Resultat und Ausblick
Der hier diskutierte Satz Böckenfördes war seinerzeit wegweisend, wurde aber meist bewusst fehlgedeutet, um damit B.‘s Autorität zu instrumentalisieren zugunsten einseitiger und somit ungerechtfertigter Privilegien für die Kirchen (kirchliche Dominanz im Sozialwesen, Gehaltszahlungen an Geistliche und sogar Bischöfe mit allgemeinen öffentlichen Geldern, Zahl und Umfang der Theologischen Fakultäten, Einseitigkeiten im Rundfunkwesen, staatlich finanzierte Militärseelsorge, massive finanzielle Förderung usw. usf.; eingehend G. Czermak, 2009, Art. Privilegien der Kirchen). Dazu kann sich redlicherweise niemand auf das geflügelte Wort B.‘s berufen, und solches Vorgehen sollte nach Möglichkeit deutlich zurückgewiesen werden.
Die Aussagen Böckenfördes haben aber aus heutiger Sicht klare Defizite: Zum einen gewichten sie die Bedeutung der Religion auch in ihrer aktualisierten Variante viel zu stark und setzen sich nicht mit dem Argument auseinander, dass man u.a. in Deutschland mit Religion offensichtlich keine gesamtgesellschaftliche Integration erreichen kann. Zum anderen hat B. keinen konkreten Lösungsversuch für das beschriebene Dilemma angeboten, obwohl er vom nichtchristlichen Charakter des Staats ausgeht.
Hierzu daher folgende Hinweise: Eine gesamtgesellschaftliche Integration kann im pluralistischen Staat nur eine nichtreligiöse Basis haben, die aber allen religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen und unterschiedlichen moralischen (ethischen) Überzeugungen bei formaler Gleichberechtigung Rechnung tragen muss. Wenn der Staat „Heimstatt“ aller Bürger sein will (so das Bundesverfassungsgericht), muss er daher folgende Grundregel beachten: Rechtliche Vorschriften und staatliche Verhaltensweisen sind nur auf der Grundlage solcher Argumente zulässig, die keine besonderen religiösen oder philosophischen Lehren voraussetzen. Das bedeutet, dass sowohl Freiheitsbeschränkungen wie Fördermaßnahmen nur zur Sicherung solcher Rechtsgüter erfolgen dürfen, deren Vorrang im konkreten Fall unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit neutral begründet werden kann. Das staatliche Handeln muss m.a.W. gegenüber jedermann gerechtfertigt werden können. Dieses begründungsneutrale Konzept ergibt sich genau genommen aus dem Grundgesetz. Es kennt keine spezielle Staatsideologie, sondern nur zentrale Grundregeln wie Anerkennung individueller Grundrechte, Gewaltverbot, Sicherung des inneren Friedens usw. Eine gründliche staatsbürgerliche Erziehung zu diesen staatlich-gesellschaftlichen Grundwerten (Basiskonsens) steht über den Religionen und areligiösen Auffassungen. Sie hätte, konsequent beachtet, wesentlich mehr Aussicht, wirkungsvoll zur Integration möglichst aller Bürger beizutragen, als das durch Religion und allgemeine Kulturförderung erfolgen kann. Freilich ergeben sich bei Anerkennung dieses Gedankens schwierige Detailfragen, die im Rahmen dieser Erörterung nicht behandelt werden können.
Zu einer staatlich-gesellschaftlichen Integration auf der Basis des soeben kurz skizzierten „Neutralitätsliberalismus“ des Grundgesetzes stehen freilich so fundamentalistische Vorstellungen wie die von Papst Benedikt XVI. in krassem Widerspruch. Alan Posener, Kommentator der „Welt“, hat das in seinem kürzlich erschienenen gründlichen Buch „Benedikts Kreuzzug – Der Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft“ eindringlich dargelegt. (Rezension1 sowie Interview und Rezension2) Auch für den katholisch-gläubigen Juristen Böckenförde muss dieser Papst eine wirkliche Katastrophe sein, wie für alle westlichen Demokratien.
Gerhard Czermak
Literatur:
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007, 75 S. (über: Carl Friedrich von Siemens Stiftung; enthält das Referat von 2006 und die Abhandlung von 1967);
ders.: Religion im säkularen Staat, Universitas 1996, 990-998;
Czermak, Gerhard: Moral, Religion und Recht, Artikel in ders., Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht, 2009, 250-254 (ausf. zur Integrationsproblematik);
Kress, Hartmut: Religion, Staat und Toleranz angesichts des heutigen Pluralismus. Kritische Anmerkungen zum Böckenförde-Diktum, in: Ethica 2008, 291-314;
Neumann, Ursula: Sind Christen doch die besseren Menschen? Das Märchen von der Bedeutung christlicher Wertevermittlung. (Erstveröff.: Materialien und Informationen zur Zeit, 4/1998, S. 4-18; überarbeitet unter geändertem Titel in: Aufklärung und Kritik 1/1999, 99-119.
Hinweis: Der Autor ist Verfasser von: Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht. Ein Lexikon für Praxis und Wissenschaft. Alibri, 2009. 400 Seiten in übersichtlichem Kleindruck, gebunden, Euro 39.-, ISBN 978-3-86569-026-2
Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.