Erich Scheuch geriet im Alter von fünf Jahren in die Fänge einer brutalen Erzieherin. Erst nach sieben Jahren Prügel und Demütigung wurde er erlöst. Doch das Leid verfolgt den 67-Jährigen noch heute Tag und Nacht. Peter Kurz sprach für den hpd mit dem Missbrauchsopfer.
Es gibt da diesen Moment in dem knapp dreistündigen Gespräch mit Erich Scheuch, der sehr viel über ihn sagt. Der 67-jährige Mann aus St. Augustin bricht in Tränen aus, als er erzählt, wie er die kleinen Menschen in der benachbarten Kindertagesstätte beneidet, wenn er sie spielen sieht. "Dass ich so etwas nicht erleben durfte", sagt er mit erstickter Stimme. Aber Scheuchs Tränen gelten nicht etwa dem eigenen Leid, eine solche Kindheit nie gehabt zu haben. Sondern er dreht es gegen sich selbst: "Wie mies ich doch bin, dass ich neidisch auf kleine Kinder bin."
Als er klein war, durfte Erich Scheuch nicht mit anderen Kindern spielen. Seine Kindheit ist eine Horrorgeschichte, die ihn bis heute in Alpträumen verfolgt und sein ganzes Leben prägte. Eine Kindheit, die für ihn knapp acht Jahre lang von brutaler Misshandlung und Demütigung beherrscht war. Durch eine Frau, die er nur "das Monster" nennt. Eine Erzieherin in einem Kinderheim in Köln Sülz. Ein Heim, das zeitweise rund 1.000 Kinder, zumeist Waisen, beherbergte. Wo es einst stand, ist heute längst eine Neubausiedlung.
Es war ein städtisches Heim. Darauf hinzuweisen, ist Scheuch wichtig. Dass tausendfacher Missbrauch und Vergewaltigung eben nicht nur in kirchlichen Einrichtungen passierte, sondern auch dort, wo es die Strukturen in anderen Institutionen erlaubten. Obwohl auch in seinem Fall ein Geistlicher eine diabolische Rolle spielte. Scheuchs Fall ist einer von zahllosen, in denen Machtstrukturen und Sadismus auf Opfer trafen, die keine Fürsprecher, keine Beschützer hatten. Weil niemand hinschaute, weil viele wegschauten.
Als Scheuch fünf Jahre alt war, wurde seinen kriminellen und alkoholsüchtigen Eltern das Sorgerecht für ihn und seine beiden Schwestern entzogen. War die Kindheit bis dahin schon alles andere als behütet, so wurde sie danach vollends zum Alptraum. Es begann bereits in seiner ersten Woche, als die damals etwa 40 Jahre alte Erzieherin über den auf dem Boden sitzenden Neuankömmling gestolpert war. Zur Strafe habe sie ihn mit dem Kopf gegen den Heizkörper gestoßen und danach noch mehrfach geohrfeigt. "Ab dann fing die jahrelange Prügelorgie an, sie hatte offenbar im wahrsten Sinne des Wortes Blut geleckt", sagt Scheuch. "Sie schlug mich mit Holzlatschen, Bügeln, Handfegern oder Ästen. Wenn ich mal zwei Tage nicht verprügelt wurde, hat sie es am dritten Tag nachgeholt. Jeden Morgen, wenn ich mich wasche und rasiere, erinnern mich die Narben an das Monster", erzählt Scheuch.
Neben dem Prügeln waren Demütigungen an der Tagesordnung. Der kleine Erich verabscheute Käse, ließ ein Stück am Tisch verschwinden, versteckte es hinter einer Fliese im Badezimmer. Dort entdeckte es die Erzieherin Wochen später und zwang ihn, das vergammelte Stück zu schlucken. "Nicht selten musste ich nachts vor dem Schlafzimmer des Monsters auf dem Boden schlafen. Mal auf einer Matratze. Mal ohne, nur auf einem Laken. Wenn sie in der Nacht auf die Toilette musste, hat sie nach mir getreten. Wobei der Kopf ihr Lieblingsziel war." Oft ließ sie den Jungen so lange nicht auf die Toilette, bis er sich einnässte. "Ihr schäbiges Lachen und die Fratze kann ich bis heute nicht vergessen", sagt er.
Wenn es mal hitzefrei gab in der Schule, konnte sich der Junge nicht darüber freuen. Bedeutete das doch, aus dem für ihn sicheren Klassenzimmer wieder zurück zu müssen. Selbst in der großen Pause, in der die anderen auf dem Hof spielten, wurde er zurückbeordert in die Wohngruppe, um die Bäder zu putzen.
