Geschichte einer geraubten Kindheit

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Jenö Alpár Molnár. Foto: Fiona Lorenz

TRIER. (hpd) Jenö Alpár Molnár wurde mit zehn Monaten in Österreich von der amerikanischen Militärpolizei entführt und 14 Jahre in zwei Kinderheimen versteckt, in denen er zum Teil brutal misshandelt wurde, andererseits aber auch erfolgreich Widerstand leistete. Der hpd sprach mit Molnár über seine Lebenserfahrungen sowie über die Unterschiede zwischen der Heimkinderbewegung in Deutschland und jener in Österreich.

Sein Buch ist nach Ansicht verschiedener Leser „authentisch und mit Herzblut“ geschrieben– „man hat das Gefühl, man marschiert mit ihm durch diese Einrichtungen“. Molnár hat seine Geschichte innerhalb von vier Wochen geschrieben, eigentlich nur zur persönlichen Verarbeitung seiner Erfahrungen. Doch dann entdeckte ein Kunde seines Copyshops das Manuskript, blätterte zunächst heimlich darin und fragte dann den Autoren, ob er sich dieses Buch ausleihen könne. Nicht nur der Kunde, auch dessen Frau, eine Deutschlehrerin, war von dem, was sie lasen, begeistert und drängten ihn, einen Verlag zu suchen. Bei besagtem Kunden handelt es sich um den Soziologen PD Dr. Waldemar Vogelgesang von der Universität Trier. Das Buch wurde bereits 2008, also zwei Jahre vor den skandalösen Enthüllungen in Deutschland, veröffentlicht. Es ist nicht anklagend, nicht pädagogisch.

Molnár spricht schnell und kaum verständlich, allerdings nimmt er doch stets eine eindeutige Position ein. Ihm gefällt beispielsweise nicht, wie die Heimkinderbewegung in Deutschland vorgeht:
„Hier gibt es so viel Tamtam, soviel Unnötiges. Man muss das Unwesentliche vom Wesentlichen unterscheiden. Wie erreichen wir das Ziel am Besten und am Wirkungsvollsten?“ Die Politiker, die trotz Einladung nicht zur Heimkinderdemo in Berlin kamen, waren nach Molnárs Meinung „verschreckt. Bei dem Rummel, der schon im Vorfeld gewesen ist. In Österreich ist genau das Gegenteil passiert. Hier war die Strategie zu aggressiv, zu provozierend und anklagend. Man muss den Leuten auch die Gelegenheit geben, dass sie selber enttabuisieren. Wenn man ihnen das immer nur vorwirft und vorwirft und dann fordert und fordert, kommen sie gar nicht dazu, selbst einmal nachzudenken und mal für sich selbst zu entscheiden: ‚Okay, ja, der hat recht.’ Das dauert manchmal Zeit, das kann vierzehn Tage, drei Wochen dauern. Es kann natürlich daran liegen, dass Deutschland größer ist als Österreich. In Deutschland gibt es viel mehr Betroffene, Hunderttausende, da gibt es natürlich ein viel größeres Aggressionspolster als in Österreich.“

Meine Geschichte erfahrbar machen

Jöri, der Spitzname der ehemaligen Kinder und Leidensgenossen, wird von ihnen freundschaftlich heute noch so genannt. Jenö Alpár Molnár ist heute 64 Jahre alt. Ihm geht es darum, seine Geschichte sichtbar und erfahrbar zu machen, nicht seine Geschichte „einfach nur so zu erzählen“, eine bewusste Strategie – nicht nur für sich selbst, sondern auch vielmehr für jene anderen Mitbetroffenen, die dazu nicht in der Lage sind sich zu artikulieren. Ohne seine Initiative und seinen Mut wären die Heimkinder in Österreich wohl nie so weit gekommen, wie sie jetzt sind. Er wurde im Fernsehen porträtiert und in der österreichischen Wochenzeitschrift Profil wurde im März 2010 über ihn berichtet. Sein Buch bewegte Politiker dazu, ihn nach Wien ins Parlament zu Lesungen einzuladen, damit sie sich ein Bild machen können. Andere Landesparlamente wie Salzburg, Innsbruck oder Linz folgten.

