Heimerziehung und Missbrauch

Ein Martyrium, das ein ganzes Leben dauert

kinderheim_koln-sulz.png

Kinderheim Köln-Sülz, 1914
Kinderheim Köln-Sülz, 1914

Erich Scheuch geriet im Alter von fünf Jahren in die Fänge einer brutalen Erzieherin. Erst nach sieben Jahren Prügel und Demütigung wurde er erlöst. Doch das Leid verfolgt den 67-Jährigen noch heute Tag und Nacht. Peter Kurz sprach für den hpd mit dem Missbrauchsopfer.

Es gibt da diesen Moment in dem knapp dreistündigen Gespräch mit Erich Scheuch, der sehr viel über ihn sagt. Der 67-jährige Mann aus St. Augustin bricht in Tränen aus, als er erzählt, wie er die kleinen Menschen in der benachbarten Kindertagesstätte beneidet, wenn er sie spielen sieht. "Dass ich so etwas nicht erleben durfte", sagt er mit erstickter Stimme. Aber Scheuchs Tränen gelten nicht etwa dem eigenen Leid, eine solche Kindheit nie gehabt zu haben. Sondern er dreht es gegen sich selbst: "Wie mies ich doch bin, dass ich neidisch auf kleine Kinder bin."

Als er klein war, durfte Erich Scheuch nicht mit anderen Kindern spielen. Seine Kindheit ist eine Horrorgeschichte, die ihn bis heute in Alpträumen verfolgt und sein ganzes Leben prägte. Eine Kindheit, die für ihn knapp acht Jahre lang von brutaler Misshandlung und Demütigung beherrscht war. Durch eine Frau, die er nur "das Monster" nennt. Eine Erzieherin in einem Kinderheim in Köln Sülz. Ein Heim, das zeitweise rund 1.000 Kinder, zumeist Waisen, beherbergte. Wo es einst stand, ist heute längst eine Neubausiedlung.

Es war ein städtisches Heim. Darauf hinzuweisen, ist Scheuch wichtig. Dass tausendfacher Missbrauch und Vergewaltigung eben nicht nur in kirchlichen Einrichtungen passierte, sondern auch dort, wo es die Strukturen in anderen Institutionen erlaubten. Obwohl auch in seinem Fall ein Geistlicher eine diabolische Rolle spielte. Scheuchs Fall ist einer von zahllosen, in denen Machtstrukturen und Sadismus auf Opfer trafen, die keine Fürsprecher, keine Beschützer hatten. Weil niemand hinschaute, weil viele wegschauten.

Erich Scheuch, Foto: privat
Erich Scheuch, Foto: privat

Als Scheuch fünf Jahre alt war, wurde seinen kriminellen und alkoholsüchtigen Eltern das Sorgerecht für ihn und seine beiden Schwestern entzogen. War die Kindheit bis dahin schon alles andere als behütet, so wurde sie danach vollends zum Alptraum. Es begann bereits in seiner ersten Woche, als die damals etwa 40 Jahre alte Erzieherin über den auf dem Boden sitzenden Neuankömmling gestolpert war. Zur Strafe habe sie ihn mit dem Kopf gegen den Heizkörper gestoßen und danach noch mehrfach geohrfeigt. "Ab dann fing die jahrelange Prügelorgie an, sie hatte offenbar im wahrsten Sinne des Wortes Blut geleckt", sagt Scheuch. "Sie schlug mich mit Holzlatschen, Bügeln, Handfegern oder Ästen. Wenn ich mal zwei Tage nicht verprügelt wurde, hat sie es am dritten Tag nachgeholt. Jeden Morgen, wenn ich mich wasche und rasiere, erinnern mich die Narben an das Monster", erzählt Scheuch.

Neben dem Prügeln waren Demütigungen an der Tagesordnung. Der kleine Erich verabscheute Käse, ließ ein Stück am Tisch verschwinden, versteckte es hinter einer Fliese im Badezimmer. Dort entdeckte es die Erzieherin Wochen später und zwang ihn, das vergammelte Stück zu schlucken. "Nicht selten musste ich nachts vor dem Schlafzimmer des Monsters auf dem Boden schlafen. Mal auf einer Matratze. Mal ohne, nur auf einem Laken. Wenn sie in der Nacht auf die Toilette musste, hat sie nach mir getreten. Wobei der Kopf ihr Lieblingsziel war." Oft ließ sie den Jungen so lange nicht auf die Toilette, bis er sich einnässte. "Ihr schäbiges Lachen und die Fratze kann ich bis heute nicht vergessen", sagt er.

Wenn es mal hitzefrei gab in der Schule, konnte sich der Junge nicht darüber freuen. Bedeutete das doch, aus dem für ihn sicheren Klassenzimmer wieder zurück zu müssen. Selbst in der großen Pause, in der die anderen auf dem Hof spielten, wurde er zurückbeordert in die Wohngruppe, um die Bäder zu putzen.

Ein Segen sei es gewesen, einige Wochen mit Mumps im Krankenbett zu liegen. Krank – aber in Sicherheit.

