Die Hölle mit Seitennischen

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Waldemar Vogelgesang. Fotos: Fiona Lorenz

TRIER. (hpd) Dr. Waldemar Vogelgesang kann man das Verdienst anrechnen, die Veröffentlichung der „Geschichte einer geraubten Kindheit“ des ehemaligen österreichischen Heimkindes Jenö Alpár Molnár maßgeblich herbeigeführt zu haben. Der hpd sprach mit dem Soziologen über geschlossene Institutionen, Gewalt und Widerstand, Entschädigungen für Heimkinder, Gründe für die Pionierleistungen Molnárs und den Vorreiter Österreich.

Dr. habil. Vogelgesang ist Soziologe an der Universität Trier und hat unter anderem Jugendliche, Hooligans, Aussiedler, „abweichenden Videokonsum“ wie auch die „Situative Vergemeinschaftung mittels religiöser Hybridevents: Der XX. Weltjugendtag 2005 in Köln“ (mit) beforscht. Vogelgesang fand das Manuskript zur „geraubten Kindheit“ durch Zufall in Molnárs Copyshop. Nach der Lektüre war ihm klar, dass es sich um „eine sehr authentische Schilderung einer Leidensgeschichte handelt, aber mit positivem Ausgang. Man hat sehr früh den Eindruck gewonnen, dass er beim Schreiben den Druck, der durch das Erinnern wieder entstanden ist, gleichzeitig bewältigt.“ Er meldet den Eindruck an den Autor zurück, es handele sich um ein historisches Dokument, Molnár sei Zeitzeuge, indem er eine Situation auf eine Art ins Gedächtnis rufe, die man nicht vergessen solle.

Die Hölle, das sind die anderen

Bereits vor zwei Jahren gab es die Missbrauchsdebatte, zu dieser Zeit befand sich der Runde Tisch der Heimkinder noch in den Anfängen. Nach Ansicht Vogelgesangs beschrieb Molnár die Situation im Heim so, „wie das für geschlossene Einrichtungen in einer Form gilt, die Sartre beschrieben hat: ‚Die Hölle, das sind die anderen’ - in der Tat war das meine Lesart –, aber eine Hölle mit kleinen Seitennischen, die dafür gesorgt haben, dass es Rückzugsbereiche in dem Heim gab, in denen er a) den Nachstellungen dieser (verantwortlichen) Schwester Margit nicht ausgesetzt war und b) teilweise auch diesen rivalisierenden Gruppen, vor allem nicht diesem Grüppchen, das ihn vergewaltigt hat. Das ist die traumatischste Erfahrung, die er gemacht hat: Neben den Schikanen und täglichen Repressionen war die Vergewaltigung das Einschneidendste, das er erlebt hat. So was kann man wahrscheinlich auch nie bewältigen. Sondern man kann sich daran erinnern und findet hoffentlich im Laufe der Zeit soviel Distanz dazu, dass diese Erfahrung einen nicht lähmt.“

Es war zu erwarten, dass das Buch innerhalb der Heimkinderdebatte eine Resonanz auslöst und die Frage kam auf, wie Molnár mit dieser Resonanz umginge. Vogelgesang plädierte dafür, nicht nur an eine Leseöffentlichkeit zu gehen, sondern auch an eine Höreröffentlichkeit, um zu sehen, wie der Autor mit den Reaktionen, die dann kämen, umginge. So entstand die Idee der Lesung auf einem Podium in der Volkshochschule Trier mit Psychologen, Pädagogen, Juristen, dem Soziologen Vogelgesang und Jenö Alpár Molnár als Mittelpunkt der Veranstaltung. Während der Diskussion wurde, so Vogelgesang, „deutlich, dass die Distanz zum Thema nicht so groß war wie vermutet. Nach einer halben Seite musste er das Lesen abbrechen und ein Kollege las für ihn weiter. Aus seiner Reaktion auf die Lektüre der eigenen Erfahrungen und der Welle der Anteilnahme, der positiven Resonanz, die ihm daraufhin aus dem Publikum entgegengebracht wurde, wurde klar: Das kann eine Unterstützung bei der Bewältigung dieser traumatischen Erfahrungen sein.“