Anlass für sein Buch war ein Film über einen Jungen eines Gauleiters, der sich mutig gegen seinen Vater stellte und sich resigniert das Leben nahm. „Albrecht, so hieß der Junge, hat meine Nerven strapaziert und seine Entscheidung hat mich ziemlich deprimiert. Dass jemand so in Konflikt steht mit der Gesellschaft, mit den Institutionen. Ich konnte mich nicht umbringen, ich habe keinen Gedanken daran verschwendet. Da habe ich mich hingesetzt und das Buch geschrieben, hab’s richtig reingedonnert, 330 Seiten.“

Besonders von den Bewohnern des Dorfs, in dem das Heim steht, in dem Jöri untergebracht war, erhält er positives Feedback. Sie bestellen sein Buch, ein Heimbewohner nach dem anderen. Obwohl das Heim vom Dorf isoliert war, gingen die Heimkinder mit den Söhnen und Töchtern von den Dörflern in die Schule. Aber die Dorfbewohner hatten keine Ahnung, was in dem Heim passierte. Einige der Schwestern aus dem Heim und einige Heimkinder sind in dem Dorf geblieben, haben sich dorthin verheiratet.

Nach der Veröffentlichung seines Buchs haben sich 17 weitere ehemalige Heimkinder bei ihm gemeldet. Es sind alles Leute, „die es geschafft haben. Die sich nicht gemeldet haben, die, die abgestürzt sind, die Sorgenkinder, die das nicht verkraftet haben – die finde ich nicht. Einige, die mit ihnen in Kontakt stehen oder standen, haben mir von deren Schicksal erzählt. Teilweise sind sie Alkoholiker geworden, einige haben sich auch umgebracht. Mir geht’s um die, verstehst du? Um die, die ihr Leben nach dem Heimaufenthalt ohne Hoffnung wegschmeißen.“

Schlimm war für Jöri, dass er nicht wusste, weshalb er im Heim war. Erst mit 40 fand er seine Mutter wieder, die, im Glauben, dass ihr Sohn beim Vater in den USA sei, eine neue Familie gegründet hatte. Sie war kurz nach Jöris Geburt verschleppt und inhaftiert worden, weil sie als Ungarin eine Beziehung zu einem US-Amerikaner unterhalten hatte. Der Vater wurde vom Militär in die Heimat verfrachtet und versuchte von dort aus, seine österreichisch-ungarische Familie zu finden. Was er nicht wissen konnte: Sein Briefe wurden von der Armee geschwärzt und waren somit für Jöris Mutter fast komplett unleserlich. Er schrieb dann der Oma nach Ungarn und diese teilte ihrer Tochter in Österreich mit, das Jöri nicht in Amerika sein kann.

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Kinderheim Leonstein. Foto: Jenö Molnár
Schwesterliche Gewalt...

Heute findet Molnár eher lustig, wie sie als Kinder in Matrosenanzügen in Kolonnen vom Heim zur Kirche gingen. So kommt das Gespräch auf die Gewalt im Heim. Die Schwestern waren zum Teil nicht einmal ausgebildete Erzieherinnen. Da die Heime staatlich waren, kann man nicht von katholischen oder protestantischen Kinderheimen sprechen, allerdings waren die „Schwestern“ fast alle streng katholisch. Und außerdem waren sie fast alle von der ersten Stunde an Nazis gewesen. Unbeeindruckt von der Beendigung der Nazi-Diktatur in Deutschland, ließen die „Schwestern“ des Kinderheims Schloss Leonstein noch in den 50er Jahren die Kinder Klänge aus dem Liederfundus der Hitlerjugend anstimmen.

Auch der Leiter des „Erholungskinderheims“ Schloss Neuhaus war ein Nazi der ersten Stunde. Es gab seinerzeit kein anderes Fachpersonal. Eine der „Schwestern“ war nachweislich von der russischen Besatzungsmacht wegen ihrer Nazivergangenheit abgelehnt worden, also zog sie in die amerikanische Zone um, die Amerikaner setzten sie dann im Kinderheim ein. Diese Zusammenhänge fand Jöri allerdings erst nach Fertigstellung seines ersten von nunmehr geplanten drei Büchern heraus, da ihm erst dann volle Akteneinsicht gewährt wurde und er auch erst jetzt Einblick in die Akten anderer Institutionen erhielt.

...Fluchten... 

Die Kinder im Heim mussten zum Teil den ganzen Tag im Heim verbringen, nachdem sie in der Schule waren und ihre Hausaufgaben erledigt hatten. Das war öde, denn die Kinder durften nur spielen und sich unterhalten. Jöri allerdings hat schon als Kind viel gelesen – eine Flucht aus der Langeweile, eine Flucht in alternative Welten, in die er sich vertiefte. Zudem lernte er durch das Lesen sehr gut deutsch. Obwohl er in der Schule überdurchschnittlich war, ein Schulzeugnis war „voller Einsen“, erhielt er keinerlei Förderung, da er als Vollwaise, Habenichts, Wechselbalg, galt. So kam Jöri mit 14 Jahren zu einem extrem gewalttätigen Bäckermeister und einem Gesellen, der Alkoholiker war, in die Lehre. Bereits in der ersten Nacht der Lehre wurde er von beiden Männern verprügelt. Sechs Monate hielt er durch, aber dann verließ er den Lehrplatz. Er flüchtete und wurde von Gendarmen gefangen – doch auf seiner Flucht erhielt er von freundlichen Menschen zu essen: „Hast Hunger? Ach, armer Bub. Komm, ich bring dir was!“

