Geschichte einer geraubten Kindheit

Beispielbild
Kinderheim Leonstein. Foto: Jenö Molnár
Schwesterliche Gewalt...

Heute findet Molnár eher lustig, wie sie als Kinder in Matrosenanzügen in Kolonnen vom Heim zur Kirche gingen. So kommt das Gespräch auf die Gewalt im Heim. Die Schwestern waren zum Teil nicht einmal ausgebildete Erzieherinnen. Da die Heime staatlich waren, kann man nicht von katholischen oder protestantischen Kinderheimen sprechen, allerdings waren die „Schwestern“ fast alle streng katholisch. Und außerdem waren sie fast alle von der ersten Stunde an Nazis gewesen. Unbeeindruckt von der Beendigung der Nazi-Diktatur in Deutschland, ließen die „Schwestern“ des Kinderheims Schloss Leonstein noch in den 50er Jahren die Kinder Klänge aus dem Liederfundus der Hitlerjugend anstimmen.

Auch der Leiter des „Erholungskinderheims“ Schloss Neuhaus war ein Nazi der ersten Stunde. Es gab seinerzeit kein anderes Fachpersonal. Eine der „Schwestern“ war nachweislich von der russischen Besatzungsmacht wegen ihrer Nazivergangenheit abgelehnt worden, also zog sie in die amerikanische Zone um, die Amerikaner setzten sie dann im Kinderheim ein. Diese Zusammenhänge fand Jöri allerdings erst nach Fertigstellung seines ersten von nunmehr geplanten drei Büchern heraus, da ihm erst dann volle Akteneinsicht gewährt wurde und er auch erst jetzt Einblick in die Akten anderer Institutionen erhielt.

...Fluchten... 

Die Kinder im Heim mussten zum Teil den ganzen Tag im Heim verbringen, nachdem sie in der Schule waren und ihre Hausaufgaben erledigt hatten. Das war öde, denn die Kinder durften nur spielen und sich unterhalten. Jöri allerdings hat schon als Kind viel gelesen – eine Flucht aus der Langeweile, eine Flucht in alternative Welten, in die er sich vertiefte. Zudem lernte er durch das Lesen sehr gut deutsch. Obwohl er in der Schule überdurchschnittlich war, ein Schulzeugnis war „voller Einsen“, erhielt er keinerlei Förderung, da er als Vollwaise, Habenichts, Wechselbalg, galt. So kam Jöri mit 14 Jahren zu einem extrem gewalttätigen Bäckermeister und einem Gesellen, der Alkoholiker war, in die Lehre. Bereits in der ersten Nacht der Lehre wurde er von beiden Männern verprügelt. Sechs Monate hielt er durch, aber dann verließ er den Lehrplatz. Er flüchtete und wurde von Gendarmen gefangen – doch auf seiner Flucht erhielt er von freundlichen Menschen zu essen: „Hast Hunger? Ach, armer Bub. Komm, ich bring dir was!“

Er landete dann im Erziehungsheim, dessen Leiter „wirklich ein knallharter Typ war. Der auch gegen seine eigene Tochter Gewalt ausgeübt hat, der die Kinder verprügelt hat.“ Doch Molnár tat er nichts, was dieser sich bis heute nicht erklären kann. Das taten dann andere: „Ich konnte mir keine Wäsche kaufen, keine Klamotten kaufen. Wobei sie mir das Jugendamt mein ganze Lehrgeld weggenommen haben, ich musste mir meinen Heimaufenthalt selbst bezahlen. Ich war im Heim damit ein Außenseiter, das war ich aber schon gewohnt. Wenn ich aber hingegangen bin und sagte: ‚Ich brauche Unterwäsche, ich brauche etwas zum Anziehen’, folgten immer Demütigungen. Die ‚Schwester’, Paula Ebener, hat mich betteln lassen und noch mal betteln lassen. Als wenn sie es richtig genießen würde. Ich habe mich als Achtzehnjähriger einmal in die Ecke stellen müssen, da sie mir drohten, ich käme sonst in die Justizanstalt. Das habe ich damals erst einmal geglaubt und mich brav in die Ecke gestellt. Nur weil ich Wäsche brauchte.“ Es gab auch eine 22jährige Erzieherin, die allnächtlich den Schlafsaal der Jungen aufsuchte, um einen bestimmten 14jährigen Jungen so lange zu vergewaltigen, bis sie von ihm schwanger geworden war.

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Szene im Heim. Foto: Jenö Molnár
...und Widerstand

Als Jöri vier Jahre alt war, schlug ihn „Schwester“ Margit so heftig, dass er sich beim Sturz eine starke Verletzung zuzog, an der er beinahe starb. Auch in den folgenden Jahren peinigte sie ihn und die anderen Kinder. Molnár ließ sich jedoch nicht alles gefallen, sondern suchte Mittel und Wege, sich den Heimaufenthalt angenehmer zu gestalten: „Der Widerstand war eigentlich ganz einfach, nachdem ich intuitiv begriffen hatte, dass ich da nichts zu erwarten hatte. Das entsprach meinem Rechtsempfinden, was gut ist, was schlecht ist. Den schlechten Schwestern hab ich Widerstand geleistet. Zuvor war ich fast am Hospitalismus gestorben und bis auf die Knochen abgemagert, das war eine ziemlich harte Kinderzeit.“

Dann fing Jöri aber mit sieben, acht Jahren an, sich selbst an die Hand zu nehmen. Er geht heute davon aus, dass der existenzielle Angriff der Schwester Margit, die schwere Verletzung, wahrscheinlich der Auslöser war. „Die Gruppe der Kinder im Heim war in sich ganz zerstritten. Schwester Margit hat die Großen um sich geschart, um die Gruppe zu beherrschen. Für mich war es irgendwann einfach, die Herrschaft zu übernehmen: Ich habe von Schwester Margit Unterlagen im Zimmer gefunden und sie damit gewissermaßen entnazifiziert. Sie schlug danach kein Kind mehr. Von den gewalttätigen Jungs, die unter dem Schutz von Schwester Margit die anderen misshandelten, schubste ich zwei den Berg runter, nahm ihnen das von den anderen Kindern gestohlene Geld ab und gab es den Kindern zurück, von denen sie es hatten. Schwester Margit wurde daraufhin kurzfristig suspendiert – auch mit Hilfe einer der anderen Schwestern. Danach ging es uns allen besser. Der Gruppenzusammenhalt war gestärkt, unsere Noten wurden besser. Das kann man eigentlich nur machen, wenn man für seine Position einsteht, mal den Mund aufmacht.“

Außerdem nahm Jöri sich Freiheiten, kletterte mit anderen Kindern heimlich aus dem Fenster, um draußen zu spielen oder in den Wald zu gehen – selbst wenn er anschließend dafür bestraft wurde.

Heute hat sich die Heimlandschaft in Österreich stark verbessert: „Die Jugendlichen werden pädagogisch betreut. Es ist auch Nachbetreuung da, wenn sie entlassen werden. Wenn sie in Not sind, kriegen sie Unterstützung, nach dem Heimaufenthalt mit ihnen zusammen eine Wohnung gesucht und bezahlt. Absolut spitze! Im Heim wird ihnen auch nicht langweilig, sie erhalten viele Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung.“