Daraufhin beschloss man den Versuch, einen Blick über die Landesgrenzen nach Österreich zu werfen, ob es dort irgendeine Form der Vergangenheitsbewältigung gäbe. So entstand die Idee, in Wien und anderen österreichischen Städten solche Lesungen zu machen, mit Experten aus dem Land, nämlich dem Sozialhistoriker Horst Schreiber und Michael John, beide sind „exzellente Kenner der Heimsituation. John hatte bereits im Jahre 2006 eine Ausstellung gemacht, ‚Wegscheid’, das war eines der härtesten Erziehungsheime der Nachkriegszeit. Die Ausstellung wurde allerdings nur drei Mal gezeigt und danach zurückgezogen, weil ehemalige Heimleiter gegen Herrn John wegen kollektiver Verleumdung geklagt haben. Man hat der Klage stattgegeben, die Reaktion war das Einmotten der Ausstellung.

Das Schöne ist: In Österreich hat Molnár eine Resonanz erfahren... Ich kenne keine entsprechende Resonanz eines Deutschen, der hierzulande eine entsprechende Aufmerksamkeit erfahren hat. Er war im Profil, das mit unserem Spiegel vergleichbar ist, in vielen Tageszeitungen und Talkshows. Und das hat dazu geführt, dass in Österreich etwas Anderes mit den Missbrauchsopfern und den geschädigten Heimkindern passiert als bei uns.“

Deutsch-österreichische Unterschiede und deren Ursachen

Nach Ansicht Vogelgesangs hat man „in Deutschland wie immer versucht, die Wiedergutmachung zu institutionalisieren. Die Einrichtung heißt ‚Runder Tisch’. Aber das ist eine typisch bürokratische Einrichtung, man hat sich lange gestritten, wer überhaupt am Runden Tisch Platz nehmen darf. Damit sind sie seit gut anderthalb Jahren zugange und haben erst einen vorläufigen Endbericht geschafft, der noch nicht abgesegnet ist. Aus dem sollen dann Schlussfolgerungen über mögliche Hilfen gezogen werden – man hat schon Hilfen angeboten in Form von Sorgentelefon oder Therapieplätzen, auch verbunden mit Entschuldigungen. Bis dato nur von kirchlicher Seite, nicht von staatlicher Seite, Frau Merkel hat sich bis heute dazu nicht geäußert. In Österreich geht man den verkürzten Weg, und das finde ich für die Betroffenen sehr viel besser. Man hat in Deutschland gesehen, dass für die Heimkinder, die jetzt zwischen 60 und 70 Jahren alt sind, das Verfahren zu einem regelrechten Spießrutenlaufen geführt hat. Denn auf der einen Seite gab es Unterstützer, auf der anderen Seite gab es aber Bedenkenträger, die der Meinung waren, man muss schon minutiös nachweisen, wie die Situation im Einzelfall in dem jeweiligen Heim war. Und das hat dazu geführt, dass die traumatischen Erinnerungen bei manchen nochmals hochkamen und sie damit nicht umgehen konnten.“

