„Der freiheitliche, säkularisierte Staat...“

Die damalige historische Situation

Der Aufsatz von 1967 entstand in einer besonderen Situation. Dazu Böckenförde im Vorwort seiner Veröffentlichung von 2007 (s.u.): „Das wurde seinerzeit in eine Situation hineingeschrieben, in der die Vorstellung, der Staat müsse ein christlicher Staat sein und die Religion zu seiner festen Grundlage haben, noch breiten Widerhall fand...und viele Christen sich dem religiös-neutralen, sich rein weltlich verstehenden und agierenden Staat gegenüber distanziert, wenn nicht ablehnend verhielten.“ Noch zwei Jahre zuvor war ja die 1965 schließlich revolutionär erfolgte Anerkennung der allgemeinen Religionsfreiheit durch die katholische Kirche auf dem 2. Vatikanischen Konzil noch sehr umstritten. Deswegen habe er am Schluss seiner Abhandlung an die Christen appelliert, den säkularisierten Staat nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches zu erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, deren Verwirklichung auch ihre Aufgabe sei. In seinem Vortrag von 2006 erklärte B. klar, geistliche und religiöse Zwecke lägen außerhalb der staatlichen Befugnisse, was übrigens unter Verfassungsrechtlern selbstverständlich ist und sich auch klar aus dem Grundgesetz ergibt (Näheres dazu). Eine Abkehr von der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staats, auch „etwa auf dem Weg mehrheitsgetragener politischer Willensbildung“, sei – so Böckenförde – unzulässig. Zivilreligion als verbindliche „Erhaltungsideologie für den Bestand des Gemeinwesens“ lehnt B. als freiheitswidrig zu recht ab. Wichtig ist auch der Satz, der säkularisierte Staat dürfe „keiner religiösen Überzeugung... die Chance einräumen, unter Inanspruchnahme der Religionsfreiheit und Ausnutzung demokratischer Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen und schließlich abzubauen.“

Der bleibende positive Gehalt des Böckenförde-Diktums

Schon Ursula Neumann etwa hat (in: Kirche und Recht 1999 Nr. 980, S. 205 f.) auf die Fehlinterpretation der Aussage von B. aufmerksam gemacht. Böckenförde rekurriere nicht auf abstrakte Werte wie Religion und Nation, sondern wende sich an die Bürger, die den Staat um der Freiheit willen tragen müssen. Er habe 1967 an die Christen appelliert, ihren Widerstand gegen den Staat aufzugeben. B. hat die Richtigkeit dieser Ansicht im unmittelbaren Anschluss an Neumann (a.a.O. S. 206 f.) bestätigt und ergänzt, sein Satz habe im Kontext nicht normativen, sondern diagnostisch-analytischen Charakter. Religionsfreiheit gebe es nur bei Ablösung des Staats von der Religion und Freiheit sowohl von wie Freiheit für Religion. Noch klarer wird B. in seinem Aufsatz „Religion im säkularen Staat“ (1996). Dort weist er darauf hin, im pluralistischen Staat gehöre Religion „zu jenen Instanzen, die ethisch-sittliche Grundauffassungen und Grundhaltungen vermitteln“, also neben anderen. Freilich ist mit B.‘s ziemlich allgemein gehaltenen Ausführungen wenig gewonnen für die entscheidende Frage, welche übergreifenden Ideen denn in der Lage sind, die verschiedenen Religionen und anderen gesellschaftlichen „Instanzen“ und die Gesamtheit der Staatsbürger so zu zusammenzubinden, dass der Staat insgesamt von ihnen getragen wird. Jedenfalls aber liefert Böckenförde keinerlei Grund für die eingangs geschilderten Aspekte einseitiger Kirchenförderung.

Kritik an Böckenförde

1967 hat B. die Religion als staatstragendes gesellschaftliches Moment gesehen, wenn auch ohne die geschilderten falschen Schlussfolgerungen. Das war aber schon damals religionssoziologisch keineswegs begründet. Von Homogenität in Gesellschaft und Staat, von der er anscheinend ausging, konnte keine Rede sein. Und heute sind die vielfältigen religiösen Glaubensvorstellungen zur Sache von Minderheiten geworden (siehe hierzu etwa das umfangreiche Datenmaterial). Mit den unterschiedlichen Religionen kann man zwar jeweils Teile der Gesellschaft für sich integrieren, aber keine gesamtgesellschaftliche Integration herbeiführen. Kulturelle Vielfalt und weltanschaulicher Dissens sind Tatsache, und sogar innerreligiös, auch innerkatholisch, gibt es schwere Differenzen. Die z.T. heftigen, ja kulturkampfartigen Auseinandersetzungen besonders in bioethischen Fragen unterstreichen das. Bezogen auf die katholische Kirche kann man mit dem evangelischen Theologen Kress von „Neo-Integralismus“ sprechen, wenn man bedenkt, wie das römische Lehramt weltweit auf katholische Parlamentarier in Fragen der Bioethik, Familie und Partnerschaft bis zur Androhung der Exkommunikation Einfluss zu nehmen versucht. Ein Beispiel: In Spanien hat Kardinal Trujillo im Jahr 2005 katholische städtische Angestellte aufgefordert, homosexuelle Paare auch dann gesetzwidrig nicht zu trauen, wenn sie dadurch ihre Stelle verlieren (FAZ vom 4.5.2005). Generell sind die in den letzten Jahren verschärften gewissensbindenden autoritativen Vorgaben des katholischen Lehramts nicht geeignet, solchen Glauben als „freiheitsfördernde Ressource des säkularen Staates“ zu deuten (so Kress, S.°300). Böckenförde berücksichtigt zumindest nicht ausdrücklich, dass unsere Gesellschaft weitaus mehr durch außerreligiöse Aspekte geprägt wird (Bildung und Wissenschaft, Rechtssystem, Sport usw.) als durch religiöse.