Er landete dann im Erziehungsheim, dessen Leiter „wirklich ein knallharter Typ war. Der auch gegen seine eigene Tochter Gewalt ausgeübt hat, der die Kinder verprügelt hat.“ Doch Molnár tat er nichts, was dieser sich bis heute nicht erklären kann. Das taten dann andere: „Ich konnte mir keine Wäsche kaufen, keine Klamotten kaufen. Wobei sie mir das Jugendamt mein ganze Lehrgeld weggenommen haben, ich musste mir meinen Heimaufenthalt selbst bezahlen. Ich war im Heim damit ein Außenseiter, das war ich aber schon gewohnt. Wenn ich aber hingegangen bin und sagte: ‚Ich brauche Unterwäsche, ich brauche etwas zum Anziehen’, folgten immer Demütigungen. Die ‚Schwester’, Paula Ebener, hat mich betteln lassen und noch mal betteln lassen. Als wenn sie es richtig genießen würde. Ich habe mich als Achtzehnjähriger einmal in die Ecke stellen müssen, da sie mir drohten, ich käme sonst in die Justizanstalt. Das habe ich damals erst einmal geglaubt und mich brav in die Ecke gestellt. Nur weil ich Wäsche brauchte.“ Es gab auch eine 22jährige Erzieherin, die allnächtlich den Schlafsaal der Jungen aufsuchte, um einen bestimmten 14jährigen Jungen so lange zu vergewaltigen, bis sie von ihm schwanger geworden war.

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Szene im Heim. Foto: Jenö Molnár
...und Widerstand

Als Jöri vier Jahre alt war, schlug ihn „Schwester“ Margit so heftig, dass er sich beim Sturz eine starke Verletzung zuzog, an der er beinahe starb. Auch in den folgenden Jahren peinigte sie ihn und die anderen Kinder. Molnár ließ sich jedoch nicht alles gefallen, sondern suchte Mittel und Wege, sich den Heimaufenthalt angenehmer zu gestalten: „Der Widerstand war eigentlich ganz einfach, nachdem ich intuitiv begriffen hatte, dass ich da nichts zu erwarten hatte. Das entsprach meinem Rechtsempfinden, was gut ist, was schlecht ist. Den schlechten Schwestern hab ich Widerstand geleistet. Zuvor war ich fast am Hospitalismus gestorben und bis auf die Knochen abgemagert, das war eine ziemlich harte Kinderzeit.“

Dann fing Jöri aber mit sieben, acht Jahren an, sich selbst an die Hand zu nehmen. Er geht heute davon aus, dass der existenzielle Angriff der Schwester Margit, die schwere Verletzung, wahrscheinlich der Auslöser war. „Die Gruppe der Kinder im Heim war in sich ganz zerstritten. Schwester Margit hat die Großen um sich geschart, um die Gruppe zu beherrschen. Für mich war es irgendwann einfach, die Herrschaft zu übernehmen: Ich habe von Schwester Margit Unterlagen im Zimmer gefunden und sie damit gewissermaßen entnazifiziert. Sie schlug danach kein Kind mehr. Von den gewalttätigen Jungs, die unter dem Schutz von Schwester Margit die anderen misshandelten, schubste ich zwei den Berg runter, nahm ihnen das von den anderen Kindern gestohlene Geld ab und gab es den Kindern zurück, von denen sie es hatten. Schwester Margit wurde daraufhin kurzfristig suspendiert – auch mit Hilfe einer der anderen Schwestern. Danach ging es uns allen besser. Der Gruppenzusammenhalt war gestärkt, unsere Noten wurden besser. Das kann man eigentlich nur machen, wenn man für seine Position einsteht, mal den Mund aufmacht.“

Außerdem nahm Jöri sich Freiheiten, kletterte mit anderen Kindern heimlich aus dem Fenster, um draußen zu spielen oder in den Wald zu gehen – selbst wenn er anschließend dafür bestraft wurde.

Heute hat sich die Heimlandschaft in Österreich stark verbessert: „Die Jugendlichen werden pädagogisch betreut. Es ist auch Nachbetreuung da, wenn sie entlassen werden. Wenn sie in Not sind, kriegen sie Unterstützung, nach dem Heimaufenthalt mit ihnen zusammen eine Wohnung gesucht und bezahlt. Absolut spitze! Im Heim wird ihnen auch nicht langweilig, sie erhalten viele Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung.“

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Heimkinder. Foto: Jenö Molnár
„Ich habe dir vergeben, Schwester Margit“

Molnár hält nichts von „ein Leben lang nur anklagen, anklagen. Ich halte das für reine Energieverschwendung.“ Im Rahmen seiner Aufklärungsarbeit besuchte er seine Peinigerin kürzlich mit einem Kamerateam im Pflegeheim: „ Der Heimleiter wollte mich zuerst nicht hineinlassen, weil er meine Geschichte und die Rolle der Schwester Margit darin kannte. Erst als ich erklärte, dass es mir um Friedensschluss geht, stimmte er zu.

