(hpd) Ich, Persönlichkeit, Willensfreiheit – von der Aufklärung konstruierte Fantasiegebilde, die es "laut der modernen Hirnforschung" gar nicht gibt. Dürfen wir den Mörder unserer Tochter überhaupt noch unsympathisch finden, wenn die Willensfreiheit nicht existiert?
Dürfen wir uns noch für eigene Fehler entschuldigen oder die Kinder für gute Noten loben? Können wir Entscheidungen bewusst treffen oder werden sie für uns getroffen?
Andreas Müller geht in diesem Artikel den Fragen über die Willensfreiheit nach, die unser alltägliches Leben am meisten betreffen und räumt mit falsch interpretierten Studien auf.
Hinweis: Michael Schmidt-Salomon wird auf diese Artikelreihe antworten.
Neurotrash
Nach dem letzten Teil dieser Reihe wurde kritisiert, dass meine Ausführungen sehr schwer zu verstehen seien. Das stimmt auch, liegt aber am Thema. Die Debatte um die Willensfreiheit ist eine Zaubershow mit schlechten Tricks und passenderweise lautet meine Hauptaussage, dass die Willensfreiheit unwichtig ist und es sich kaum lohnt, viele Worte darüber zu verlieren. Immerhin habe ich mehr als zehn Seiten gebraucht, um das festzustellen.
Vielleicht wurde die Willensfreiheit extra dazu erfunden, damit man sie nicht verstehen kann. Wie die Dreifaltigkeit oder wie alles, was Postmodernisten sagen. Bibliotheken sind gefüllt mit monumentalen Werken über die Frage, ob Eva einen Bauchnabel hatte und man hat ausführlich darüber spekuliert, wie Gott Vater, Gott Sohn und der Heilige Geist eine Person sein könnten. Vor nicht allzu langer Zeit galt es als ungemein tiefgründig, die Trinität mit den drei Aggregatzuständen von Wasser zu vergleichen. Diese Debatte wird nun über die Willensfreiheit geführt. An die Stelle allegorischer Glasmalerei ist die Aufnahme bunter Gehirnbilder getreten und anstelle von Seelenrettung geht es nun um die komplette Auflösung des Menschen mit allen seinen Einzelteilen, selbst jenen, die wirklich existieren. Die aufklärerische Dekonstruktionswut ist fertig mit Gott, Seele und allem Übernatürlichen, jetzt nimmt sie sich die Realität zur Brust.
Vom Unterbewussten zum Unbewussten
Wie groß ist die Macht des Unbewussten? Gewiss eine interessante Frage, obgleich sie, wie man ergänzen sollte, nichts mit der Willensfreiheit zu tun hat. Man könnte genauso einen freien Willen haben und ihn unbewusst ausleben. Warum sollte man nicht unbewusst wollen können, was man will? Das ergäbe ebenso viel oder wenig Sinn, wie das bewusste Wollen ohne Ursache. Trotzdem sprechen Inkompatibilisten wie Thomas Clark und Michael Schmidt-Salomon dem Unbewussten tendenziell einen größeren Einfluss zu als Kompatibilisten.
Leider muss ich nun etwas sehr Offensichtliches feststellen, aber es gibt Leute, die es bezweifeln: Wir treffen Entscheidungen, die wir bewusst treffen, bewusst – wenn wir eine bewusste Entscheidung treffen, bemerken wir das schließlich. Eben das ist ja Bewusstsein! Wenn ich über ein philosophisches Problem nachdenke, dann denke ich bewusst über ein philosophisches Problem nach. Wir wissen ganz genau, was wir bewusst alles tun und denken, eben weil wir es bewusst tun und denken.
