Eine Stimme für die „Unmündigen“

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Foto: David Ignatius

FREIBURG. (hpd) Bei der Bundestagswahl konnten etwa 64,3 Millionen Wahlberechtigte ihre Stimme abgegeben. Rund 30 % davon haben sich bewusst dagegen entschieden, ihr Wahlrecht auszuüben. Kaum weniger Menschen gehören zur Bevölkerungsgruppe derer, die von vorneherein von der Wahl ausgeschlossen werden.


Ein Kommentar von Anna Ignatius

Von vorneherein, d.h. im Unterschied zu den Nichtwählern unfreiwillig von der Wahl ausgeschlossen werden etwa 20 Millionen Menschen. Immer wieder werden Stimmen laut, die dies kritisieren.

Neben Ausländern gehören Minderjährige, geistig Behinderte und - aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung - immer mehr alte, dement gewordene Menschen zu denjenigen, denen das Grundrecht auf Teilnahme bei der demokratischen Wahl verwehrt wird. Während dies bei den in Deutschland lebenden Ausländern mit der fehlenden deutschen Staatsbürgerschaft begründet wird, erfüllen Kinder und geistig Behinderte usw. nicht den Anspruch der politischen Mündigkeit und damit nicht die Voraussetzung für das von der Verfassung geforderte Kriterium der „Höchstpersönlichkeit“ einer Wahlentscheidung.

Menschen, die nicht wählen dürfen geraten leicht ins politische Abseits

Trotz ihrer „Unmündigkeit“ gehören diese Menschen, wie alle Anderen auch zu unserer Bevölkerung und haben genau das gleiche Recht, bei politischen Entscheidungen angemessen berücksichtigt zu werden. Hierzu fehlt ihnen jedoch das wichtigste politische Instrument in unserer Demokratie: die Wahlstimme, die die politischen Parteien zwingt, die Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung bzw. einer Bevölkerungsgruppe zu berücksichtigen.

Es liegt in der Logik des demokratischen Parteiensystems, dass die Interessen der Menschen schnell ins Abseits geraten, die bei der Wahl keine Wahlstimme zu vergeben haben. Denn, die reine Quantität der Wählerstimmen legitimiert eine Partei und darum kann nur der potenzielle Wähler einer Partei zur Regierungsmacht verhelfen. Nur die Partei, die verspricht, sich für die Interessen derer einzusetzen, die sie auch wählen können, kann politische Macht erlangen. Eine Partei, die sich primär für die 20 Millionen nicht zur Wahl Berechtigten einzusetzen versucht, ist demgegenüber letztlich chancenlos.

Allein schon aufgrund der demografischen Lage in Deutschland war z. B. das Wahlversprechen einer Rentenerhöhung ein weit sichereres Mittel, die Wahl zu gewinnen als das Versprechen einer Kindergelderhöhung.

Ganz nüchtern betrachtet ist die Wahlstimme des Einzelnen also nichts anderes, als das Potenzial dem Politiker Entscheidungsmacht zu geben, der verspricht, sich für die eigenen Belange einzusetzen. Grundsätzlich lässt es sich daher als Missstand bewerten, wenn dieses Potenzial in der politischen Praxis nicht allen in unserem Staat lebenden Menschen gleichermaßen zukommt.

Das Stellvertreterwahlrecht und die Grundrechte

Neben dem Ausländerwahlrecht und dem Herabsetzen des Wahlalters scheint die einzige Lösung für diese politische Schieflage, in der Möglichkeit zu liegen, einem Stellvertreter das Recht zu geben, im Interesse dessen eine Wahlstimme zu vergeben, der dies nicht selber kann. Solch eine Regelung würde zwar das im Falle der Wahl nicht gewährleistete verfassungsgemäße Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz erfüllen, sie kollidiert allerdings mit dem ebenfalls verfassungsgemäßen Gebot der sogenannten „Höchstpersönlichkeit“ bei der Ausübung der Wahl.

Den Grundrechten in unserer Verfassung kommen jedoch eine „maßgebende“ Funktion zu, was bedeutet, dass alle anderen Gesetze der Verfassung nur in soweit rechtmäßig gelten können, wie sie nicht mit den Grundrechten des Bürgers in Konflikt stehen. Hieraus wäre in diesem Fall zu schließen, dass das Gebot der Höchstpersönlichkeit durch das übergeordnete Grundrecht außer Kraft gesetzt ist. Die jetzige Praxis, die dem unmündigen Bürger unter Hinweis auf das Gebot der Höchstpersönlichkeit die Wahlstimme aberkennt, beinhaltet somit eigentlich einen Verstoß gegen den Geist und die Bestimmungen unsere Verfassung.