Vogelgesang weiter: „Dass sich der Verband ehemaliger Heimkinder in Deutschland zerstritten hat, der Vorstand ausgewechselt wurde, ist meines Erachtens eine Reaktion darauf, dass die Hilfe hier bürokratisiert wurde. In Österreich scheint mir das einen Weg zu nehmen, der sehr viel betroffenenfreundlicher ist: Man strebt die direkte Hilfe an, man strebt die Hilfe an, wo es nicht zu Einzelfallprüfungen kommt, sondern wo der Nachweis genügt, dass die entsprechende Person für eine bestimmte Zeit in einer Erziehungseinrichtung war. Damit rechtfertigt sich schon der Hilfsanspruch, möglicherweise auch der Entschädigungsanspruch, dazu gibt es allerdings noch keine konkreten Zahlen. Tirol wird wohl hier die Vorreiterrolle übernehmen und alle Experten sagen, das, was in einem Bundesland entschieden wird, wird maßgeblich sein für die Regelungen, die in den anderen Ländern gefunden werden. Da verdient Molnár großen Respekt, denn durch ihn ist ein regelrechtes Netzwerk von Betroffenen entstanden, das er mitorganisierte. Er hat in Österreich eine Pionierleistung erbracht für die öffentliche Wahrnehmung der Heimkinder aus der Nachkriegszeit und gleichzeitig auch eine politische Auseinandersetzung, verbunden mit Forderungen nach Wiedergutmachung, in Gang gesetzt. Das bestätigt im Nachhinein den Weg, den er gewählt hat: an die Öffentlichkeit zu gehen. Für ihn persönlich ist das eine Aufmunterung, weiterzumachen.“

Wie befördern geschlossene Institutionen Gewaltsysteme?

Ein Heim ist insofern eine geschlossene Institution, als es sich um eine kleine Lebenswelt handelt, „ummauert, vergittert, hierarchisch organisiert, mit Züchtigungsrechten der betreuenden Personen, wenig Rückzugsmöglichkeiten und teilweise drakonischen Strafen für Bagatellvergehen - heute kann man sich Begriffe wie ‚Korrektionsbaracke’ schon gar nicht mehr vorstellen – für Tage, manchmal Wochen, wurden die Kinder in Einzelhaft gehalten, mit spartanischer Kost. Das erinnert ein bisschen an Stammheim, an Isolationsfolter. Und das waren ja Kinder! Das ist etwas Typisches für diese Einrichtungen: dass man ihnen regelrecht ausgeliefert ist. Man steht unter einer Dauerbeobachtung, und zwar jeden Tag.“

„Es ist nicht ganz so schlimm wie in einem Gefängnis - man muss keine Anstaltskleidung tragen, man hat also schon Privatkleidung. Aber das nutzt einem nicht viel, wenn diese kontrolliert wird, wie das bei (der verantwortlichen) Schwester Margit der Fall war, um irgendwelche Spermaspuren nachzuweisen, immer vor versammelter Mannschaft, um zu diskreditieren, zu beschämen. Das sind Mechanismen der Unterdrückung, die sehr rabiat, sehr drakonisch sein können, wie Isolationsmaßnahmen auf der einen Seite, und andererseits sehr subtil, was die täglichen Kontrollen betrifft und, bei Auffälligwerden: die öffentliche Brandmarkung. Ein Fehltritt wird immer so geahndet, dass alle anderen davon auch mitbekommen, die Strafe wird öffentlich vollzogen und damit wird derjenige für sein Vergehen ein zweites Mal bestraft, indem er nicht nur gezüchtigt, sondern auch noch der öffentlichen Schande preisgegeben wird. Diese Mechanismen greifen hier ineinander und sorgen dafür, dass die Einrichtung einen Zwangscharakter, einen Kontrollcharakter hat.“

