SARAJEVO. (hpd) Die Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs haben Sarajevo viel internationale Aufmerksamkeit gebracht. Und zahlreiche Touristen. Wie die Menschen in der Stadt leben und wie sie sie sehen, bleibt weitgehend unbeleuchtet. Eine Reportage von Max Bitter.
Wo soll man beginnen, wenn man von Sarajevo erzählt? Beim Trubel in der Baščaršija, der Altstadt? Bei der Britin Juliet, die sich vor fünf Jahren in die Stadt verliebt hat und mit zwei bis drei Jobs versucht, sich über Wasser zu halten? Bei Marko und Jelena, die in den nächsten Wochen emigrieren werden?
Vielleicht erzählt man am besten vom Alltag. Das Schuljahr hat vergangene Woche begonnen, auch in Bosnien. Der Buchladen Buybook, vermutlich der bekannteste in Sarajevo, hat draußen einen Stand für die Eltern eingerichtet, die die Schulbücher ihrer Kinder abholen. Gegen Bares. “Hier gibt es nichts gratis”, schildert der Psychologe und Psychotherapeut Marko mit einem Ton von Verbitterung.
Ein Markt für gebrauchte Schulbücher
Vielleicht erzählt man auch von den Dingen, die nur mehr einem Außenstehenden auffallen. Von Menschen wie Sanela und Sabahudin. Zu Schulbeginn leben sie davon, auf ihrem Markstand gebrauchte Schulbücher zu verkaufen. Sie sind nicht die einzigen. “Wir machen das seit 25 Jahren”, sagt Sanela.
Zwei Stände weiter stehen Vahid und Fadil und tun das gleiche. “Ich habe im Krieg meine Arbeit verloren und seitdem nichts mehr gefunden”, schildert Vahid. “Was soll ich sonst tun” Einen Stand weiter wirkt ein Schulbuchkarton, als sei er frisch vom Lastwagen gefallen.
Stände wie diese finden sich an den Märkten am Rande des Stadtzentrums. Zum Beispiel hier unter einer halb fertig gebauten Autobahnbrücke, deren fertiger Teil als Parkplatz dient. Oder am Ufer der Miljacka, des Flusses, der das Tal geschaffen hat, in dem Sarajevo heute steht. Mindestens 20 Stände mit gebrauchten Schulbüchern zähle ich allein auf zwei Märkten.
350 Euro sind nicht mal hier viel
Majda, meine Gastgeberin, wundert sich, dass mir das aufgefallen ist. Und warum ich mir Gedanken darüber mache. “Neue Schulbücher kosten 16 oder 20 Mark (umgerechnet acht bis zehn Euro, Anm.). Das können sich viele Eltern nicht leisten. Gebraucht bekommt man sie um drei oder vier Mark.” Nur, was man nicht auf diesen Ständen findet, wird neu gekauft.
Wundern darf einen das nicht. Das Durchschnittsgehalt in Bosnien liegt bei etwa 350 Euro. Das ist nicht mal hier viel, wo ein Kaffee selten mehr als einen Euro kostet. “Die Preise im Supermarkt sind gleich wie in Deutschland”, erzählt Meliha. Sie betreibt gemeinsam mit Zlatan das Cafe Valcer (Sprich: Walzer). Ihr Hund Faca begrüßt die Gäste ausnehmend freundlich. “Wenn meine Tante aus Deutschland auf Besuch kommt, kauft sie für ihr Baby immer genügend Babynahrung zuhause ein, weil es hier teurer ist.”
Die Koffer sind gepackt
Meliha vermisst Deutschland. Der Krieg hat die zierliche Frau als Kind nach Duisburg verschlagen. “Als es vorbei war, mussten wir das Land verlassen und heimkehren”, erzählt sie in nahezu akzentfreiem Deutsch. “Ein Freund von mir ist erst vor wenigen Tagen mit Frau und Kind nach Deutschland gezogen, um ein besseres Leben zu suchen”, sagt sie. Es klingt, als hätte er einen Traum wahr gemacht, den auch sie manchmal hat.
Marko und Jelena zieht es nach Wien. Fix. “Wir suchen schon eine Wohnung”, schildert Marko. Als Psychologe findet er in Bosnien keine Arbeit. Auch er spricht fließend Deutsch. “Was soll ich sonst tun? Ich kann nicht ewig warten.” Seine Abschlüsse hat er nostrifizieren lassen. “Das ist schnell gegangen. Es hat vielleicht einen Monat gedauert.”
