hpd: Daniel Dennett hat einmal gesagt, dass die Menschen an die Religion glauben, nicht an die Theologie, und dass der Gottesdienst nur die Funktion der Gemeinschaftsbindung hat und es die meisten Gottesdienstbesucher inhaltlich nicht sehr interessiert, was der Priester da erzählt.
Streminger: Sie meinen also, dass die Menschen gesellige Wesen sind und die Kirchen dieses Bedürfnis weitaus besser bedienen als andere Organisationen? Dass es also gar nicht so sehr um die Inhalte geht, sondern um das Zusammensein, noch dazu mit Gleichgesinnten?
hpd: Religion ist meiner Ansicht nach die größte gemeinschaftsstiftende Gemeinsamkeit, die alle anderen Gegensätze in der Gesellschaft zweitrangig werden lassen, wenn nicht gar – in der Abgrenzung nach außen - nivellieren. Egal, ob ich Mann oder Frau bin, solange wir Christen sind, sind wir alle gut. Egal ob arm oder reich, egal klug oder dumm, egal ob faul oder fleißig, solange man Christ ist, ist das als Gruppendefinition erst einmal in Ordnung, weil man ein überdachendes Kriterium hat, was einen gegen andere Großgruppen, seien es Muslime oder Evangelische oder Katholiken oder Reformierte, positiv abgrenzt. Diese Überdachung muss als Definition gepflegt werden, man muss sich also regelmäßig treffen, um sich darin gegenseitig zu bestärken. Das daraus entstehende religiöse Wir-Gefühl ist dann wichtiger, als das von Teilgruppen, da es gebraucht wird, um alle anderen Gegensätze abzuschwächen. Und diese Fähigkeit, ein- und auszugrenzen, das ist die Kraft der Religionen für Gemeinschaften.
Streminger: Dieses Bedürfnis nach Gemeinschaft und Geselligkeit wird sicherlich auch deshalb von den Kirchen so gut abgedeckt, weil Alternativen fast gänzlich fehlen. Und sind es nicht die Kirchen, dann sind es die Fußballvereine, die auch – allerdings auf noch niedrigerem Niveau – die gesellschaftlichen Unterschiede bei ihren Anhängern nivellieren und zugleich diese gegen andere abgrenzen, also ein echtes Wir-Gefühl schaffen.
hpd: Im Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten hat einmal jemand gesagt: „Wenn wir erfolgreich sein wollen, dann müssten wir ja werden wir die Kirchen. Das bitteschön wollen wir doch aber nicht.“ Ist es der Zwang, sich wie die Kirchen zu verhalten? Welche Organisationsformen könnten Säkulare oder Naturalisten haben, um diesen Gemeinschaftssinn, wenn er denn das tragende Element ist, als Rituale des gemeinsamen Treffens zu bedienen? Muss man Häuser bauen, muss man Prediger haben oder kommen wir ohne das aus?
Streminger: Wir sollten Bibliotheken mit großen Cafes bauen und, im Gegensatz zu den Kirchen, diese großzügig mit Toiletten ausstatten. Gemeinsame Treffen sind wichtig, weil die meisten es schätzen, sich gelegentlich mit Gleichgesinnten auszutauschen und auf diese Weise zu erleben, dass man doch kein Einzelkämpfer ist. Aber Prediger braucht man auf keinen Fall, will man das Ideal der Vernunft nicht aufgeben, immer wieder selbst bestimmt nach den besten Gründen zu suchen. Will man Aufklärer bleiben, dann darf man das eigene Suchen keinesfalls beenden. Andere können wichtige Anregungen geben, selbstverständlich, aber dass uns jemand predigt, was zu tun sei? Undenkbar! ....
hpd: Aber das ist doch nicht Gemeinschaft stiftend!
Streminger: Nun ja, da haben die Humanisten durchaus ein Problem, weil das Gewicht ja auf dem Individuum liegt und die individuelle Entscheidung grundsätzlich respektiert wird. Der Humanismus hat nun einmal große Achtung vor dem Subjekt, dem Menschen, natürlich auch dem gläubigen, aber der Humanismus hat wenig Achtung vor Überzeugungen. In diesem Sinn ist die Situation unter Humanisten zwar schwieriger, aber auch befreiender. Denn wenn man dann mit humanistisch Gesinnten zusammen kommt, dann weiß man, dass auch diese dahinter stehen und gute Gründe dafür haben, hier zu sein. Man wird nicht einfach in den Humanismus hineingeboren, sondern man wählt diese Lebensform.
hpd: Aber gibt es nicht auch eine Arbeitsteilung, dass der normale Mensch sagt, mit Arbeit, Beruf und Familie habe ich genügend zu tun, den ganzen Bereich von Moral und Richtlinien gebe ich lieber an eine Organisation ab, die dafür kompetent zu sein scheint, weil die anderen das auch so meinen? Es ist dann keine Frage der Faulheit oder „Religion ist für die Doofen“, sondern das Ergebnis einer Arbeitsteilung, bei der die Moralapostel eben auch ihre Arbeit tun und sich um diese Fragen kümmern.
Streminger: Welche Fragen?
hpd: Was ist gut? Nach welchen Regeln sollen wir leben? Sie werden erleben, wenn sie einen Christen fragen, woher denn für ihn die Regeln der Moral her kommen, dann wird er häufig sagen: „Die Zehn Gebote“. Wenn Sie ihn dann bitten, diese Zehn Gebote zu sagen, wird er es nicht können. Nichts! Viele kennen sie überhaupt nicht, stammeln bereits am ersten sehr herum, tragen das Ganze aber wie eine Monstranz vor sich her. Deshalb habe ich den Eindruck, dass die meisten religiösen Menschen, das, was sie selber für gut befinden, auf die Kirche projizieren ohne sich darum zu bekümmern, ob es denn überhaupt mit dem übereinstimmt, was die Kirchen lehren.
Streminger: Ja, doch, genau so ist es wohl, aber das finde ich als Einstellung durchaus negativ. Dass man gerade diese fundamentalen Fragen: Was ist gut? Was ist der Mensch? Was soll ich tun? von sich schiebt, an eine vermeintliche externe Autorität delegiert, das ist doch ein Grundübel. Man muss sich darum schon selbst bemühen, immer wieder. Ich weiß nicht mehr, wer das Folgende gesagt hat, vielleicht war es Heinrich Heine: ‚Wenn Du zwei Hosen hast, dann verkaufe eine und kaufe Dir ein Buch.’ Ich mag Menschen, die sich mit dem, was sie vorfinden, nicht einfach zufrieden geben, sondern es genauer wissen wollen. Aber, da gebe ich Ihnen natürlich Recht, durch die Arbeitsteilung ist es heutzutage sehr schwierig geworden, neben der Arbeit auch noch Zeit für philosophische Fragen zu finden.
Das hat übrigens schon Adam Smith gesehen. Auf der einen Seite, so meinte er, bringt die Arbeitsteilung ökonomisch sehr viele Vorteile, aber zugleich lässt sie Menschen verdummen. Deren Geist reduziert sich nämlich auf einige wenige Handgriffe, und deshalb stellt Smith in seinem Wealth of Nations die Forderung auf, dass der Staat (!) durch gute öffentliche Schulen und Aufklärung, durch Bildung also, diesem negativen Effekt entgegentreten müsse.