Ringen um den Gottesbezug

Europa sucht Ausweg aus dem Verfassungsdilemma.

Von Roland Ebert.

Am 4. August 2004 wurde der Entwurf zu einem „Vertrag über eine Verfassung

für Europa" vom europäischen Konvent abgeschlossen. Seine Präambel enthielt keinen direkten Gottesbezug. Dies war ein hart erkämpfter Kompromiss, da die Mehrheit der europäischen Staaten sich mehr oder minder auf Gott beruft. Nur Frankreich, Belgien und Luxemburg sind für eine strikte Trennung von Staat und Kirche. Die katholische Kirche bedauerte umgehend, dass keine Formulierung gefunden wurde, „die den unbestreitbaren Beitrag des Christentums und anderer Traditionen anerkannt" hätte. Da der Ratifizierungsprozess mittlerweile ins Stocken geraten ist, könnte es sein, dass diesbezüglich das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Am 29. Oktober 2004 wurde in Rom der Verfassungsvertrag von den europäischen Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Nun müssen 25 Staaten nach deren entsprechenden Rechtsnormen die Verfassung ratifizieren. Bis zum 1. November 2006 lagen erst 14 Ratifizierungen vor. Frankreich und Niederlande hatten bereits im Mai 2005 die Verfassung in Volksabstimmungen abgelehnt. Auch Deutschland kann - wegen der noch nicht entschiedenen Klage von Peter Gauweiler vor dem Bundesverfassungsgericht - in nächster Zeit keine Ratifizierungsurkunde hinterlegen. Zwar sind die Europa-Bürokraten guter Hoffnung, doch noch zum Zuge zu kommen, da nach dem Vertragsentwurf die europäische Verfassung aber nur einstimmig angenommen werden kann, stehen sie vor einem Problem. Das bisherige Musterland des Laizismus, Frankreich, und Deutschland, der bevölkerungsreichste Staat der EU, sind zum Zünglein an der Waage geworden. Deshalb sollen diese beiden Staaten, die bisher als treibende Kraft für die europäische Einigung galten, in der weiteren Diskussion herausgehoben werden.

Denkpause

Der Schock wegen der verlorenen Referenden in Frankreich und den Niederlanden saß tief. Mehrere Staaten verschoben daraufhin ihre Referenden auf unbestimmte Zeit. Mitte Juni 2005 beschlossen die Staats- und Regierungschefs, eine Denkpause von einem Jahr einzulegen. Das Ende des Ratifizierungsprozesses sollte vom 1. November 2006 auf Mitte 2007 verschoben werden. Darüber hinaus sollte im Juni 2006 ein Sondergipfel zur Verfassungskrise einberufen werden - doch das Krisentreffen fand nicht statt. Stattdessen kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 11. Mai 2006 an, dass sie während Deutschlands Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte von 2007 eine Lösung für die Verfassungskrise suchen werde. Konkrete Vorschläge nannte sie allerdings nicht.

Es gibt eine Menge Äußerungen zum weiteren Vorgehen. So schlug Nicolas Sarkozy, der Hoffnungsträger der französischen Rechten für das Präsidentenamt, vor, nur einen Minivertrag zu verabschieden. Dem setzte der irische Premier Bertie Ahern entgegen: Eine komplette Neuverhandlung oder die Vereinbarung eines beschnittenen Vertrages würde eine ernsthafte Umkehr für die Union markieren.

Der britischen Liberale Andrew Duff, der im Ausschuss des Europäischen Parlament für die Verfassung als zuständiger Berichterstatter fungierte, und der österreichische Grüne Johannes Voggenhuber gehen davon aus, dass der Ratifizierungsprozess auf unüberwindbare Schwierigkeiten gestoßen sei. Diese Vorstellung lehnte die Mehrheit aus Christlichen Demokraten und Sozialdemokraten in Straßburg ab. Sie befürchteten, durch ein Abrücken vom ausgearbeiteten Verfassungstext könnten die Euroskeptiker die Oberhand gewinnen. Anfang März 2006 wurde bekannt, dass Christdemokraten aus Deutschland, Frankreich und dem europäischen Parlament die Verfassung wiederbeleben wollten und dabei nur eine politische Erklärung zu den ersten beiden Abschnitten hinzufügen wollten. Dagegen beauftragte Frankreichs Innenminister Sarkozy den ehemaligen Außenminister Michel Barnier, den Europäern einen auf die ersten beiden Teile beschränkten Vertrag schmackhaft zu machen, um damit einer zweiten Volksabstimmung zu entgehen. Der Mini-Verfassung aber widersprach Bundeskanzlerin Merkel, da sie sich an die Ratifizierung durch den deutschen Bundestag gebunden sah. Frankreichs Europaministerin Catherérine Colanna hielt auf dem zweitägigen Außenministertreffen in Klosterneuburg bei Wien nichts von einer Neuverhandlung. Die Bedenkzeit der EU sei „unbefristet". Dem setzte die österreichische Außenministerin Plassnik als derzeitige Vorsitzende des Ministerrates entgegen, dass bis spätestens zur nächsten EU-Wahl in 2009 eine Verfassung vorliegen müsse. Man einigte sich darauf, die Bedenkzeit um ein weiteres Jahr zu verlängern, nämlich bis zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft. Und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier freute sich über die Rückkehr der links gewendeten italienischen Regierung in die Gruppe der Reformkräfte. Kurz und gut, es ist bisher keine konsensfähige Lösung in Sicht. In der langen Anlaufzeit sind aber politische Veränderungen in den einzelnen Staaten zu erwarten, die es zu berücksichtigen gilt.