Das äußere Gefängnis wird zum inneren

Aus der Einrichtung kann man entfliehen. Das haben einige auch getan, aber sie sind nicht sehr weit gekommen. Diese Frage kam auf: Wenn die Möglichkeit besteht, aus dem Gefängnis zu entkommen: Warum tritt man dann nicht die Flucht an? „Weil sich das äußere Gefängnis bei vielen schon in ein inneres Gefängnis verwandelt hat. Das heißt, sie haben die Repressionsmechanismen, denen sie von Kleinkind an tagtäglich ausgesetzt waren, für sich selber so übernommen, dass sie keine andere Welt, keine andere Reaktionsweise mehr gesehen haben. Leider führt das dazu, dass sich diese Geschlossenheit zweimal darstellt: einmal als Gesamteinrichtung in Form des Erziehungsheims und einmal als kleinere Ausgabe in Form von Gruppen, die sich genau so organisieren, wie das im Heim auch der Fall ist. Es gibt einen Führer, harte Strafen gehören zum Alltag, Unterdrückungen bis hin zur Vergewaltigung gehören einfach zum Bestrafungs- und Unterdrückungsinstrumentarium, das im Heim wie auch in den Gruppen einzelne dazu bringt, dass sie keinen Ausweg mehr sehen. Außer sich das Leben zu nehmen. Heimsuizide sind keine Seltenheit. Damit blieb für viele nur noch die totale Unterordnung, die Einordnung in die sehr repressiven Gruppen.“

„Jöri (Molnár) hatte Glück, dass es in dieser Einrichtung mehrere rivalisierende Gruppen gab und er in einer Gruppe sowie in einer echten Freundschaftsbeziehung zu einer einzelnen Person landete, in der er andere Formen des Lebens, der Anerkennung und Alltags- wie Konfliktbewältigung kennen lernte, als es im Heim und in diesen Hardliner-Gruppen üblich war. Daher hat er einen ganz anderen Horizont ausgebildet, wie man sich verhalten kann. Er hat also diese geschlossene Welt für sich so nicht übernommen.“

Bewahranstalten mit arischem Menschenbild

„So sah die Fürsorgeerziehung in dieser Zeit aus: Es waren Bewahranstalten und der therapeutische Anspruch ging gegen Null. Das leitete sich aus der Armenfürsorge des 18. Jahrhunderts ab und die Einrichtungen wurden eben so konzipiert, dass Menschen zu besseren Menschen erzogen werden sollten, aber mit sehr, sehr drastischen Mitteln. Die körperliche Züchtigung war eine erlaubte, eine erwartete Form der Bestrafung. Man hätte sich als Mitarbeiter als ‚Weichei’ dargestellt, wenn man sich den Zöglingen gegenüber partnerschaftlich verhalten hätte. In der Bambule ist das ja wunderschön aufgedeckt. Und dann kommt hier der zweite Aspekt ins Spiel: Nicht nur das Kasernenhafte der Einrichtung, das dieses Autoritätsgefälle und die Hörigkeit produziert, sondern dann kommt noch dazu, dass das Personal sich rekrutiert aus der NS-Zeit mit einem bestimmten Menschenbild. In Deutschland wahrscheinlich ähnlich wie in Österreich – und das ist kein Spezifikum der Fürsorgeerziehung, sondern auch in anderen Einrichtungen wie Justiz oder Hochschule war es genauso: Man musste auf das Personal zurückgreifen, das da war. Und das waren die wenigen Überlebenden, von denen ein Gutteil sehr braun eingefärbt war. Einige dieser Personen haben ihre Identität auch verleugnet. Die Einrichtungen wurden am Anfang von Menschen geführt, die dieses arische Menschenbild in sich hatten. Und dazu gehört, dass ein Bastard vielleicht nicht unwert, aber nur eine Randexistenz war. Das haben sie diese jeden Tag spüren lassen: Dass sie die Polen im eigenen Lande sind oder dass sie die Juden im eigenen Lande sind.“