Ein Segen sei es gewesen, einige Wochen mit Mumps im Krankenbett zu liegen. Krank – aber in Sicherheit.
Dass die Frau so frei schalten und walten konnte, erklärt sich Scheuch damit, dass sie wohl einen großen Einfluss in der Einrichtung hatte. Er erzählt davon, dass sie ein Verhältnis mit dem Priester gehabt habe, der den Kindern in der an die Einrichtung angegliederten Kirche die Beichte abgenommen habe. "Manchmal teilte sie dem Priester schon vor meiner Beichte all das mit, was ich zu beichten hätte. Und wehe, ich hatte was vergessen oder nicht so genau gesagt, wie sie es mir vorher eingetrichtert hatte. Dann kam er aus dem Beichtstuhl heraus und ohrfeigte mich so lange, bis der genaue Wortlaut zu 100 Prozent übereinstimmte."
Doch wie kann all dies sein, warum ertrug Scheuch die Qualen? "Ich war sicher, mir glaubt ja doch keiner. Und ich habe damals wohl auch gedacht, ich sei ein schlechter Mensch und hätte all das verdient."
Und was denkt er über die Motive der Peinigerin? Neben dem offensichtlichen Sadismus habe sie wohl auch selbst daran geglaubt, eine Mission zu haben, erklärt sich Scheuch das heute. Seine ältere Schwester habe ihm einmal erzählt, dass die Erzieherin gesagt habe: "Ich hasse diesen Bastard. Die Eltern kriminell und Alkoholiker. Der Apfel fällt nicht weit vom Baum. Am besten sollte man ihn ersäufen, dann wird er in Zukunft dem Steuerzahler nicht mehr auf der Tasche liegen."
"Das Monster" ist längst gestorben, er hat die Frau freilich noch einmal wieder getroffen, da war er 16 Jahre alt. "Ich saß in der Straßenbahn, sie kam auf mich zu, tippte mir auf die Schulter und tat ganz unschuldig: Wie geht es dir? Mit einem überlegenen Grinsen. Ich bin nur aufgestanden, habe ihr gesagt: Wenn du nicht bei der nächsten Station aussteigst, bringe ich dich um. Ich zitterte am ganzen Leib. Sie stieg dann tatsächlich aus."
Nach sieben Jahren Martyrium, da war er zwölf Jahre alt, wurde Erich aus der Gruppe herausgenommen. Offenbar war der Heimleitung denn doch klar geworden, dass die Frau den Kleinen eines Tages umbringen würde, wenn nichts geschieht.
Dass er sein späteres Leben halbwegs meistern konnte, habe er einem "Engel ohne Flügel" zu verdanken. Seine Frau Rosi, von der er mit leuchtenden Augen spricht, gab ihm die Kraft. Er wurde Feinmechaniker, arbeitete mit computergesteuerten Zerspanungsmaschinen, wurde EDV-Experte. So gern würde er noch etwas mit diesem beruflichen Wissen anfangen. Sein Talent in strukturellem Problemlösen einbringen. Er kann es, da ist er selbstbewusst. Aber er ist 67. Wenn er über die Arbeit spricht, kommen die Worte fließend aus ihm heraus. Geht es um sein Trauma, kommt er immer wieder ins Stottern.
Er sagt: "Ich habe meiner Rosi vor ihrem Tod vor knapp acht Jahren hoch und heilig versprochen, dass ich mich nicht umbringe. Aber es ist für mich sehr schwer, alle diese Alpträume, Panikattacken, Flashbacks und Depressionen zu ertragen. Ich bin kaum in der Lage, alleine einkaufen zu gehen. Ich habe eine Begleiterin, die mir hilft." Eine "komplexe posttraumatische Belastungsstörung" wurde ärztlich festgestellt. Und ein Schwerbehinderungsgrad von 90 Prozent amtlich anerkannt.
In den Jahren 2012 bis 2018 wurden an rund 40.000 von der Heimerziehung Betroffene Entschädigungen in Höhe von 485 Millionen Euro geleistet. Auch Scheuch hat einige Tausend Euro bekommen. Aber die Betroffenen konnten das Geld nicht etwa zurücklegen, sondern bekamen es nur gegen Quittungen erstattet, wenn sie Ausgaben vorgelegt hatten. Er habe dafür etwa eine Weiterbildung, einen Computer oder etwas für die Wohnung bezahlt. Eine Opferrente hat Scheuch jedenfalls bisher nicht zugesprochen bekommen.