Frankreich

In Frankreich steht am 22. April 2007 die Wahl zum neuen Staatspräsidenten an. In der regierenden UMP hat sich als aussichtsreichster Kandidat Nicolas Sarkozy durchgesetzt. Während seiner Zeit als Minister für Wirtschaft und Finanzen hatte er ein Buch über den Laizismus in Frankreich geschrieben. Darin schlug er die Änderung des Gesetzes über die Trennung von Kirche und Staat von 1905 vor. Es ging ihm darum, die etwa 4 Millionen Muslime durch Subventionen für den Bau ihrer Moscheen und staatliche geförderte Ausbildung derer Religionslehrer zu integrieren. Dabei berief er sich auf die Praxis, wonach christliche Kirchen, die vor 1905 gebaut wurden, vom Staat unterhalten werden, und auf die kunstvolle Verwaltungspraxis - Moscheen wurden als Kulturzentren ausgegeben - sowie eine unübersichtliche Rechtsprechung, die Subventionen für die Religionen ermöglicht. Sarkozy versteht „Laizität als bewusstes Einbeziehen der Religion in den öffentlichen Raum". Schon während seiner ersten Amtszeit als Innenminister hatte er eine „laicité active" vorgeschlagen. Mit dieser Ansicht stieß er auf heftige Kritik in seiner Partei UMP.

Als Gegenkandidatin auf der Seite der Sozialisten fungiert seit 16.11.2006 offiziell Ségolène Royal. Royal, eine Frauenrechtlerin, tritt mit aller Energie für die Laizität in Frankreich ein, „weil alle Religionen zu allen Zeiten die Frauen herab gewürdigt haben, ja zum Teil sogar speziell dafür erfunden wurden". Die Kandidatin respektiert das Votum der Franzosen und Niederländer über die europäische Verfassung. „Royal hat den Verfassungsvertrag deshalb für nichtig erklärt", sagte ihr engster Berater Montebourg. In Umfragen liegen Royal und der noch nicht offiziell nominierte Kandidat Sarkozy Kopf an Kopf. Der Ausgang der Präsidentenwahl in Frankreich kann also entscheidend für die weitere Diskussion um den Fortbestand des Laizismus in Europa sein.

Deutschland

In Deutschland bilden die Befürworter des Gottesbezuges in der EU-Verfassung die Mehrheit. Während der Europäischen Konvents für die Verfassung in Brüssel tagte, reichte die CDU/CSU-Fraktion am 14.10.2003 im Bundestag einen Antrag „Gottesbezug im Europäischen Verfassungsvertrag" ein. Als erster unterzeichnete ihn Peter Gauweiler. Über das Schicksal dieses Antrages gibt es kein Bundestagsprotokoll. Als der Bundestag am 12.5.2005 dem Vertrag über eine Verfassung für Europa mit 569 von 594 Stimmen - bei 23 Gegenstimmen und 2 Enthaltungen - annahm, kündigte Gauweiler an, unmittelbar nach der Zustimmung durch den Bundesrat eine Verfassungsklage einzureichen. Er begründete dies damit, dass der Bundestag durch die Annahme der EU-Verfassung das Grundgesetz nicht außer Kraft setzen dürfe. Dies hätte nur dem Souverän in einer Volksabstimmung zugestanden.