Für Sigmund Freud war das "Unterbewusste" eine enorm einflussreiche Angelegenheit und es befasste sich vornehmlich mit unseren Geschlechtsorganen und dem, was wir mit ihnen besser nicht tun sollten, vor allem, wenn wir Frauen waren. Im Christentum gibt es Schuldkomplexe als Strafe für sündige Gedanken und in der Psychoanalyse gibt es dafür – nun, ebenfalls Schuldkomplexe (in der Tat stammt der Begriff "Komplex" in seiner aktuellen Bedeutung aus der Psychoanalyse). In seinem 700-Seiten-Wälzer "Why Freud Was Wrong" stellt Richard Webster sogar fest, dass die Psychoanalyse nichts anderes war als "eine getarnte Fortführung der judeo-christlichen Tradition" (S. 5).
Bei einer derart festen kulturellen Verankerung würde doch niemand auf ein ordentliches Unterbewusstsein verzichten wollen, das uns zur Unzucht verleitet. Auf S. 133 in Jenseits von Gut und Böse heißt es, dass weniger als 0,1% unserer Gehirnaktivitäten ins Bewusstsein vordringe. Sicherlich wird die Berechnung des visuellen, akustischen, taktilen, etc. Inputs im Gehirn unbewusst verrechnet und dann der relevante Teil unserer Sinnesempfindungen und unseres Wissens an das bewusste Selbst weitergeleitet. Aber das ist nur die neurowissenschaftliche Beschreibung eines Vorgangs, den wir alle kennen. Eine Beschreibung ändert nichts am beschriebenen Vorgang. Fragen Sie sich einmal selbst: Wollen Sie, dass Ihnen bewusst wird, was alles in ihrem Verdauungsapparat vor sich geht?
Der Mediziner und Neuroskeptiker Raymond Tallis stellt in seinem Artikel "Neurotrash" fest: "Während es zutrifft, dass bestimmte Entscheidungsprozesse, von denen wir bislang annahmen, dass sie bewusst hervorgebracht wurden, automatisch ablaufen, bedeutet das nicht, dass alle oder die meisten Dinge, die wir tun, unbewusst sind. Stellen Sie sich vor, dass irgendeine alltägliche Aktivität – die Kinder von der Schule abholen, einen Bericht schreiben, eine Party vorbereiten – unbewusst durchgeführt würde."
Libet nicht
Das berüchtigte Libet-Experiment soll Benjamin Libet zufolge bewiesen haben, dass unbewusste Gehirnprozesse unsere Entscheidungen treffen. Doch hat das Experiment nichts dergleichen bewiesen und auch Folgeexperimente haben nichts dergleichen bewiesen (obwohl das, leider meist ohne Quellenangabe, immer wieder behauptet wird, zum Beispiel auf S. 112 in Jenseits von Gut und Böse). Ganz im Gegenteil. Tatsächlich kranken die Folgestudien entweder an den selben Problemen wie die Libet-Studie, oder, wie sich noch zeigen wird, sie widerlegen die Libet-Studie sogar!
Das Libet-Experiment lief so ab, dass Versuchspersonen mehrmals nacheinander eine simple Handbewegung ausführen sollten. Dabei wurde das motorische Bereitschaftspotenzial gemessen, das rund eine Sekunde vor der Bewegung einsetzt und es wurde gemessen, wann der Willensakt für die Handbewegung den Versuchspersonen bewusst wurde. Überraschung: Zwischen Bereitschaftspotenzial und bewusstem Willensakt lagen 350 Millisekunden, also wurde den Versuchspersonen die Bewegung erst bewusst, nachdem sie diese ausgeführt hatten. Und nun soll die Willensfreiheit widerlegt sein.
Libet gab sich damit nicht zufrieden: Er sagte den Versuchspersonen in einem Folge-Experiment, dass sie die Bewegung abbrechen sollen, kurz bevor sie ausgeführt wird. Dies gelang noch 100 Millisekunden vor der geplanten Ausführung. Kann unser Bewusstsein also unserem Nicht-Bewusstsein widersprechen? Tatsächlich stellt sich die Frage hier gar nicht.