Offizielle Arbeitslosenrate: 40 Prozent
Offiziell liegt die Arbeitslosigenrate in Bosnien um die 40 Prozent. Bei Jugendlichen sind es laut CIA World Factbook sogar 66 Prozent. Die höchste Jugendarbeitslosigkeit der Welt.
Einer der betroffenen Unter–25-Jährigen ist Anes. Das deutsche Goethe-Institut hält diesen Freitagnachmittag für Menschen wie ihn offen. Die Inskriptionsfrist für einen dreimonatigen Deutschkurs endet heute. Auch nach dem offiziellen Büroschluss um 14 Uhr stehen vorwiegend junge Menschen Schlange an den Schaltern.
“Ich habe gerade die Designschule fertig gemacht”, erzählt Anes. Einen Arbeitsplatz hat ihm das nicht eingebracht. Er will sich selbstständig machen. “Jetzt will ich Deutsch lernen, damit ich auch Aufträge aus Österreich und Deutschland annehmen kann”. Und vielleicht, eines Tages, auch auswandern. “Wir werden sehen.”
Das Hochwasser hat es schlimmer gemacht
Auch wer Arbeit hat, hat es nicht unbedingt einfacher. “Ich kenne Menschen, die machen Überstunden wie verrückt und verdienen trotzdem nur 150 Euro im Monat”, schildert Majda. “Ich frage mich, wie Menschen davon leben können, vor allem, wenn sie Kinder haben.” Die Künstlerin ist eine kritische Beobachterin der Lage in ihrer Heimat.
Ähnlich sieht es die Anglistik-Studentin Selma. Am Land sei es teilweise etwas einfacher. “Dort haben viele Menschen ein kleines Feld oder einen Garten, damit sie wenigstens einen Teil der Nahrung selbst anbauen können.” Vor allem für Pensionistinnen und Pensionisten oft die einzige Möglichkeit über die Runden zu kommen. Das Hochwasser im Frühjahr hat vielen auch diese Möglichkeit genommen. “Die Gärten und Felder sind zerstört”, schildert Selma. “Die Betroffenen müssen diese Nahrung jetzt selbst kaufen und das können sie sich nicht leisten.”
Wie sich die Politik selbst lähmt
Politisch werden diese Probleme nicht gelöst. Die politischen Institutionen Bosniens lähmen einander. Allein für das Leben der Menschen in Sarajevo sind im Zweifelsfall bis zu sechs Verwaltungsebenen zuständig: Der Gemeinderat, die Bezirksverwaltung, die Kantonsregierung, die Regierung des Teilstaats Bosnjakisch-Kroatische Förderation, im Ostteil die Republika Srpska, und die Bundesregierung.
Über all dem schwebt die UN-Kuratel, unter die Bosnien seit dem Bürgerkrieg gestellt ist. Die UN hat ihren obersten Aufseher, den Hochkommissar, mit quasi diktatorischen Vollmachten ausgestattet. Der Amtsinhaber, momentan der Österreicher Valentin Inzko, kann demokratisch gewählte Vertreter absetzen und zur Not im Alleingang Gesetze erlassen.
Das mag für ein gewisses Gleichgewicht zwischen der Bosnjakisch-Kroatischen Förderation und der Republika Srpska gesorgt haben. Das Gefühl der bosnischen Volksvertreterinnen- und vertreter, Verantwortung für das Land zu tragen, hat es in den Augen vieler Kritiker nicht gefördert. Die Selbstlähmung des Staates Bosnien-Herzegowina hat es ebenfalls nicht beendet.
Für Tourismus und Sakralbauten ist Geld da
Fördermittel und Steuern versickern in diesem Behördendickicht. Nur bei touristisch attraktiven und religiösen Gebäuden scheint es mit den Fördermitteln zu klappen. Die Baščaršija ist herausgeputzt wie wenige Innenstädte Europas. Die Minarette Sarajevos erstrahlen im Glanz des frisch Renovierten. Wie bemerkenswerterweise auch in der Republika Srpska. Wo freilich die orthodoxen Kirchen in der Mehrzahl sind. In der Regel frisch renoviert, versteht sich. Dazwischen verwittern zerschossene Häuser in Dörfern, bei denen niemand mehr weiß, wer hier wen ethnisch gesäubert hat.
Wegen Budgetstreitereien sind etwa das Nationalmuseum und das Historische Museum in Sarajevo gesperrt und wittern vor sich hin. Und eine Beamtin einer Bezirksverwaltung, die ich auf der Reise treffe, kann nicht zu einer internationalen Konferenz in Bratislava und Wien fliegen. Die Behörde kann sich nur das Busticket leisten.