Probleme bei der Umsetzung sind kein grundsätzliches Argument dagegen

Fragen, ob und wie ein Stellvertreterwahlrecht im Fall der einzelnen Gruppen oder Menschen verwirklicht werden kann und Probleme bei der Umsetzung sind natürlich berechtigt, sie sind allerdings kein grundsätzliches Argument dagegen.
Es gibt zudem eine Vielzahl von sinnvollen Überlegungen hierzu. Eine befriedigende Lösung der Probleme kann gefunden werden.

Entscheidend ist zunächst die Erkenntnis, dass die Unmöglichkeit seine Interessen in Form einer Wählerstimme in die Waagschale der gesellschaftlichen und politischen Interessenkonflikte werfen zu können, offensichtlich zu einer wachsenden Schieflage zuungunsten der Betroffenen geführt hat.

Eine verantwortungsvolle Umsetzung kann nicht garantiert werden

Wie bei allen anderen Regelungen im Staat kann Missbrauch nicht ausgeschlossen werden. Es gibt keine Garantie dafür, dass der Stellvertreter die Stimme tatsächlich im Interesse des Betroffenen vergeben wird. Ein Stellvertreterwahlrecht würde z. B. natürlicherweise den Eltern das Stimmrecht für ihre Kinder gewähren. Auch unter Eltern gibt es solche, die die Belange ihrer Kinder überhaupt nicht interessieren, und die sie daher auch nicht zur Grundlage ihrer Wahl machen werden. (Dieses Argument wird immer wieder vorgebracht.)

Solche Eltern sind zum Glück aber in der Minderheit. Generell liegt niemandem in unserer Gesellschaft das Wohl der Kinder mehr am Herzen als den Eltern.

Auch im Falle anderer zentraler Interessen der Kinder, wie Bildungswege, notwendige Operationen, finanzielle Belange und vieles mehr, wird den Eltern selbstverständlich stellvertretende Entscheidungskompetenz zuerkannt. Niemand wird auf den Gedanken kommen, dies deswegen infrage zu stellen, weil es auch hier schwarze Schafe gibt. Warum sollte man gerade im Falle einer Stellvertretung der Kinder durch ihre Eltern bei der Wahl andere Maßstäbe ansetzen?

Aufs große Ganze betrachtet wäre das Stellvertreterwahlrecht für Kinder und Jugendliche gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung gesellschaftspolitisch ein großer Gewinn.

Auch ein wie auch immer bestimmter Stellvertreter für einen Demenzkranken kann nicht wirklich dahin gehend überprüft werden, ob er dieser Aufgabe auch verantwortungsvoll und tatsächlich im Interesse des Kranken nachkommt. Entscheidend ist, dass man in der Regel von einem verantwortungsvollen Handeln ausgehen kann, wenn ein Vertrauens- oder sogar Liebesverhältnis zwischen den betroffenen Menschen besteht.

Soziale Einheit beinhaltet gemeinsame Interessen

Bei der Wahl einer Partei geht es im Wesentlichen um Grundinteressen, wie Finanzen, Lebensräume und Möglichkeiten der Lebensgestaltung, um Zukunftssicherung und Ähnliches mehr. Zumindest im Fall der Kinder, sind deren Interessen eine sehr lange Zeit nicht wirklich von denen ihrer Eltern zu trennen. Eine Familie bildet eine soziale Einheit, in der die Interessen eines jeden Mitgliedes zusammenhängen und miteinander verknüpft sind. Kindergeld, Elternteilzeit, flexible Arbeitszeiten usw. sind Beispiele hierfür.

Jedes Mitglied dieser Familie hat im Rahmen der Grundrechte einen eigenen Rechtsanspruch darauf, dass diese sich aufgrund der gemeinsamen sozialen Situation ergebenden Interessen je für sich berücksichtigt werden. Dies gilt für das Baby, das Schulkind, den Jugendlichen bis zu dem den Lebensunterhalt verdienenden Elternteil und die möglicherweise demenzkranke Großmutter.

Deshalb, so der Grundgedanke hier, sollte auch jedes einzelne Mitglied – sei es höchstpersönlich oder über einen Stellvertreter - bei einer Wahl eine eigene Stimme zu vergeben haben.