„Das kommt also noch hinzu: Die Denkhaltung und die Prägung durch die NS-Zeit hat die Art von Fürsorge, wie sie hier betrieben wurde, entscheidend mitbestimmt. Das änderte sich erst mit der Heimrevolte Ende der sechziger Jahre. So lange entsprach es in europäischen und auch außereuropäischen Ländern dem Zeitgeist, dass Erziehung über Strafen erfolgt. Eine Fürsorgeerziehung war immer eine, wo die ‚normale’ Erziehung gescheitert war. Dort mussten also besondere Maßstäbe angelegt werden, mit besonderen Repressionen, mit denen die Zöglinge wieder auf den Pfad der Tugend zurückgeführt werden sollten. Ab Ende der Sechziger änderte sich etwas. Wer also zwischen Mitte der Vierziger bis Mitte oder Ende der Sechziger in einer Fürsorgeeinrichtung war – die haben alle eine vergleichbare Erfahrung gemacht. Wenn sie auch im Nachhinein von sehr unterschiedlichen Erfahrungen berichten. Und das hängt damit zusammen, inwieweit sie dieses Heim schon verinnerlicht hatten, das Äußere zum Inneren gemacht hatten. Denn dann empfindet man das nicht mehr als so dramatisch, weil ‚dann bin ich ja Teil des Gesamten’.“

Nischen des Widerstands

Diejenigen, die Widerstand leisteten, hatten wie Jöri das Glück, Personen kennen zu lernen, die „ihnen ein anderes Leben, eine andere Beziehungsform gezeigt haben, wo es um Partnerschaft ging, wo es um Freundschaft, um emotionale Zuneigung, um emotionale Verletzlichkeit ging. In Jöris Grüppchen konnte man Anerkennung beziehen, ohne dann man sich der Mechanismen der Einrichtung oder der ‚harten’ Jugendgruppen bedient hat. Wo es nicht um Unterwerfung ging, sondern darum, dass man ein bestimmtes Talent hatte, das man zeigen konnte. Dort wurden zum Beispiel Jugendstreiche organisiert. Aus der Munition, aus Kriegsresten, die man dort gefunden hat, haben die Pfiffigen schon mal kleine Feuerwerke veranstaltet. Auch vor dem heranfahrenden Zug, um den Lokführer zu erschrecken. Das fällt im weitesten Sinne unter Streiche, da wurde niemand verletzt, und es wurde so organisiert, wie das auch Jugendliche heute machen: nach ihren eigenen Regeln. Und das hat ihnen eine Selbstständigkeit gegeben, einen anderen Erfahrungsraum, der dafür gesorgt hat, dass Jöri im Unterschied zu anderen nach dem Heimaufenthalt auch unter erschwerten Bedingungen – er war staatenlos – ein Überleben möglich war. Außerdem hat er die Würde vor sich selber nicht verloren. Die Repressionserfahrungen setzen sich nach dem Heimaufenthalt ja noch über zwanzig Jahre fort, bis er den ersten Pass bekommen hat. Ich glaube, dieserart, innerhalb des Heimes Bereiche gefunden zu haben, in denen ein normales Leben möglich war, das war eigentlich die Brücke zur Freiheit und einer einigermaßen normalen Existenz. Man könnte auch sagen, das Heim hat ihm unfreiwillig auch geholfen, nachher eine normale Existenz zu führen.“

„Diese Nischen sind sehr spannend – man weiß. die gibt es in jeder totalen Institution. Es gibt Menschen, es gibt Gruppen, die sich diese Nischen schaffen. Und wenn es gar nicht anders geht, dann schaffe ich mir die im Kopf. Das hat Jöri ja auch gemacht. Das Lesen, die Phantasieleistung ist ja immer etwas, das mich in dem Augenblick von dem, was ich gerade körperlich mache, völlig entlasten kann: Ich lebe dann in zwei Welten. Einmal in der konkreten Alltagswelt mit ihren alltäglichen Repressionen und Unterdrückungen und bin gleichzeitig in einer anderen Phantasiewelt, in der ich mir etwas Anderes zurechtmale. Bruno Bettelheim hat das in ‚Erziehung zum Überleben’ aus der Sicht seiner NS-Erfahrungen genau so beschrieben. Er sagte, die Depersonalisierung kann dort bis zur absoluten Identitätszerstörung führen, weil äußerlich kein Identitätsmerkmal mehr verfügbar ist. Alle sind glatt geschoren, alle haben die gleiche Anstaltskleidung, das Persönliche des Namens wird durch eine Nummer ersetzt und dann bleibt für die starken Charaktere nur der Rückzug in die Phantasie. Für die Schwachen bleibt der Selbstmord: Ein Gutteil findet sich am Zaun wieder, weil das für viele der einzige Ausweg war. Bettelheim schildert sehr anschaulich, dass der Rückzug in eine Phantasiewelt für ihn die Energie erzeugt hat, das Durchhaltevermögen, um den nächsten Tag wieder anzugehen. Ich denke, bei Jöri war das ähnlich. Die positiven Erfahrungen durch Freundschaft, durch Liebesbeziehungen in seiner Gruppe, haben dazu geführt, dass das andere leichter auszuhalten war.“