Ich bin ins Zimmer gegangen von der Schwester Margit, sie lag da im Dämmerzustand, hab ihre Hand genommen, sie ein bisschen getätschelt, ein bisschen gestreichelt und sagte: ‚Schwester Margit, ich bin der Jöri’, hab also versucht, mit ihr zu reden. Vielleicht reagiert sie ja irgendwie. Prompt hat sie reagiert und hat zu reden angefangen: ‚Der Jöri, der Jöri’. Dann hat sie die Namen der anderen Heimkinder aufgezählt, bis sie irgendwann wieder zurückgefallen ist. Einer der Anwesenden fragte sie: ‚Wissen Sie eigentlich, was Sie dem Jöri angetan haben?’ Da fing sie an, hin und her an der Decke herumzuzupfen, wurde ein bisserl aufgeregt, so dass der Heimleiter meinte, es sei jetzt gut, sie rege sich nur auf. Ich sagte zu ihr: ‚Ich hab dir vergeben’, und bin gegangen. Damit ist die Sache für mich endgültig abgehakt.“ Schwester Margit hatte vor diesem Treffen mit Jöri bereits seit Jahren nicht mehr gesprochen.

Das Schlimmste von allem: staatenlos

Nach dem Heim folgte „das Schlimmste von allem. Nach Abschluss der Lehre musste ich das Heim verlassen, es wurde nicht mehr bezahlt. “ Molnár galt als staatenlos. Sein Vater war Amerikaner, seine Mutter Ungarin, er befand sich in Österreich und hatte keinen Pass. Die Behörden stellten sich stur. „Ich konnte über Jahre nicht arbeiten, konnte keine Wohnung suchen. Ein Erzieher hat mich irgendwann im Schnee liegend gefunden und mich zu seinen Eltern gebracht. Ich hab da geschlafen, bin am nächsten Tag wieder zur Fremdenpolizei. Da hat’s mir irgendwann mal gelangt. Ich war völlig down, fast schon depressiv. Da bin ich bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Oberbayern und dann nach München runter getrampt.“

Er ging in Europa auf Wanderschaft und verdingte sich hier und dort als Hilfsarbeiter. „Es war eine schöne Zeit. Ich habe viele Leute kennen gelernt, interessante Typen und nette Menschen. Von den Menschen her habe ich keine einzige schlechter Erfahrung gemacht. Keine einzige. Bis auf die Pyrenäen, wo ein Franzose auf mich schoss und meinen rechten Oberschenkel nur knapp verfehlte – die Kugel ist richtig vorbei gepfiffen, ich bin in einen Graben rein gesprungen.“ Molnár redete sich aus manchen heiklen Situationen heraus – beispielsweise flunkerte er wegen seines angeblich gestohlenen Passes in Francos Spanien sowohl die Polizei als auch die österreichischen Botschafter an und bekam prompt genug Kapital, um weiter über die Runden zu kommen.

Später schloss Jöri eine Lehre zum Buchbinder als Bester seines Jahrgangs in ganz Bayern ab, immer noch staatenlos. Er sollte anschließend „ins Niemandsland“ abgeschoben werden. „Wohin? hab ich gefragt. Nirgendwohin, war die Antwort. Wir schicken dich über die Grenze. Was dann sein wird, ist deine Sache.“ Erst als die Mauer fiel, mit 46 Jahren, erhielt er von der ungarischen Botschaft in Bonn sofort eine Staatsangehörigkeit und damit seine wirkliche Identität, seinen ersten Pass. Diese Zeit wird Gegenstand seines zweiten Buchs werden.

Jöri fordert, „dass alle Kinder, die misshandelt wurden oder deren Leben in Chaos ausgeartet ist, dass die zumindest so rehabilitiert werden, dass sie im Alter würdig leben können. Dazu muss die Rente dementsprechend aussehen, sie müssen finanziell entschädigt werden. Eine Entschuldigung vom Staat nützt nichts. Davon haben die verlorene Würde nicht zurück. Die Verletzung ist da und deren Folgen sind auch da. Die kannst du nicht gut machen.“

Derzeit verklagt Jenö Alpár Molnár Anwalt das Land Österreich auf Entschädigungen für Völkerrechtsverletzung und Menschenrechtsverletzung. Und die verjährt nicht.