Dass die Frau so frei schalten und walten konnte, erklärt sich Scheuch damit, dass sie wohl einen großen Einfluss in der Einrichtung hatte. Er erzählt davon, dass sie ein Verhältnis mit dem Priester gehabt habe, der den Kindern in der an die Einrichtung angegliederten Kirche die Beichte abgenommen habe. "Manchmal teilte sie dem Priester schon vor meiner Beichte all das mit, was ich zu beichten hätte. Und wehe, ich hatte was vergessen oder nicht so genau gesagt, wie sie es mir vorher eingetrichtert hatte. Dann kam er aus dem Beichtstuhl heraus und ohrfeigte mich so lange, bis der genaue Wortlaut zu 100 Prozent übereinstimmte."

Doch wie kann all dies sein, warum ertrug Scheuch die Qualen? "Ich war sicher, mir glaubt ja doch keiner. Und ich habe damals wohl auch gedacht, ich sei ein schlechter Mensch und hätte all das verdient."

Und was denkt er über die Motive der Peinigerin? Neben dem offensichtlichen Sadismus habe sie wohl auch selbst daran geglaubt, eine Mission zu haben, erklärt sich Scheuch das heute. Seine ältere Schwester habe ihm einmal erzählt, dass die Erzieherin gesagt habe: "Ich hasse diesen Bastard. Die Eltern kriminell und Alkoholiker. Der Apfel fällt nicht weit vom Baum. Am besten sollte man ihn ersäufen, dann wird er in Zukunft dem Steuerzahler nicht mehr auf der Tasche liegen."

"Das Monster" ist längst gestorben, er hat die Frau freilich noch einmal wieder getroffen, da war er 16 Jahre alt. "Ich saß in der Straßenbahn, sie kam auf mich zu, tippte mir auf die Schulter und tat ganz unschuldig: Wie geht es dir? Mit einem überlegenen Grinsen. Ich bin nur aufgestanden, habe ihr gesagt: Wenn du nicht bei der nächsten Station aussteigst, bringe ich dich um. Ich zitterte am ganzen Leib. Sie stieg dann tatsächlich aus."

Nach sieben Jahren Martyrium, da war er zwölf Jahre alt, wurde Erich aus der Gruppe herausgenommen. Offenbar war der Heimleitung denn doch klar geworden, dass die Frau den Kleinen eines Tages umbringen würde, wenn nichts geschieht.

Dass er sein späteres Leben halbwegs meistern konnte, habe er einem "Engel ohne Flügel" zu verdanken. Seine Frau Rosi, von der er mit leuchtenden Augen spricht, gab ihm die Kraft. Er wurde Feinmechaniker, arbeitete mit computergesteuerten Zerspanungsmaschinen, wurde EDV-Experte. So gern würde er noch etwas mit diesem beruflichen Wissen anfangen. Sein Talent in strukturellem Problemlösen einbringen. Er kann es, da ist er selbstbewusst. Aber er ist 67. Wenn er über die Arbeit spricht, kommen die Worte fließend aus ihm heraus. Geht es um sein Trauma, kommt er immer wieder ins Stottern.

Er sagt: "Ich habe meiner Rosi vor ihrem Tod vor knapp acht Jahren hoch und heilig versprochen, dass ich mich nicht umbringe. Aber es ist für mich sehr schwer, alle diese Alpträume, Panikattacken, Flashbacks und Depressionen zu ertragen. Ich bin kaum in der Lage, alleine einkaufen zu gehen. Ich habe eine Begleiterin, die mir hilft." Eine "komplexe posttraumatische Belastungsstörung" wurde ärztlich festgestellt. Und ein Schwerbehinderungsgrad von 90 Prozent amtlich anerkannt.

In den Jahren 2012 bis 2018 wurden an rund 40.000 von der Heimerziehung Betroffene Entschädigungen in Höhe von 485 Millionen Euro geleistet. Auch Scheuch hat einige Tausend Euro bekommen. Aber die Betroffenen konnten das Geld nicht etwa zurücklegen, sondern bekamen es nur gegen Quittungen erstattet, wenn sie Ausgaben vorgelegt hatten. Er habe dafür etwa eine Weiterbildung, einen Computer oder etwas für die Wohnung bezahlt. Eine Opferrente hat Scheuch jedenfalls bisher nicht zugesprochen bekommen.

Für ihn sei klar, dass er bis zu seinem Tod mit den Folgen der Qualen leben muss. Dass es eben nicht "nur" die sieben Jahre Martyrium waren, sondern ein ganzes Leben, das dadurch geprägt wurde. "Das Schlimmste ist, wenn die Alpträume so arg sind, dass ich mich unter der Decke verkrieche und mich frage, wann dieser Horror endlich vorbei ist. Und abends habe ich dann große Angst, einzuschlafen. Wegen der Alpträume."

Dann schiebt er noch leise hinterher: "Ich möchte gerne wieder eine Katze haben. Als seelische Hilfe. Aber aktuell kann ich mir das finanziell nicht leisten."

Unterstützen Sie uns bei Steady!