmal aufbauen muss, blieben sie und warteten ab. Nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Marktkonzentration wäre es längst Zeit gewesen, dass Entscheiderinnen und Entscheider pflichtschuldigst auch andere Netzwerke nutzen, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen haben. Doch spätestens jetzt, mit der erneuten Trump-Wahl und der Bestellung Elon Musks als seinen pöbelnden Sonderbeauftragten für Etatkürzungen, sollte erkennbar sein, dass X keine neutrale Plattform ist, auf der man zitiert werden möchte. Das Medium war schon immer algorithmisch auf Krawall optimiert. Heute ist es nurmehr eine Hysterie-Maschine, die Köpfe besetzt, verhetzt und polarisiert.
Dieser Artikel spiegelt die Meinung des Autors wider. Der hpd vertritt eine andere Haltung bleibt auf X aktiv, um Teil eines rationalen Gegengewichts zu sein und eine weitere Abgrenzung der Diskursräume und die Verstärkung von Echokammern nicht weiter zu befeuern.
Wer sich also noch nicht nach Alternativen umgesehen hat, sollte die Gunst der Stunde nutzen und seine Freundinnen und Freunde anderswo wieder treffen – am wahrscheinlichsten auf BlueSky, Mastodon oder auch anderswo. Bevor man sein Profil löscht, sollte man besonders wertgeschätzte Handles notieren. Hier bei der EFF findet sich eine praktische Anleitung, wie man die Sache angehen könnte. Vielleicht ist es nicht einmal notwendig, den eigenen Account zu löschen. Viel ist schon gewonnen, wenn man es einübt, ihn ruhen zu lassen, oder deutlich seltener als andere Netzwerke zu besuchen. Themen dort nicht zu kommentieren. Wichtige Statements anderswo zu zitieren und zu verbreiten.
Das Positive sehen
Der Ausstieg aus X – oder der Abstand von X – hat gleich eine ganze Reihe wohltuender Effekte:
- Er fördert die eigene geistige Gesundheit und Seelenhygiene ("Be kind to your mind"). Die eigene Nachrichtensucht und Fear-of-missing-out lässt spürbar nach. Und mit ein wenig Abstand steigt das nüchterne Urteilsvermögen.
- Andere Plattformen werden aufgewertet und treten in einen neuen Wettstreit um Seriosität und verantwortliche Contentmoderation.
- X verliert endlich den Nimbus eines Meinungsbarometers, den es fälschlich bei vielen immer noch hat. Betrug und gekaufte Wahlbeeinflussung werden benannt und nicht mehr durch eine genau dosierbare Meinungsvielfalt verbrämt und legitimiert.
- X ist schon heute nur noch weniger als ein Viertel seines Kaufpreises wert. Ein Misserfolg, der mehr bringt als nur Schadenfreude: Nachahmer des "Geschäftsmodells Polarisierung" werden abschreckt.
- Das politische Irrlichtern von Musk wirkt sich auch auf seine anderen Markenwerte aus. Wer kann heute noch einen Tesla kaufen, ohne die entsprechende Ideologie mit zu verantworten? Wer zahlt für Musks Vision vom besiedelten Mars, wenn es offensichtlich nur um kindische Begeisterung für ein fragwürdiges Ziel geht?
Mein Ratschlag, in einem Hashtag zusammengefasst, lautet also: #leaveXtoday.
Epilog
Seit ich vor eine Woche diesen Beitrag geschrieben habe, gab es jeden Tag Meinungen und Meldungen, die meine Tendenz bekräftigen könnten. Gerade kam die Nachricht, dass ein weiterer Tech-Mogul auf Trumps beängstigenden Kurs einzuschwenken scheint: Mark Zuckerberg. Statt sich X gegenüber als Qualitätsplattform zu positionieren, werden Facebook und Instagram in den USA nun ebenfalls ihre Moderation weitgehend einstellen und auf "nutzerbasierte Faktenchecks" setzen. Man kann das als Meinungsfreiheit verkaufen, aber relevante Meinungen unter einem Berg Lügen zu begraben und ihre Reichweite algorithmisch einzuschränken, weil sie nicht provokativ genug daherkommen, hat nichts damit zu tun.
So kann man sich fragen: Wo liegt der Fehler und welche Plattformen soll man noch alle boykottieren? Aber nein, nicht wir sind die Geisterfahrer. Wer seine Meinung und seinen verständlichen Wunsch nach Bestätigung einer Plattform übereignet, die superreichen Exzentrikern gehört, fühlt sich am Ende verkauft.
Dass es strategische Überlegungen gibt, diese Plattformen nicht Hetzern und Lügnern zu überlassen, verstehe ich. Aber es ist ein harter Job. Ich habe es vier Jahre betrieben und versuche es andernorts noch immer. Respekt für alle, die gegen diesen Strom schwimmen wollen. Dennoch gilt: Publizieren, verlautbaren, kommentieren besser vorwiegend anderswo.
Erstveröffentlichung auf digitalhumanrights.
11 Kommentare
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Kommentare
Wolfgang von Sulecki am Permanenter Link
[Zitat] "..
Mit der gleichen Argumentation könnten Sie einem islamistischen Moscheeverein beitreten ...!
Gegen irrationale 'alternative Fakten' wirkt kein 'rationales Gegengewicht', es verlängert nur den Prozeß bis zum Untergang und ermöglicht so die Indoktrination vieler weiterer Unentschlossener.
Gerade der hpd mit seiner Reputation leistet durch den Verbleib bei "X" dem demokratischen Gefüge einen Bärendienst, weil dieser Entschluß dazu benutzt werden kann zu formulieren
".. Selbst der hpd ist doch bei "X" gebleiben, da kann das dort doch nicht so schlimm sein .."