Dieses Argument mit der Volksabstimmung vertraten auch einige Verfassungsrechtler. Auffallend ist folgender Zusammenhang. Verfassungsrichter Siegfried Broß, der in Karlsruhe für das EU-Recht zuständig ist, bemängelte bereits 2003 den fehlenden Gottesbezug im Verfassungstext und verwies auf die Notwendigkeit eines Referendums. Außerdem hielt er ein „Kompetenz-Konflikt-Gericht" bei Kollisionen von nationalem mit europäischem Recht für notwendig. Bei einer Umfrage der Zeitung Die Welt im Jahr 2004 hielten 34 Staats- und Verfassungsrechtler in einem gemeinsamen Papier es für möglich, in Deutschland ein Referendum abzuhalten. Unter Umständen - z.B. wenn ein Übergang zu einem europäischen Bundesstaat oder eine partielle Ablösung des GG stattfinde - könnte eine neue Verfassung nach Artikel 146 GG (Geltungsdauer) nötig sein.

Tatsächlich reichte ein Bote von Peter Gauweiler nur wenige Stunden, nachdem der Bundesrat am Morgen des 27. Mai 2005 der EU-Verfassung ebenfalls zugestimmt hatte, die angekündigte Organklage beim Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe ein. Gauweilers Hauptargument war, durch die Zustimmung durch Bundestag und Bundesrat würde das Grundgesetz durch ein anderes Verfassungssystem ersetzt. (Artikel 146 GG fordert in diesem Fall eine Volksabstimmung!) Außerdem beantragte er einen Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung gegen das Zustimmungsgesetz, damit Bundesregierung und Bundespräsident das Gesetz nicht ausfertigen und verkünden könnten. Bundespräsident Köhler hatte bereits angekündigt, das Zustimmungsgesetz erst dann zu unterzeichnen, wenn das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache entschieden habe. Es war auch bekannt geworden, dass die Karlsruher Richter ihre Entscheidung nicht sehr bald treffen wollten. Damit war die Ratifizierung aufgeschoben.

Kurz nachdem die Bundesregierung am 11. Oktober 2006 die Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 bekannt gegeben hatte - für das Ziel einer Verabschiedung der Verfassung bis 2009 solle konkret nur eine neue „Road Map" (Fahrplan) erstellt werden -, schrieb Verfassungsrichter Broß an die Beteiligten des Prozesses zur EU-Verfassung, dass keine baldige Entscheidung zu erwarten sei. Maßgebend sei die Diskussion um eine Neuformulierung der EU-Verfassung. Wörtlich hieß es: „Angesichts der anhaltenden Diskussion über die Fortführung des Europäischen Verfassungsprozesses nach dem Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden und der Absicht der Europäischen Union, während des deutschen EU-Ratsvorsitzes im ersten Halbjahr 2007 einen Fahrplan vorzulegen, wie ein - möglicherweise veränderter - Vertrag unter neuem Namen bis 2009 in Kraft treten kann, sehe ich für eine Entscheidung über die anhängige Verfassungsbeschwerde gegenwärtig keine Priorität." Damit sind Merkels Vorstellungen zu einem Fortschritt in der EU-Frage während der deutschen Ratspräsidentschaft einmal auf Eis gelegt. Das Verfassungsgericht will seine Befugnis zur Letztentscheidung behalten. Diese würde es verlieren, wenn es konstruktiv an der Diskussion um die zu verabschiedende Verfassung teilnähme. Doch Broß hatte schon drei Jahre zuvor seine Meinung über die Inhalte einer EU-Verfassung geäußert. Danach müsste einiges verbessert werden. Bei einer Neufassung des Werkes würde Gauweilers Klage hinfällig; er müsste gegen die neue Fassung erneut klagen.

Veränderungen des EU-Verfassungsvertrages wollen wohl viele, allen voran die Bundeskanzlerin mit sieben Papstbesuchen (bei Wojtyla und Ratzinger). Letztmalig versprach sie Papst Benedikt XVI. Ende August, dass der Bezug auf das Christentum und der Gottesbezug für sie wichtig seien. Wie Frankreich und die Niederlande dazu stehen werden, kann erst nach den Wahlen (im November in den Niederlanden, im April in Frankreich) und Regierungsbildungen in diesen Ländern erarbeitet werden.

Das Plebiszit ist ein guter Gedanke. Doch die Politiker kennen die deutschen Bürger, deren Meinungen binnen kürzester Zeit stark schwanken können. Anfang Mai 2005 standen laut einer Infratest-Dimap-Umfrage noch 59 Prozent der Deutschen hinter der neuen Verfassung. Bis zum Monatsende sank die Rate der Zustimmungen auf 52 Prozent und bis Mitte Juni auf 42 Prozent. Solche Veränderungen lassen auf leichte Manipulierbarkeit schließen.