Abwegige Interpretationen
Die Versuchspersonen hatten sich bereits dazu entschieden, die Handbewegung auszuführen, bevor das Experiment überhaupt begonnen hatte. Schließlich sagte man ihnen vorher, was sie während des Experimentes tun sollten. Die Testsubjekte entschieden sich dazu, den Anweisungen der Forscher zu folgen, als sie sich dazu entschlossen, am Experiment teilzunehmen. Die bewusste Entscheidung kam also in jedem Fall vor der Ausführung! Man ließ ihnen nicht einmal Handlungsalternativen, also hatten sie keinen Grund, etwas anderes zu tun, als das, was sie taten.
Das Ergebnis des Libet-Experiments lautet also: Wenn sich Menschen dazu entscheiden, 40 Mal nacheinander eine simple Handbewegung auszuführen und es kommt nichts dazwischen, dann führen sie 40 Mal nacheinander eine simple Handbewegung aus. Eine famose Erkenntnis. Sehen wir uns an, wie sie von Inkompatibilisten wie Alex Rosenberg verstanden wird:
"Es gibt eine Tatsache, von Libet entdeckt, dass Handlungen schon von DEINEM GEHIRN determiniert wurden, bevor DU bewusst entscheidest, sie zu tun!" [Meine Hervorhebungen].
Der naturalistische Philosoph Richard Carrier übersetzt diesen Satz wie folgt: "Es gibt eine Tatsache, von Libet entdeckt, dass Handlungen schon von DEINEM GEHIRN determiniert wurden, bevor DEIN GEHIRN bewusst entschieden hat, sie zu tun!" Er erklärt, warum dieser Satz Unsinn ist: " 'Du' bist das synaptische Muster von Erinnerungen, Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmalen, Gewohnheiten und Veranlagungen, Wünschen und Emotionen und so weiter, aus welchen sich dein Gehirn zusammensetzt." Wie kann unser Gehirn etwas entscheiden, von dem wir nichts wissen, wenn wir unser Gehirn sind?
Entscheiden "wir" etwas unbewusst, bevor "wir" es bewusst entscheiden?
Im Jahre 2008 wurde eine neue Studie veröffentlicht, die eine ganz andere Interpretation als die der Inkompatibilisten nahelegt. Mit den eigenen Worten der Forscher:
"Wenn eine Anweisung Raum gibt für zwei Alternativen, wie bei unserem Experiment, dann kann eine Entscheidung für eine der beiden Alternativen auch noch nach Einsetzen des Bereitschaftspotenzials getroffen werden. Es gibt also, wie es scheint, Gründe zu bezweifeln, dass Libets Ergebnisse als Belege gegen die Willensfreiheit interpretiert werden können."
Es ist wohl eher so, dass dieses Nachfolge-Experiment die Deutung des Libet-Experimentes widerlegt hat, laut dem unsere Entscheidungen unbewusst getroffen werden (von wem?), bevor uns diese Entscheidungen bewusst werden. Wir können bewusste Entscheidungen treffen und auf deren Grundlage handeln.
Wir atmen, wir fahren Fahrrad, wir Schwimmen, wir gehen die Treppen hinauf zum Büro, und all dies, ohne dass wir bewusst darüber nachdenken würden. Und wozu sollten wir das auch tun? Das wäre reine Energieverschwendung. Wir benötigen unser Bewusstsein für wichtigere Aufgaben, wie dem Versuch, den penetranten Ohrwurm vom Morgenradio aus unserem Bewusstsein zu entfernen. Allerdings können wir uns jederzeit bewusst machen, dass wir unbewusst die Treppen hinaufgehen. Oder ist ihnen etwa nicht klar, dass sie jeden Tag die Treppen hinaufgehen, ohne darüber großartig nachzudenken? Jedenfalls insofern Sie jeden Tag Treppen hinaufgehen. Auch über das Atmen denken wir in der Regel nicht nach, können wir aber. Zum Beispiel bei Atemübungen während des Gesangsunterrichts.