Wie entstehen die Nischen?

„Keine Einrichtung ist so hundertprozentig kontrolliert, wie man sich das vorstellt und wie das die Aufseher, die sich das panoptische Prinzip überlegt haben, vielleicht wünschen. Sondern jede Einrichtung hat ungewollt immer auch Nischen. Ob das die Schlafsäle sind, ob das die Duschräume oder Bereiche außerhalb der Einrichtung wie eine Parkanlage oder große Gartenanlage sind: Es gab Rückzugsmöglichkeiten. Und diese Rückzugsmöglichkeiten können dazu genutzt werden, andere Erfahrungen zu machen. Das Heim hatte wie jede kasernenhafte Einrichtung immer kleine Bereiche des Rückzugs. Die finden nicht alle, manchmal muss man dafür auch etwas riskieren und Jöri hat riskiert. Das ist vielleicht vom Naturell abhängig. Jöri war eher ein Draufgängertyp: ‚Ich lass mich so ohne weiteres nicht unterkriegen!’ Das ist charakterabhängig. Das allein reicht aber nur für die ganz Starken. Die Beziehungsebene muss noch dazukommen, dass man Personen findet, mit denen man dieses andere Miteinander auch ausleben kann.“

„Davon profitiert Jöri noch heute. Im Gegensatz zu vielen Anderen hat er den Schritt gewagt, sich der Vergangenheit auch emotional zu stellen. Denn jeder Traumatherapeut sagt das Gleiche: Jede Erinnerung sorgt für eine Retraumatisierung, indem der Leidensdruck so groß wird wie zu der Zeit, als man den unmittelbar erfahren hat. Deshalb sollte man diese Erinnerungsarbeit immer therapeutisch begleiten. Jöri hat das nicht gemacht. Vielleicht hat ihm sein Umfeld von fünf, sechs Personen geholfen, die ihm immer Mut gemacht haben. Er war oft verzweifelt, es ist keineswegs so, dass unsere Treffen immer Friede, Freude, Eierkuchen waren. Wir haben manchmal gemerkt, es geht ihm persönlich so nahe, dass wir uns gefragt haben: Können wir die Verantwortung für das übernehmen, was in ihm passiert? Dann haben wir aber gemerkt, dass er sich immer wieder fängt und dass wir mit jeder neuen Lesung das Gefühl hatten, er findet neue Unterstützer, die Distanz wächst zu den Erfahrungen, die er gemacht hat, er kann freier darüber reden, so dass wir davon ausgehen können, das ist der richtige Weg. Er fällt nicht zurück in die Regression, in eine Abhängigkeit, aus der man nicht mehr rauskommt – dieser Sog war da -, sondern er hat sich davon irgendwie befreien können und dazu hat die Suche nach Öffentlichkeit ganz wesentlich beigetragen. Er hat den Wiederholungscharakter mit positiven Erfahrungen verbunden. Dadurch ist eine neue Ich-Stärke entstanden: ‚Ich stehe das durch’. Er hat gemerkt, dass Andere das eben nicht schaffen und es war klar, dass er nicht nur für sich kämpft, sondern dass Andere Hoffnungen in ihn setzen, dass er für sie den Kampf mit führt. Auf ihn kamen damit gleich zwei Belastungen zu: Sich der eigenen Erinnerung und den Erwartungen der Anderen zu stellen.“