Für ihn sei klar, dass er bis zu seinem Tod mit den Folgen der Qualen leben muss. Dass es eben nicht "nur" die sieben Jahre Martyrium waren, sondern ein ganzes Leben, das dadurch geprägt wurde. "Das Schlimmste ist, wenn die Alpträume so arg sind, dass ich mich unter der Decke verkrieche und mich frage, wann dieser Horror endlich vorbei ist. Und abends habe ich dann große Angst, einzuschlafen. Wegen der Alpträume."
Dann schiebt er noch leise hinterher: "Ich möchte gerne wieder eine Katze haben. Als seelische Hilfe. Aber aktuell kann ich mir das finanziell nicht leisten."
7 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Es ist schrecklich zu sehen, was geistig gestörte Menschen Kindern antun können, nur um ihre eigene Macht an den Kindern ausleben zu können.
christlichen Menschen, die in klerikalen Einrichtungen tätig sind zum tragen kommt.
Das “Monster" in diesem Fall hat die "Seele" eines jungen Menschen zerstört, so wie es tausendfach von Männern der Kirche geschehen ist.
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Können wir nicht gemeinsam dem Mann zu einer Katze verhelfen? Eine Katze kostet höchstens 50 Euro pro Monat mit Katzenstreu inklusive. Es warten so viele in Heimen. Ich beteilige mich mit 5 Euro an solange er lebt.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ich mache mit, obwohl ich nur eine kleine Rente bekomme und meine Bücher kaum Nachfrage haben.
5 Euro machen mich nicht ärmer.
Erich Scheuch am Permanenter Link
Hallo Frau Wedekind,
vielen lieben Dank für Ihren Vorschlag.
Wenn es sich nur um 50 Euro pro Monat handelt, wäre dies nicht das Problem.
Ein Grund, warum gerade in den letzten Jahren bei Katzen die Krankheit einer Schilddrüsenüberfunktion auftreten.
Seit 1980 hatten Rosi und ich immer Katzen aus dem Tierheim. Und immer genau darauf geachtet, nur Fleisch aus unserer Lokalen Metzgerei zu geben. Hört sich zwar versnobt an. Aber Tiere sollten das fressen, was der Natur entspricht. Katzen haben bei uns immer mehr Fleisch verzehrt als wir selber. Auch wenn wir manchmal auf einiges verzichten mussten. Denn fühlen sich die Tiere gut, dann geht es auch den Menschen gut.
Trotzdem noch mal vielen lieben Dank. Habe gestern und heute neue Projektanfragen bekommen. Sollte das zum Erfolg führen, dann werde ich auf jeden Fall wieder eine kleine Tiger/in versorgen können. Und sollte das ein längeres Projekt werden, dann werde ich sogar für die/der Tiger/in eine Spielkamerad/in sorgen. Damit wenn ich arbeite eine nicht alleine ist. Darum drückt mir die Daumen, dass ich trotz meiner 67 Jahre eine Arbeit finden kann. Ich liebe meinen Beruf. Und man kann den auch noch mit 80 Jahren ausführen. Außerdem ist Arbeit für mich eine zusätzliche Therapie. Wenn andere mit 80 Jahren Präsident der USA werden möchten, dann schaffe ich das in meinen Beruf locker.
bluewhitedotinthesky am Permanenter Link
Gibt es keinen Opferanwalt, der ihm verhilft, die ihm zustehende Opferrente und Geldzahlung zu erhalten. Er wurde da zum zweiten Mal Opfer jener TäterInnen, die mit Schikanen die zustehenden Auszahlungen verhindern.
Erich Scheuch am Permanenter Link
Ich habe heute mit einer Kanzlei Kontakt aufnehmen können. Die bearbeiten speziell Opferansprüche.
Ich werde darüber schildern, was daraus geworden ist. Wenn die Kanzlei das auch erlaubt.
Es geht auch nicht nur um Geld. Auch das Opfer zeitnah Hilfe wie Therapien und Betreuungen bekommen. Besonders dauerhaft. Denn wenn man Geld für Therapien und andere Behandlungen bei Tätern verschwendet, sollte das Geld für Opfer weit sinnvoller ausgeben werden. Und was sehr wichtig ist, dass Opfer nicht mehrere Monate auf staatliche Hilfe warten müssen. Oder andauernd, die Ausrede sich anhören müssen. Dafür haben wir keine Geld. Oder das Gesetz erlaubt nicht so was zu finanzieren.
Survivor am Permanenter Link
Sie können stolz darauf sein, daß Sie trotz dieses Schicksals soviel geschafft haben. Das ist mir selber leider nicht gelungen (bei mir fand der Terror nicht im Heim, sondern im religiösen Elternhaus statt).