Den Menschen hinter uns lassen
Es steht zu befürchten, dass wir mit unseren Steinzeitgehirnen die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösen können. Die Einkommensunterschiede werden immer größer, die Menschen drehen durch. Wir wollen nicht einmal dem Klimawandel Einhalt gebieten, oder gar aufhören, Tiere zu essen. Religionen werden radikaler, das Fernsehprogramm immer schlechter. Was für viele Menschen ein Grund zur Verzweiflung wäre, darin sehen Transhumanisten auch eine Chance. Ihr Ziel ist es, mit Hilfe der modernen Technologie in die menschliche Natur einzugreifen und sie zu verbessern. Der Mensch müsse seine eigene Evolution selbst in die Hand nehmen.
Der Transhumanismus hat einflussreiche Unterstützer wie Stephen Hawking. Michael Schmidt-Salomon lehnt diese Ideen vehement ab. Stattdessen versucht er uns mit philosophischen Mitteln zu überzeugen und den Ideenkampf zu gewinnen. Irgendwann sind wir vielleicht alle aufgeklärt und frei von Religion, Krieg und Tierverspachtelung. Bei Star Trek hat es ja auch geklappt. Ich selbst habe dazu keine eindeutige Meinung. Aber wenn sich die Menschheit weiterhin so beträgt, werde ich der erste sein, der sich ein Elektronengehirn einpflanzen lässt. Vielleicht kann ich mein Handy benutzen, um damit online zu gehen. Hoffentlich bleibt die Antivirensoftware am Ball.
Auf jeden Fall sollten wir nicht auch das Gute am Menschen wegphilosophieren oder wegbauen. Der Philosoph Tibor Machan kritisiert ebenfalls die ausufernden Schlussfolgerungen der Willens-Unfreiheits-Fraktion. So schreibt er in einem Artikel namens "Without Free Will" ("ohne Willensfreiheit") über die Inkompatibilisten:
"Niemand ist schuld an irgendetwas, behaupten sie, weil niemand etwas hätte anders tun können, als er oder sie es getan hat. Das ist nur eine Folge der Willens-Unfreiheit im menschlichen Leben. Was sind ein paar andere?
Bedauern ist draußen, Stolz auch. Entschuldigungen sind zwecklos, weil es niemand hätte besser tun können, als er oder sie es getan hat. Gewiss kann niemandem etwas vorgeworfen werden. Ebenso kann niemand für etwas gelobt werden. Wie es keinen Sinn ergibt, das Wetter dafür verantwortlich zu machen, unangenehm oder sogar schrecklich zu sein, so kann nichts von den schrecklichen Dingen, die Menschen tun, ihnen zur Last gelegt werden und ebenso kann niemand gelobt werden, weil alles einfach geschehen ist, wie es geschehen musste. Das bedeutet auch, dass Leitartikel, die irgendwem gratulieren oder jemand anderen schelten, alle Unsinn sind, Kauderwelsch, wenn es keinen freien Willen gibt. Vergessen Sie auch Bewunderung, denn keine Tat ist eine Funktion individuellen guten Urteilens und Aufwands. Es ist wie mit schönen Blumen, die einfach wachsen, wie auch sie das tun müssen.
Künstler müssen ihre Kunst machen, Mörderer ihre Morde, keine Alternative irgendeiner Art ist möglich, wie der Weg, den ein Fluss entlang fließt, er diesen entlang fließen muss."
Schmidt-Salomon schreibt dazu: "Wenn man die Fiktion der freien Willensentscheidung aufhebt und die Ermordung einer Person mit natürlichen Determinanten erklärt (etwa mit neuronalen Aktivitäten im Gehirn des Täters zum Zeitpunkt der Tat), so erhält dieser Mord gewissermaßen den Status einer Naturkausalität. Der Schmerz über den Verlust der geliebten Person wird dadurch zwar nicht geringer, doch immerhin wird verhindert, dass dieser Schmerz zusätzlich noch verstärkt wird durch das Gift der moralischen Empörung" (S. 275).
