„Die unbekannte Mitte der Welt“

(hpd) Ich bin begeistert von einem Buch: „Die unbekannte Mitte der Welt“ mit dem Untertitel „Globalgeschichte aus islamischer Sicht“ von Tamim Ansary. Es ist ein Buch, dessen Reiz und Wahrhaftigkeit darin liegt, dass es die Entwicklungen mit den Augen gebildeter Schichten der islamischen Welt betrachtet und uns Abendländern nahe bringt.

Der Autor weiß, dass Geschichte erzählt werden muss, und er kann erzählen. Wer sich mit dem Phänomen Religion auseinandersetzt und sich als Atheist nicht nur mit Kirchen und Papst balgen will, der sollte ein solches Buch als Pflichtlektüre betrachten.

Tamim Ansary stammt väterlicherseits selbst aus Afghanistan, mütterlicherseits gibt es europäische und jüdische Wurzeln. Er lebt in den USA und ist Lektor bei einem Schulbuchverlag, was der Lektüre erzählerischen Glanz und hervorragende Verständlichkeit gibt. Dass er selbst den Islam gut kennt, ist wichtig – dass er sein Buch nicht als Moslem schreibt, sondern aus areligiöser Position macht es frei von Apologetik.

Es ist natürlich schon aufregend, eine gute Erzählung der Geschichte zu lesen, in der unsere aus Schulzeiten bekante abendländische Entwicklung nur am geographischen und historischen Rande vorkommt. Denn Tamim Ansary erzählt Weltgeschichte aus der Sicht jener Mitte, die zwischen China und Indien einerseits und dem Ostrand des Mittelmeeres andererseits liegt – eine Region, die seit Mohamed islamisch geprägt ist.

Noch anregender ist dabei, die Entwicklung des Islam als eine wechselvolle Geschichte zwischen Toleranz und Liberalität und Fundamentalismus und Despotie kennen zu lernen. Was als großartiges Projekt begann, als Mohamed eine Gesell-schaft von Gleichen unter einem Gott schaffen wollte, ähnelt doch sehr anderen idealistischen Glaubensgründungen, auch den urchristlichen Gemeinden oder manchen Sekten, die das Gemeindeleben als Gemeinschaftsleben in den Mittelpunkt ihrer religiösen Praxis stellen.

Geradezu spannend ist die Wechselwirkung zwischen der islamischen Geisteswelt und den weltlichen Herrschaftssystemen und Dynastien, die oft genug durch den Einfall „wilder, heidnischer“ Stämme aus dem Norden gestürzt und dann in neuer Form errichtet wurden. Ob es Türken oder Mongolen waren, sie übernahmen den Islam und verbreiteten ihn über den arabisch-persischen Raum hinaus, z.B. nach Zentralasien und Indien.

Das Buch zeigt – und darin liegt sein größter Wert -, wie ähnlich Islam und Christentum sind und sich entwickelt haben. So haben islamische Denker ebenso zu demokratischen Ideen gefunden wie christliche. Und so haben sich islamische Herrscher ebenso auf den Koran berufen, um Despotie und Unterdrückung zu rechtfertigen, wie allerchristlichste Könige, Kaiser und Diktatoren auf die Bibel. Wenn sich islamische Theologen eng an den Text des Koran und die Berichte über Mohameds Vorbild gehalten haben, endeten ihre Lehren ebenso in geistiger Erstarrung wie die katholisch geprägte Welt vor der Reformation – und in manchen Zügen des Katholizismus noch heute. Wo die Denker einen großen, lebendigen Gott als Ausgangs- und Mittelpunkt ihrer Überlegungen gewählt haben, konnten sie zu ebensoviel Freiheit und Toleranz unter ihrem Gott gelangen wie evangelische Christen heute.

So ist wenig bekannt, dass es zu Beginn des letzten Jahrhunderts nicht nur in der Türkei durch Atatürk, sondern auch in Persien und Afghanistan moderne, die Aufklärung fördernde Regime gegeben hat. Wer insbesondere das Wirken Englands im 19. und 20. Jahrhundert bis etwa 1950 in diesem Raum kennt – Ansary beschreibt dies mit viel wirtschaftlichem und politischem Sachverstand – , der kommt nicht umhin, dies Wirken für die Ursache der verhängnisvollen Spätfolgen in allen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zu halten, die uns heute zu schaffen machen, von Israel/Palästina über Irak/Iran bis Afghanistan/Pakistan.

Der heute gefürchtete islamische Terror darf als direkte Folge der kolonialistischen Demütigungen von Arabern, Persern, Paschtunen etc. verstanden werden. Insbesondere Briten und später die USA haben islamische Aufklärung und Moderne in den Augen der Massen desavouiert, Demagogen ermöglicht und Despoten, ja im saudischen Wahabismus der radikalsten Islam-Sekte geradezu Existenzgarantie gegeben. Unsere Unfähigkeit als Europäer, Amerika und Israel an der Fortsetzung dieser Demütigungspolitik jenseits der anerkannten Grenzen Israels zu hindern, macht uns mitschuldig an verlorenen Chancen der islamischen Welt, ohne radikalen Bruch mit Religion und Tradition zu Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Lebensqualität zu kommen, und ist unser eigener Beitrag zur Förderung des islamischen Terrorismus.

Wer dieses großartige Buch liest und Sinn für die langen Wellen geschichtlicher Entwicklung hat, kann auch einen Schimmer von Optimismus gewinnen. Denn wie das Christentum ist auch der Islam offen für liberale Entwicklungen; Taliban und Ayatollahs sind Zwischenstadien, nicht Endpunkt der islamischen Entwicklung. Man erkennt dies nicht nur aus der wechselhaften Geschichte der „islamischen Mitte“, sondern auch bei Blick auf Hunderte von Millionen Moslems z.B. in der Türkei, im Irak, in Indien, Indonesien und der sicher ganz überwiegenden Zahl von Moslems in den Ländern Europas und Nordamerikas, die Frieden, Lebensqualität und Mitbestimmung ihres Schicksals wünschen wie alle anderen Menschen auch.

Gerd Eisenbeiß

Tamim Ansary: „Die unbekannte Mitte der Welt - Globalgeschichte aus islamischer Sicht“. Frankfurt/New York (Campus-Verlag) 2010, ISBN 978-3-593-38837-3; 367 Seiten mit vielen Karten, Literaturhinweisen und einem Stichwort-Register. 24,80 €.