Pionier für Österreich

Molnár wurde dann zur Anlaufstelle für andere österreichische Heimkinder, die ihm ganz offen ihre eigenen Erfahrungen schilderten. Es wurde klar, „dass er hier eine Pionierleistung vollbringt, die er aber auch aushalten musste". Der Sog entstand dann also von der anderen Seite, und zwar von den Heimkindern. Er hat gemerkt, die Schwachen schaffen es nicht. Sie schrieben ihm auch: ‚Jöri, ich würde nie so wie du in eine Talkshow gehen. Aber ich find’s toll, dass du’s für uns machst! Mach weiter!’ Solche Unterstützerbriefe von ehemaligen Heimkindern, die in einer ähnlichen Situation waren wie er, haben ihn noch mal stark gemacht. Damit erfuhr er nicht nur Unterstützung von Experten wie John, Schreiber und Parlamentariern, sondern auch von anderen Heimkindern. Die Öffentlichkeit, die er erfährt, ist eine Form von Aufmerksamkeit, mit der er nie gerechnet hätte. Er ist plötzlich eine Mittelpunktsperson, und das als jemand, der Inhaber eines Copyshops ist, eigentlich ein ganz normales Dasein führt. Im Nachhinein kann man sagen, es war die richtige Entscheidung, das Buch zu schreiben, an die Öffentlichkeit zu gehen, in Österreich dafür zu sorgen, dass diese Vergangenheit nicht in der Schublade bleibt, sondern sie einmal - und zwar gründlich - aufzuarbeiten und damit zu einem Teil der österreichischen Nachkriegsgeschichte zu machen. Aber auch so sichtbar, dass dann jeder sagen kann: Das war eine historische Situation, in die wir hoffentlich nie mehr kommen. Es ist nicht verschleiert, es ist nicht tabuisiert worden, sondern man stellt sich dieser Zeit offensiv. Dazu hat Jöri sein Scherflein beigetragen.“

Veränderte gesellschaftliche Verhältnisse

Daran merkt man aber auch, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend geändert haben. „So ist es. Aber es braucht einen Anstoß, es passiert nicht von selber. Diese Anstöße kommen meist von den Betroffenen oder von Experten. Wobei John ja bereits vor Jahren mit seiner Ausstellung den Anstoß gab, aber damals war die Zeit noch nicht reif. Man muss natürlich sagen, er profitiert momentan von einer weltweiten Debatte über Missbrauch und von einer weltweiten Debatte über Heimunterdrückung unter der Fürsorgeerziehung. Ob das die Magdalene Laundries sind oder die Situation der Kinder, die von England nach Australien deportiert wurden – das alles lief ja ungefähr zeitgleich. Jöri war damit zur rechten Zeit am rechten Ort der rechte Mann. Das waren auch Zufälle. Vor zwanzig Jahren wäre das nicht möglich gewesen. Erst mit Jöri wird Wegscheid von John zu einer Ausstellung, die in Österreich auch gezeigt wird.“