Findet den roten Hering
Schmidt-Salomon greift sich eine der von Machan erwähnten angeblichen Konsequenzen der Willens-Unfreiheit heraus, weil er glaubt, dass es uns helfen würde, Morde als Naturkausalitäten zu betrachten. Das ist Rosinenpicken. Wir hören nicht, dass wir damit aufhören sollen, unsere Kinder für ihre guten Noten zu loben oder uns bei jemandem zu bedanken, obwohl das mit der selben Logik aus der Willens-Unfreiheit folgen würde, wie unser Verzicht auf moralische Empörung. Mit der selben falschen Logik.
Wie bereits gesagt, glaube ich von den Prämissen her dasselbe wie Schmidt-Salomon: Bestimmte Ursachen führen dazu, dass wir dieses oder jenes wollen. Aber es gibt keine logische Verbindung zwischen der Willensfreiheit und der Art und Weise, wie wir unser Leben leben sollten!
Sagen wir hypothetisch, dass ich den Mörder meiner Tochter moralisch verantwortlich mache für seine Tat, weil ich glaube, dass er auch anders hätten handeln können. Warum sollte etwas Bestimmtes daraus folgen? Angenommen, der Mörder hätte sich ohne Grund oder Ursache für den Mord entschieden, einfach so, wie es uns die Libertarier weismachen wollen. Bringt es mir nun etwas als Betroffener, ewig mit unbefriedigten Rachegelüsten in der Gegend herumzulaufen? Wenn es mir hilft, kann ich mich davon überzeugen, dass der Täter den Mord nur als Folge einer Kausalkette begangen hat. Ebenso könnte ich mich davon überzeugen, dass ich meine Tochter nur als Folge einer Kausalkette überhaupt vermisse und dass ich diesen Bioautomaten nur aufgrund physikalischer Naturgesetze überhaupt jemals geliebt habe. Beides dürfte mir bei der Verarbeitung jener Tragödie helfen. Aber keine dieser Möglichkeiten folgt aus der Willensfreiheit oder deren Mangel.
Und dabei ist die Lösung des Problems schon in der Argumentation von Schmidt-Salomon angelegt. Er unterscheidet zum Beispiel Schuld von Reue. Schuld bedeutet eine moralische Verurteilung, Reue ist die Einsicht in einen Fehler, um in Zukunft diesen nicht zu wiederholen (vgl. S. 215). Ob wir uns schuldig fühlen oder unsere Tat bereuen, folgt beides notwendig aus bestimmten Ursachen. Aus dieser Tatsachenfeststellung kann man aber nichts ableiten, schon gar keine eine Beurteilung, ob denn nun Schuld oder Reue besser wäre. Die sind einfach da, wenn sie da sein müssen.
Die Beurteilung, was nun vorzuziehen wäre, entspringt also einer anderen Quelle als der Willens-Unfreiheit. Stattdessen hat Schmidt-Salomon darüber nachgedacht, welches Verhalten unser Leben verbessern könnte. Es wäre zum Beispiel besser, statt in Selbsthass zu verfallen, an der Lösung von Problemen zu arbeiten. Ebenso wäre es besser, Kriminelle nicht dafür zu bestrafen, dass sie angeblich böse sind, sondern um etwas mit dieser Strafe zu erreichen, etwa um eine Wiederholung der Tat zu verhindern und andere abzuschrecken. Schon sind wir wieder beim Konsequenzialismus angelangt, der fragt: Wie können wir unsere Ziele erreichen?
Die Antwort auf die Frage, was wir erreichen wollen, entnimmt Schmidt-Salomon dem Epikurismus: Wir wollen glücklich sein. Der Utilitarismus, der moderne Nachfolger des Epikurismus, strebt das größte Glück der größten Menge an. Meine eigene Formulierung lautet wie folgt: "Vermehre das Glück leidensfähiger Lebewesen". Hier sind Tiere mit eingeschlossen.
Oder wollen Sie nicht glücklich sein? Wollen Sie lieber traurig sein? Manchmal vielleicht. Aber insgesamt gesehen, möchten wir doch eher ein glückliches, als ein trauriges Leben führen, wage ich zu verallgemeinern.