Und wie halten Sie es nun, da bekannt wurde, daß facebook, whatsapp und instagram den gleichen Kotau vor dem Lumpen Trump machen und sich zu Komplizen der Verbreitung von Lügen hergeben? Wenn alle aufrechten Demokraten diese Plattformen meiden würden wäre der Menschheit sehr viel besser gedient.
Brynawel am Permanenter Link
Cool cool cool.
Wann verlaßt ihr Twitter?
Bernd Brose am Permanenter Link
Konsequent wäre, wenn der hpd Xitter verlassen würde. Dieses "...um Teil eines rationalen Gegengewichts zu sein ..." ist Augenwischerei. Bei dem Geschrei kann die Vernunft nicht siegen.
Auch die Tagesschau hat heute dazu berichtet: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/musk-x-bundesregierung-100.html Danach weiß auch in der deutschen Politik keiner genau, wie man damit umgehen soll: "Bundesregierung und Bundesinnenministerium verweisen darauf, dass die Europäische Union für die Aufsicht von X gemäß dem Digital Services Act zuständig ist. Das trifft zwar zu, zugleich offenbart es aber auch eine gewisse Rat- und Machtlosigkeit im Umgang mit X." Dabei könnte die deutsche Politik ein deutlches Signal setzen. So sieht es auch die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung, Ferda Ataman. Sie fordert die Regierung auf, X zu verlassen. https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/bundesregierung-x-ataman-100.html
Und die EU? Sie zögert: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-musk-100.html
Bernd Brose am Permanenter Link
Und heute Abend läßt er sich von Frau Weigel hofieren: https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/musk-x-agenda-100.html
Sabine M. am Permanenter Link
Gehöre zu denen, die twitter sofort nach FelonMuskÜbernahme verlassen haben. Die Zeichen lagen offen da.
Lars P. am Permanenter Link
Genau das habe ich auch sofort gemacht und bin zu Mastodon gegangen. Ich habe es nicht bereut.
Dirk Günther am Permanenter Link
Ich verstehe die Aufregung nicht und finde es gibt auch relativ wenige Argumente in dem Artikel, warum man X verlassen sollte.
Ich lese mir nur die Dinge in X durch, denen ich folge und da taucht Elon Musk nicht auf. Deshalb ist es mir völlig egal, was er von sich gibt. Das gilt übringens auch für viele andere Akteure. Mir ist nicht klar, wo hier ein Algorithmus eine Rolle spielen soll, wenn ich nur Dinge angezeigt bekomme von Personen, die ich mir vorher selber ausgesucht habe.
Manchmal habe ich den Eindruck, viele die X kritisieren, kennen diese Plattform überhaupt nicht. Aber vielleicht bin ich auch zu blöd, um die Problematik zu verstehen.
Bernd Brose am Permanenter Link
Wenn Sie tatsächlich "relativ wenige Argumente in dem Artikel" finden, dann haben Sie ihn entweder nicht gelesen oder nicht verstanden. Entschuldigen Sie, wenn ich das so deutlich ausdrücke.
"Mir ist nicht klar, wo hier ein Algorithmus eine Rolle spielen soll..." Ist es möglich, dass Sie sehr selektiv wahrnehmen? Egal, wem Sie persönlich folgen; machen Sie sich doch mal die Mühe, um unter - fast egal welchem - Beitrag die Kommentare anzusehen. Wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass sich nichts zum Negativen verändert hat reden wir noch einmal.
"Manchmal habe ich den Eindruck, viele die X kritisieren, kennen diese Plattform überhaupt nicht." Also bitte. Wenn sich also große Universitäten von X zurückziehen https://www.tagesschau.de/inland/hochschulen-forscher-verlassen-x-100.html dann haben die alle weniger Ahnung davon als Sie? Wenn Medien und Unternehmen dort ihre Kanäle löschen oder stilllegen, dann wissen Sie es besser als jene?
Steigen Sie mal bitte von ihren hohen Ross und belesen Sie sich ein wenig. Ich helfe Ihnen dabei sogar: https://tinyurl.com/3pp4kja4
Dirk Günther am Permanenter Link
Natürlich lese ich die Kommentare unter den Tweets und ich kann auch hier nicht erkennen, wo da der Algorithmus eine Rolle spielen soll.
malte am Permanenter Link
Ich kann schon verstehen, dass Menschen sich von Twitter zurückziehen, weil sie Musk einfach nicht unterstützen und ihm noch mehr Macht verschaffen wollen.
Die Forderung, Plattformen wären dafür verantwortlich, die Nutzer vor Falschinformationen und „bösen“ Kommentaren zu schützen, finde ich verfehlt. Jedem muss klar sein, dass die „Faktenchecker“ immer nur einen winzigen Bruchteil der Posts überhaupt zu Gesicht bekommen können. Es wäre naiv anzunehmen, diese hätten einen wesentlichen Einfluss auf die Eindämmung von Unsinn in den Sozialen Medien. Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen, nicht jeden Quatsch zu glauben. Und wenn irgendein User durch hässliche Kommentare oder Pöbelei auffällt, kann man den auch einfach blockieren.
Felix Braun am Permanenter Link
"Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen, nicht jeden Quatsch zu glauben." Richtig. Das war schon zu Usenet- und Myspace-Zeiten so.
Anders als damals ist aber die Macht der Algorithmen und der dahinterstehende Akteure eine andere als. Ebenso wie Reichweite und Nutzerzahl. Insofern muss ich Wolfgang von Suleckis Argumentation (erster Kommentar) auch beipflichten. Diese Leute haben sich vom rationalen Diskurs verabschiedet. Jede Widerrede, jeder Faktencheck bestätigt sie nur weiter. So kann Konsumverzicht in eine von Aufmerksamkeitsökonomie getriebenen Medienwelt auch ein Statement sein.