Abschied von der Willensfreiheit...
Das Ich ist eine Konstruktionsleistung des Gehirns und nicht, wie allgemein gedacht, umgekehrt. Es gibt keinen über den körperlichen Prozessen schwebenden Geist. Heute stößt die Hirnforschung mit entsprechenden Ergebnissen eine Debatte über die Willensfreiheit an. Schließlich verlangt, so Schmidt-Salomon, das Prinzip der alternativen Möglichkeiten (alias Willensfreiheit) ein „Wunder“, einen Riss im universalen Kausalgefüge der Welt, denn: Identische Ursachen ziehen identische Folgen nach sich. Andere Entscheidungen fällen zu können als jene, die man aufgrund der bis zum Entscheidungszeitpunkt genetischen Anlagen und stattgefundenen Erfahrungsprozesse fällte, ist unmöglich. Nirgendwo her kann etwas „Freies“ kommen, das eine andere Entscheidung ermöglichen würde. Diese Erkenntnis führt dazu, dass der Schuld- und Sühnebegriff, der auch eine Grundlage unserer Rechtssprechung darstellt, aufgegeben werden muss.
... hin zur Handlungsfreiheit
Die Aufgabe der Willensfreiheit löst Angst aus, da viele Menschen denken, sie müssten ihre Freiheit aufgeben. Aber Handlungsfreiheit heißt, tun zu können, was man will und nicht, etwas wollen zu können, was man nicht anders wollen kann.
Schmidt-Salomon unterscheidet zwischen der äußeren Handlungsfreiheit, von der man nicht durch äußere Zwänge abgehalten wird (wie etwa in einer Diktatur) und der inneren Handlungsfreiheit, von der man nicht durch innere Zwänge (z. B. irrationale Ängste) abgehalten wird. Er geht auf die Doppeldeutigkeit von „frei“ ein, indem er Willensfreiheit nochmals definiert als Freiheit von Ursachen, Handlungsfreiheit dagegen als Freiheit von Zwängen. Damit fällt das oben ausgeführte zweite Axiom und der Referent plädiert für ein Paradigma der Unschuld, für eine neue Leichtigkeit des Seins.
Eine neue Leichtigkeit des Seins
Individuell besteht diese Leichtigkeit im „entspannten Ich“, welches befreit ist von Schuldgefühlen, Minderwertigkeitskomplexen und Versagensängsten, da jeder nur der sein kann, der er aufgrund seiner Anlagen und Erfahrungen sein muss. Der Unterschied zwischen Schuld und Reue besteht darin, dass wir einsehen können, dass wir uns falsch verhalten haben und dadurch Übel auslösten. Schuldgefühle, die aus einer moralischen Selbstverurteilung sowie einer fatalen Selbstüberschätzung resultieren, entstehen bei Reue nicht, sondern hier wird analysiert, was wir warum, wo und wie zukünftig besser machen könnten.
Als zentralen Leitsatz seines Konzepts führt Schmidt-Salomon an: „Wer sich nicht schuldig fühlt, der zu sein, der er ist, kann viel leichter daran arbeiten, der zu werden, der er optimalerweise sein könnte.“
Auch zwischenmenschliche Beziehungen können sich entspannen, wenn Mitmenschen nicht mehr als ständige, potenziell Scham auslösende Bedrohung wahrgenommen werden, die aufdecken könnten, dass wir schuldvoll und fehlerhaft sind. Stattdessen kann Kritik als Geschenk wahrgenommen und angenommen werden. Denn wer sich selbst vergeben kann, kann auch anderen besser vergeben. Auch befreit uns diese Perspektive von der „dummen Selbstgerechtigkeit“, mit der wir über andere richten, denn „ich“ wäre unter anderen Umständen ein anderer geworden (vielleicht ein Nazischerge und kein evolutionärer Humanist).