Vergebung, wenn es sein muss
Was tun wir also, um dieses Ziel zu erreichen? Schmidt-Salomon erwähnt einige Beispiele, um für Vergebung zu werben. Zum Beispiel einen grausamen Mord in den USA, der nicht aufgeklärt werden konnte. Die Täter wurden nie gefasst. Hätten die Kinder der ermordeten Mutter also lebenslang unter Rachegefühlen leiden sollen, also vor allem darunter, dass die Täter niemals bestraft würden? Gewiss nicht, es war also sinnvoll, den Tätern "in Abwesenheit" zu vergeben, weil sie ja sonst nur noch mehr Leid ausgelöst hätten. Und wozu unnötiges Leid?
Ich habe noch ein eindringliches Beispiel entdeckt: Die Holocaust-Überlebende Eva Kor hat Josef Mengele vergeben, dass er sie vergiftet und ihre Zwillingsschwester ermordet hat. Andere Holocaust-Überlebende haben ihr das übelgenommen, aber ich denke, Eva Kor hatte einen guten Grund, das zu tun (nicht dass es mich, oder sonstwen, im Grunde etwas angehen würde). Schließlich war sie es, die unter dem schrecklichen Ereignis leiden musste. Erst die Vergebung befreite sie von ihrem Leid. Ich sehe keinen Grund, warum man Nazis auch noch dabei helfen sollte, Leid anzurichten. Und wenn es die Vergebung braucht, um Nazis zu bekämpfen, dann soll auch dieses Mittel recht sein. Gewiss wäre es besser gewesen, Mengele einzufangen und ihn zu bestrafen, aber das ist eben nicht geschehen.
Schmidt-Salomon argumentiert also für Vergebung aus konsequenzialistischen, epikuräischen Gründen: Wir sollten vergeben, um glücklicher zu sein. Und nicht, weil es keinen freien Willen gibt. Ergänzen würde ich allerdings, dass wir nicht immer vergeben sollten, nämlich dann nicht, wenn unsere Rachegelüste tatsächlich dazu beitragen, die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Vergebung ist eben nur Mittel zum Zweck.
So. Und dieses Konzept kann man nun auf alles anwenden.
Sollten wir unseren Sohnemann für gute Noten loben? Ja, weil ihn das anspornen wird, sich weiterhin zu bemühen. Sollten wir unsere Kinder lieben? Ja, weil wir uns dann besser fühlen und weil sie sich dann besser fühlen. Mehr Glück für alle. Dass es auch ein natürliches Bedürfnis gibt, seine Kinder zu lieben, ist klar und hilft gewiss dabei. Aber wir könnten aus philosophischer Überzeugung gegen unsere natürliche Neigung ankämpfen, unsere Kinder zu lieben, würden wir das als sinnvoll erachten (wie Puritaner oder die Taliban). Natürlich existieren empirische Fakten über die Realität, die man jeweils bei der Abwägung einbeziehen muss, ob und wie bestimmte Ziele erreicht werden können.
Diesseits von Gut und Böse
Fassen wir die wichtigsten Aussagen aus dieser Reihe zusammen (ich fasse sie zusammen und Sie dürfen sie lesen):
1. Ein akausaler (libertarischer) freier Wille existiert wahrscheinlich nicht.
2. Wir hätten uns in beinahe (!) identischen Situationen anders entscheiden können, als wir es taten, weil unsere Vernunft selbst eine Ursache ist, die eine alternative Wirkung auslösen kann! Wird unsere Vernunft nicht durch äußere oder innere Zwänge (Gewalt, Drogen, Nahrungsmangel, etc) eingeschränkt, verfügen wir über einen freien Willen, also einen Willen, der sich frei von störenden Fremdursachen formen kann.
