Rezension

AfD-Erfolge aus der "Regression der Mitte"? – Eine soziologische Deutung

Der Humangeograph Daniel Mullis fragt in seinem "Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten" betitelten Buch nach den Gründen dafür und ermittelt sie in der "Regression der Mitte" als Untertitel. Der Blick fällt stärker auf gesellschaftliche Umbrüche, genannt werden viele relevanten Aspekte, gleichwohl neigt die Deutung darauf bezogen zu einer etwas eindimensionalen Erklärung.

Wie lassen sich die AfD-Erfolge bei Wahlen erklären? Über diese Frage gibt es eine breite, aber nicht immer ergiebige Debatte. Dabei geraten auch schnell die Dimensionen durcheinander. So kann man bezogen auf die AfD den Blick auf deren Einwirken in die Gesellschaft werfen, man kann aber auch die Entwicklung in der Gesellschaft als Voraussetzung eben für solche Wählerströme ansehen. Der promovierte Humangeograph Daniel Mullis wählt die letztgenannte Perspektive, sein Buch ist mit "Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte" überschrieben. Die von ihm vertretene Deutung ist als Kurzfassung im Untertitel enthalten. Insofern interessiert sich der Autor auch für die im gesellschaftlichen Bereich und hierbei insbesondere der "Mitte" auszumachenden Umbrüche, welche für die AfD-Erfolge die gesellschaftliche Rahmensituation darstellt. Es heißt entsprechend: "Ich betrachte … den Teil der Gesellschaft, der für sich in Anspruch nimmt die Mitte zu sein und blicke von dort nach Rechts" (S. 19).

Blick auf das gesellschaftliche "Hintergrundrauschen"

Durch seine ganzen Erörterungen zieht sich "Regression" als häufig genutzter Terminus, womit hier bezogen auf die gesellschaftliche Entwicklung ein Rückfall gemeint ist. Berechtigt weist der Autor, wenn auch etwas versteckt in einer Fußnote, darauf hin, dass das gemeinte soziale "Hintergrundrauschen" nicht gleichbedeutend mit "Rechts" ist. Es besteht tatsächlich kein Automatismus zugunsten dieser Orientierung, eigentlich könnten die gemeinten Entwicklungen auch ins Progressive führen. Letzteres steht für den Autor für eine weitere Liberalisierung, also auch eine Ausweitung demokratischer Teilhabe. Insbesondere in der Mitte ließe sich hier aber die gemeinte Regression ausmachen. Indessen bleibt die soziale Kategorie leider diffus, auch geraten mitunter politische und soziale Mitte durcheinander. Gleichwohl stellt der Autor auf dortige Dynamiken ab, welche in der gemeinten Selbstwahrnehmung eben zu Verschiebungen führten. In Anknüpfung an ältere Ansätze sollen insbesondere "Kränkungserfahrungen" und deren Verarbeitung im Zentrum stehen.

Erkenntnisgewinn durch Gespräche im "Wohnzimmmer"

Seine umfangreiche Darstellung und Deutung gliedert Mullis dann in drei größere Teile: Zunächst fällt der Blick auf Krisenentwicklungen in jüngster Zeit, bezogen auf die Finanz- und Schuldenkrise, die Konflikte um Migration, die Herausforderung der Pandemie sowie die Klimakrise und Kriegsgefahr. Darüber hinaus stellt er dort auch auf einen Kulturkampf um Privilegien ab, wonach die Angehörigen der "Mitte" sich davon insbesondere betroffen wähnten. Anschließend geht es um Erfahrungen "Im Wohnzimmer", zumindest lautet so der für den zweiten Komplex gewählte Titel. Darin erfolgt eine Beschreibung und Deutung von Interviews, die mit Befragten in Frankfurt/M. und Leipzig durchgeführt wurden. Deren individuelle Aussagen, die keine Repräsentativität beanspruchen können und sollen, vermitteln die gemeinte Verarbeitungsform. Der Autor kommentiert dazu: "Rechtsaußen gewinnt die Mitte, wie die … diskutierten Befunde nahelegen, indem die Hoffnung geschürt wird, die eigenen Privilegien als Individuum und als Nation erhalten zu können" (S. 216).

Primär Folgen des Neoliberalismus?

Und dann geht es bezogen auf die allgemeine Entwicklung westlicher Gesellschaften noch einmal um deren "Tiefenstruktur", wobei der Blick auf Individualisierung und Kollektivität im Umbruch fällt. Ältere und neuere Deutungen – von Norbert Elias bis zu Andreas Reckwitz – werden entsprechend bemüht. Die Ausführungen münden dabei in nachvollziehbaren Einwänden gegen den Neoliberalismus, was mitunter aber wie ein stereotypes Erklärungsmuster wirkt, findet man so etwas doch in vielen Kontexten. Der Autor bleibt aber erneut etwas zu sehr auf der abstrakten Ebene, werden doch Beschreibungen und Daten nicht genauer kontextualisiert. Damit hängen manche Aussagen – um hier salopp zu formulieren – ein wenig in der Luft. Gleichwohl gehen sowohl die Globalisierung nicht nur in der Ökonomie, sondern auch der Rückbau des Sozialstaates mit solchen Wirkungen einher. Allein oder primär darauf abzustellen wirkt aber in der Bilanz doch ein wenig wie eine monokausale Deutung, die gleichwohl auch gelegentliche Differenzierungen bei Mullis aufweist.

Daniel Mullis, Der Aufstieg der rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte, Ditzingen 2024 (Reclam), 336 S., 22 Euro

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