„...und irgendetwas gab es immer nicht.“

„Wie das Jahr 1989 den Lauf nahm, den wir alle kennen, wie war das für Sie, welche Auswirkungen kamen auf Sie zu?“

„Für mich war das sehr, sehr ungewöhnlich. In der Nacht, als die Grenze aufgemacht wurde, saßen wir hier in der Leipziger Straße „Am Tresen“, das war eine Gaststätte, und gegen 22 Uhr kam’s dann mit: „Habt ihr schon gehört, die Grenzen sind auf“. Keiner hat’s geglaubt. Wir sind alle nach Hause und meine Frau und ich haben dann ewig vor dem Fernseher gesessen. Die Öffnung vom Checkpoint Charly war zu sehen. Ich hatte erst gedacht, wer weiß, vielleicht lassen sie nur die, die Druck machen gehen und dann sind die Grenzen wieder zu und ich komme nicht mehr zurück, da war ich ein bisschen unsicher. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass die Politiker so einfach ihre Posten aufgeben. Wir brauchten für ein gemeinsames Land keine zwei Regierungen, keine doppelten Präsidenten und Minister…. Politisch war das schon eine ungemütliche Situation, denn es gab ja noch die Russen als Besatzungsmacht. Würden die eingreifen? – Fragen hingen in der Luft. War ja aber nicht so, wie gesagt, dann bin ich rüber, hab in Rudow einen alten Schulfreund besucht. Der war ganz überrascht und zur Begrüßung hieß es: „Was macht ihr denn hier?“. Also, der hatte gar nichts mitgekriegt.

Beispielbild
  Checkpoint Charly (1980) und heute

 

Am 3. Tag, also am 11. November, sind wir rüber gelaufen. Mitten in einer Schlange, immer drei, vier Leute nebeneinander, 1 ½ Stunden, an der Leipziger Straße angefangen über die Charlottenstraße bis zum Checkpoint Charly. – Wir sind nur gegangen, keiner hat uns mehr kontrolliert. Daran kann ich mich wie heute erinnern … Und die haben uns umarmt, uns 10 West-Mark in die Hand gedrückt, damit wir was kaufen konnten, wir hatten ja nichts. Und rein in den Bus, alles war rammelvoll, da hat keiner nach Fahrkarten gefragt. In der Karl-Marx-Straße haben wir uns die Häuser und Geschäfte angeguckt. Und dann sind wir zusammen mit einem Freund auf den Ku-Damm. Da war noch mehr los.

Am folgenden Tag haben wir auch unseren Sohn mitgenommen. Wieder auf der Karl-Marx-Straße blieb er stehen: 'Papa, Papa, komm doch mal schnell, was ist denn das?'. Wub – Sexläden gab es in der DDR doch nicht. Also Neuland und mit: 'Frag’ Deine Mama', war ich erst einmal aus dem Schneider.“


„Es gab keine Sex-Shops?"

„Na, ja, mit der Liebe und Sex war in der DDR alles problemlos. Man konnte relativ schnell heiraten, wurde auch schnell geschieden. Die Frauen mussten dann weiter arbeiten und für sich selber sorgen. Für die Kinder hat man Alimente bezahlt – aber warum keine Sexläden – kann ich gar nicht sagen.“


„Ist es aus Ihrer Sicht jetzt und hier verklemmter?“

„Ja. Hier geht man überlegender an alles heran. Sehen Sie einmal allein bei Hartz IV, da ist so vieles zu bedenken und hat Konsequenzen. In der DDR konnte die Frau, wenn sie ein Kind nicht wollte, problemlos die Schwangerschaft abbrechen, also abtreiben.“

„Was bedeutet problemlos abtreiben?“

„Ja, sie ist zum Arzt gegangen, hat ihre Situation geschildert und dann bekam sie einen Termin für den Abbruch. Es konnte durchaus sein, dass es in der Klinik keinen herzlichen Empfang gab. Vor einer Frau habe ich gehört, sie habe sich in der Klinik, ich möchte mal sagen, nicht gerade willkommen gefühlt, aber es wurde eben das gemacht, was die Frau wollte.“

„Wer hat aus Ihrer Sicht die Wende tatsächlich herbeigeführt. Wo war die Feder dafür, die Antriebskraft?“

„Meiner Meinung nach waren es die Kirchen, die Jugendliche um sich gesammelt hatten, beispielsweise hier in Berlin die Gethsemanekirche. Dann die Montagsdemonstrationen in Leipzig und in Dresden und dann ging es hier in Berlin auch los, dass immer mehr Bürger zeigten, wie unzufrieden sie waren. Wir haben zugesehen, wie die Leute über die Tschechei in die Bundesrepublik gekommen sind. Politisch denke ich, war Ungarn mit der Grenzöffnung im Frühjahr 1989 ein Wegbereiter.“