3. Ein Schuldkonzept, das von metaphysischen Begründungen abhängt (vom Teufel besessen, böse Seele, Monster, libertarische Willensfreiheit etc.) ist unhaltbar. Das sagt aber nichts über die Angemessenheit von harten Strafen aus. Um angemessene Strafen zu ermitteln, muss ihre Wirksamkeit empirisch überprüft werden, Verhältnismäßigkeit muss gewährleistet sein, die Menschenrechte sind einzubeziehen, etc. Wir müssen also auf die Folgen unserer Handlungen sehen und nicht auf die Ausstattung des Täters mit einem freien Willen oder dessen Mangel.
4. Menschen treffen in der Regel ihre Entscheidungen keineswegs auf Grundlage eines philosophisch begründeten Weltbilds (etwa auf Basis der Annahme, dass der libertarische freie Wille existiert), oder überhaupt auf Grundlage philosophischer Überlegungen. Die meisten Menschen denken gar nicht oder kaum über philosophische Fragen nach (was ihnen nur bedingt vorzuwerfen ist, schließlich würde die Arbeitsteilung in unserer Gesellschaft kaum funktionieren, wenn jeder mit Philosophie seine Zeit verbringen würde. Außerdem könnte man den Großteil der Philosophie verlustlos durch Gartenarbeit ersetzen, meinte schon Voltaire). Wäre das anders, würden soziobiologische und psychologische Studien nicht so aussehen, wie sie aussehen. Man denke zum Beispiel daran, dass beliebige Testpersonen, darunter Studenten, ihre instinktiven Entscheidungen bei Peter Singers moralischen Dilemmas überhaupt nicht begründen können!
5. Die Frage nach der Willensfreiheit hat keine hohe Priorität für die Aufklärung. Fehler bei der Vermittlung einer mangelnden Willensfreiheit lösen unter Umständen Fatalismus und somit unsoziales Verhalten aus, außerdem haben die oftmals mit der mangelnden Willensfreiheit verknüpften Schlussfolgerungen (Rache schlecht, Vergebung gut, etc.) gar nichts mit der Frage nach der Willensfreiheit zu tun. Wir können gegen Rache sein und vergeben, egal, was wir von der Willensfreiheit halten.
Schlusswort
Richard Carrier hat etwas Wichtiges zu sagen:
"Es ist zentral für unser Selbstverständnis, dass wir keine Puppen sind; dass wir unser Schicksal durch die Entscheidungen, die wir treffen, kontrollieren; dass wir uns verändern können; dass wir uns entschließen können, sorgfältig durchdachte, anstelle von irrationalen oder gedankenlosen Entscheidungen zu treffen; dass wir keine Sklaven unserer Emotionen sind; dass wir über die Umstände hinauswachsen können, in die wir hineingeboren wurden; dass wir uns deshalb korrigieren und verbessern und aus schlechten Umständen entkommen können; dass unsere Emotionen uns gehören und niemandem sonst; dass unsere Handlungen unsere Persönlichkeit demonstrieren; dass wir verantwortlich sind für die Entscheidungen, die wir treffen; und so weiter. Und doch: Jeder einzelne Eintrag auf dieser Liste ist wahr. CCF [der kontra-kausale/libertarische freie Wille] hat tatsächlich nichts mit all dem zu tun."
Sollte es jemandem gelingen, meine materialistischen Ausführungen in einem religiösen oder esoterischen Sinne misszuverstehen, fände ich das sehr amüsant. Tun Sie sich keinen Zwang an.
Und das letzte Wort bekommt Christopher Hitchens:
"Natürlich haben wir einen freien Willen. Wir haben keine andere Wahl."
Danksagung
Mein Dank gebührt auch diesmal wieder dem Psychologen Rolf Degen, der mir einige der hier zitierten Studien und wertvolle kritische Kommentare geschickt hat. In Abwesenheit danke ich Richard Carrier und Daniel Dennett, die tatsächlich verstanden haben, worum es in dieser Debatte geht.
Ich freue mich auf Ihre Kommentare auf feuerbringer.com.
Index
Im Labyrinth der Willensfreiheit
Abschied von der Willensfreiheit?
Willensfreiheit 3: Das Marionettentheater
Andreas Müller