Rat der Weisen

Auf ihrem Treffen von Anfang Juni 2006 im brandenburgischen Rheinsberg beschlossen der französische Präsident Chirac und Bundeskanzlerin Merkel einen neuen Anlauf für die Verfassung. Die deutsche Ratspräsidentschaft werde im März 2007 die Verfassung wieder auf die Tagesordnung setzen und eine „Synthese der möglichen Lösungen" vorlegen. Frankreich würde dann während seiner Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2008 erlauben, die „Schwierigkeiten zu überwinden".

Mittlerweile nahm der italienische Innenminister Giuliano Amato, der Ex-Vizepräsident des EU-Verfassungskonvents - ein Liberaler (früher Sozialist) und kirchlich ungebundener „Laizist" -, die Initiative und gründete einen Weisenrat. Der aus möglichst wenigen Mitgliedern bestehende europäische Weisenrat soll bis März 2007 der Bundesregierung Vorschläge machen, wie sie die EU aus der Verfassungskrise herausführen kann. Deutsches Mitglied dieses Rates ist Otto Schily. Im Hinblick auf die anstehenden Präsidentenwahlen in Frankreich nehmen der ehemalige konservative Außenminister Michel Barnier und der frühere sozialistische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn daran teil.

Außenminister Steinmeier sagte gegenüber der Bild-Zeitung über die deutschen Pläne während der Ratspräsidentschaft in 2007, dass man dann einen neuen Anlauf zur Verfassung wagen wolle, der aber nicht bis zum Sommer abgeschlossen werden könne. Er sei jedoch „zuversichtlich, dass wir dann einen klaren Fahrplan haben und auf dieser Grundlage unsere Anstrengungen um die EU-Verfassung fortsetzen können". Kommissionspräsident Barroso, der am 11.Oktober an der Kabinettssitzung in Berlin teilnahm, lobte das Vorhaben, im März 2007 auf einer Sondersitzung des Europäischen Rates, zusammen mit Europäischem Parlament und Kommission, eine Erklärung zu veröffentlichen. Weiterhin wurde eine engere Kooperation der deutschen Ratspräsidentschaft mit den beiden folgenden Ratspräsidentschaften von Portugal und Slowenien vorgesehen. Die Bundesregierung will mit den beiden kleineren Staaten eine gemeinschaftliche Agenda abstecken. „Barroso verwies auf die hohen Erwartungen an Deutschlands EU-Präsidentschaft." Die neu eingeführte Dreier-Ratspräsidentschaft klingt nach großer Bruder Deutschland und folgsame jüngere Geschwister.

Diese Beschlüsse wurden vor dem Brief des Berichterstatters Broß des BVerfG an Gauweiler getroffen, durch den die Bundesrepublik in die Gruppe der Staaten mit ablehnender Haltung zur EU-Verfassung integriert wurde. Weitere Probleme bringen der beabsichtigte Führungswechsel in Großbritannien und die Regierungskrise in Polen. Wird der Rat der Weisen dieses Dilemma lösen können?

Medien

Das brisante Thema Laizismus in Europa, speziell der Gottesbezug in der zu ratifizierenden Verfassung wird in der Öffentlichkeit nicht kontrovers genug diskutiert. Es sieht so aus, als ob kirchliche und religiöse Kreise und deren Unterstützer in den Medien das Sagen haben - laut einer Erlanger Dissertation schneiden die Kirchen in der Tagespresse gut ab, besser als sie es selbst wahrnehmen. Im Hinblick auf eine mögliche Volksabstimmung über die EU-Verfassung in Deutschland, die relativ kurzfristig angesagt werden könnte, wäre eine wirkungsvolle Verbreitung der Ansichten der Laizisten vonnöten. Was Papst, Kardinäle und Bischöfe wollen, weiß fast jeder. Bei dem alternativen Gedankengut mangelt es an Verbreitung. Damit wir einhaken können, müssen wir die Vorgänge um die EU-Verfassung genauestens verfolgen. Die europäische Kommission drängt aus pragmatischen Gründen auf eine Veränderung der Rechtsverhältnisse in den Beziehungen der Staaten zur Gemeinschaft. Auch wenn es ehrgeizig erscheint, das Problem bis 2009 zu lösen, braucht Europa ein „effizienteres und demokratischeres" Entscheidungssystem, wie Barroso in einem Interview des Berliner Tagesspiegels sagte.

 

Der Artikel ist in der aktuellen <MIZ 04/06> erschienen .