Entschuldigungen und Entschädigungen

Hierzulande haben sich Staat und Kirche noch nicht entschuldigt. In Großbritannien und Australien ist das passiert, die Premierminister Gordon Brown und Kevin Rudd haben sich bei den ehemaligen Heimkindern entschuldigt. „In Deutschland gibt es auch eine Entschuldigung, sowohl von katholischer wie von evangelischer Seite. Meines Wissens hat sich in Österreich die katholische Kirche für diese ‚Erziehungsmethoden’, für diesen Missbrauch entschuldigt. Vielleicht ist das ein Unterschied zwischen Österreich und Deutschland: Dass die katholische Kirche in Österreich signalisiert hat, dass die Entschuldigung der erste Schritt ist. Der zweite Schritt wird sein, dass man sagt, mit der Entschuldigung ist auch eine öffentliche Sichtbarmachung dieses Unrechts verbunden gewesen, denn eine Entschuldigung ist eine Anerkenntnis von Schuld. Daran lassen sie keinen Zweifel: dass es ein Schuldeingeständnis ist. Die Verantwortung endet aber nicht mit dem Schuldeingeständnis, sondern sie zieht als notwendigen Schritt auch Hilfen nach sich und diese werden auf mehreren Ebenen diskutiert. Kurzfristig werden therapeutische Hilfen angeboten und es wird finanzielle Entschädigungen geben.“

„Was mir in Österreich besonders gefällt – und das ist kein Verdienst von Molnár allein, sondern eine Entwicklung, die dort eingesetzt hat – ist, dass man sagt: Wir werden diese Hilfe unbürokratisch organisieren. Wir werden das nicht so machen wie bei Vergewaltigungsopfern, dass sie noch einmal an die Öffentlichkeit gezerrt werden und minutiös ihr Leid schildern müssen, sondern es genügt der einfache Nachweis, dass die Heimerfahrung vorlag, damit ist der Rechtsanspruch auf eine Entschädigung gegeben. Wie hoch die auch immer ausfallen wird. Die österreichische Kirche hat schon signalisiert, dass man das nicht aus Steuermitteln zahlen will, sondern aus dem Kirchenvermögen. Auch das ist ein starkes Symbol, wenn sie an ihre eigene Substanz gehen, um zu zeigen, wie ernst ihre Verantwortung gemeint ist.“

Vorreiter Österreich

„Das hätte man von den Österreichern nicht erwartet: Dass sie jetzt die bürokratischen Deutschen überholen, was die Entschädigung der Opfer betrifft. Die Kirche wird für ihre Einrichtungen die Entschädigungszahlungen vornehmen und der Staat natürlich für seine. Wobei die Situation in Österreich anders war, denn dort war die überwiegende Anzahl der Heime in staatlicher und nicht in kirchlicher Trägerschaft. Deshalb ist jetzt ganz wichtig, wenn ein Bundesland wie Tirol mit einer Regelung vorprescht, hat das eine Signalwirkung für alle anderen Bundesländer. Österreich hat also mit der Aufarbeitung sehr viel später begonnen, ist aber sehr viel früher an einem Punkt angelangt, an dem man sagen kann: Wir haben das Ziel ‚Öffentlichkeit’ hergestellt, eine Entschuldigung, und zwar mit Verantwortung, sichtbar werden lassen in Form von therapeutischer Begleitung, von öffentlichen Bekenntnissen und auch von Entschädigungen. Davon kann der Runde Tisch eigentlich nur lernen.“

„Aber in Deutschland ist es einfach anders gelaufen, das kann man nicht vergleichen. Deutschland ist auch größer, hier geht es um 800.000 Leute, in Österreich kennt man die Zahl gar nicht so genau, es sind, wenn überhaupt, vielleicht zehn Prozent davon. Und von diesen zehn Prozent wird vielleicht auch nur ein Prozent, vielleicht sogar nur ein Promille, den Antrag stellen, weil die meisten nicht den Mut haben, sich der Vergangenheit zu stellen. Oft wissen es auch die Partner überhaupt nicht – das ist ein Stück Biografie, das man für alle Zeiten von der Öffentlichkeit weggeschlossen hat. So ein Auslöser, der von außen kommt, kann Anlass sein, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen oder aber zu sagen: Oh nein, jetzt schotte ich mich erst recht ab! Die Angst, die dann entsteht: Halte ich die Erschütterungen durch die Erinnerungen an die Vergangenheit noch mal aus.“

Mit Waldemar Vogelgesang sprach Fiona Lorenz

 

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Geschichte einer geraubten Kindheit (2. Juni 2010)