Intelligent Design 2.0 - Teil 3

Biologische Vorteile der Religionen?

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Die Erschaffung Adams (Michelangelo) (Ausschnitt)
Die Erschaffung Adams (Michelangelo) (Ausschnitt)

RONNENBERG. (hpd) Der deutsche Wissenschaftsrat stellte in einem Gutachten fest, dass einige Religionswissenschaftler ihr Fachgebiet als eine Hilfswissenschaft der Theologie ansehen [Wissenschaftsrat 2010]. Denn viele Vertreter der Religionen haben nie aufgehört gegen Wissenschaft und Evolutionstheorie zu Felde zu ziehen. Sie kämpfen heute nur mit anderen Bandagen, nutzen den seriösen Ruf der Wissenschaften selber, um ihre Überzeugungen als Forschungserkenntnisse getarnt unter das Volk zu bringen.

Neuester Schrei der religiös begründeten Beweisführung des Intelligent Designs 2.0 ist die Empirie, aus der nun – einem Wunder gleich – Kausalzusammenhänge abgeleitet werden. Religionen bieten angeblich biologische Vorteile für Gemeinden!

Vorteile stabiler Gemeinden?

Studien aus den U.S.A. belegen, dass religiöse Gruppen im Durchschnitt länger bestehen als nicht religiöse Zusammenschlüsse [Sosis 2003]. Aber ist die Langlebigkeit und Stabilität von Gruppen auch ein biologischer oder kultureller Vorteil, wie christliche Religionswissenschaftler suggerieren?

Bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, sind die Männchen dazu verurteilt, ihr ganzes Leben in der selben Männergruppe zu verbringen, da sie sonst von ihren Nachbarn getötet würden. Es ist eine der größten evolutiven Errungenschaften auf dem Weg zur Menschwerdung, dass auch nicht-verwandte männliche Mitglieder der Spezies Homo sapiens miteinander kooperieren können.

Psychologische Studien zeigen zudem, dass Kooperationen effektiver und effizienter sind, wenn die Partner frei gewählt werden können [Rand 2011]. Häufige Gruppen- und Arbeitsplatzwechsel ermöglichen den höchsten Grad von Vernetzung, Effektivität und Effizienz in unserer modernen Gesellschaft. Vorteile haben also diejenigen, die häufiger ihre Arbeitsstätten und Bezugsgruppen wechseln, und nicht die, die seid Jahrhunderten nur mit Ihresgleichen verkehren. Stellen wir uns einmal den Nahen Osten vor, wenn die religiös tradierte Apartheid fallen würde und die Menschen einen gemeinsamen Staat mit einer gemeinsamen Zukunft bilden könnten.

Trotzdem propagieren gerade christliche Religionswissenschaftler, dass religiöse Gemeinden biologische Vorteile für die Gläubigen beinhalten oder darstellen würden [Blume 2009]. Aber ist es wirklich immer ein Vorteil ein Mitglied in einer christlichen Gemeinde zu sein? Kirchenbücher legen durch ihre Geburten-, Heirats- und Sterbestatistiken über mehrere Generationen hinweg Zeugnis ab. Studien an Kirchengemeinden in Finnland belegen, dass sich auch innerhalb der Gemeinden nur bestimmte Individuen stärker vermehren und damit andere Christen biologisch verdrängen [Courtiol 2012]. Innerhalb der Gemeinden herrscht folglich ein gnadenloser Wettkampf, den nur die reproduktiv gewinnen, die die Vorteile einer Gemeinde am effektivsten für ihre eigenen Egoismen ausnutzen können. Christlich sein heißt: die anderen auf den Himmel zu vertrösten.

Gerne angeführt wird auch die Selbstlosigkeit einzelner, die diese christlichen Gruppen zu etwas Besonderem macht [Fischer 2007]. Opfern sich Priester kinderlos für die Gemeinde, so soll der Zölibat ein evolutiver Vorteil sein. Opfern sich nicht-religiöse Zeitgenossen für die Gesellschaft auf, zahlen Steuern und Kindergeld für Christen und Zölibatäre, so sei dies pure Egozentrik solange sie selber keine Kinder haben. Warum messen manche Religionswissenschaftler hier mit zweierlei Maß?

Reproduktionsvorteile von Gemeinden?

"Die 'Wunder des Theismus' und die 'Wunder des Zeugens' sind also auf einer empirisch beobachtbaren Weise miteinander verbunden.", schwärmen Religionswissenschaftler über ihr eingefordertes Forschungsfeld [Blume 2014]. Sind "die Religiösen" wirklich reproduktiv erfolgreicher, wie man immer wieder zu hören bekommt? Sehen wir uns die Datenlage an:

  • Die meisten internationalen Studien haben die Religionszugehörigkeit erfasst. Da Religiosität und Religionszugehörigkeit in den meisten Ländern der Erde nicht unterschieden und Religionslosigkeit sanktioniert wird, sind dieser Arbeiten wissenschaftlich gesehen wertlos.
  • Normal-religiöse Menschen haben in Europa im Durchschnitt etwas weniger Kinder als ihre nicht-religiösen Mitmenschen, wenn man sich die Daten der ALLBUS-Studie ansieht [Blume 2006]. Es sind nur einige wenige hoch-religiöse Menschen, die überdurchschnittlich viele Kinder gut heißen und die Statistik zu Gunsten “der” Religiösen verzerren.
  • Es gibt Gemeinden, wie die Amish oder Haredim, die in den U.S.A. und Israel extrem hohe Geburtenraten aufweisen. In Mittelamerika und in Paraguay sind die Amish jedoch ausgestorben und die Haredim zeigen in Osteuropa nicht dasselbe Verhalten wie in Israel. Identische Glaubensinhalte und Lebensideale können sich demnach extrem unterschiedlich auswirken.
  • Auch gibt es einzelne Amish, die in den U.S.A. aus ihren Gemeinden austreten und keine Kinder haben. Die sich also bei identischem kulturellen Umfeld und Erziehung, bei identischem Glauben und Religiosität, als auch bei identischer familiärer Abstammung – fast identischen Genen – vollkommen anders verhalten.
  • Zudem bestätigt die Empirie, dass es Sekten gibt, wie die Shaker oder Essener, die fast gar keine Kinder haben und sich wieder auflösen bzw. schon ausgestorben sind.
  • Studien an christlichen Gemeinden in Finnland weisen zudem darauf hin, dass es einzelne Familien (Gen-Linien) gibt, die sich über Generationen hinweg mit erhöhten Nachwuchszahlen in den Gemeinden durchsetzen [Courtiol 2012]. In diesen Genlinien vermehren sich in jeder Generation einzelne kinderwillige Individuen, während ihre Geschwister zurückstecken. Solche Genlinien sind unabhängig vom materiellen Besitz und lassen auf erbliche Komponenten in der Vermehrungsaktivität schließen.
  • Und selbstverständlich gibt es auch atheistische Individuen, die gänzlich ohne jede Religiosität weit überdurchschnittliche Kinderzahlen aufweisen. Da in der Wissenschaft gilt, dass ein einziges Gegenbeispiel ausreicht, um eine Theorie oder Hypothese zu Fall zu bringen, ist die Sache damit eigentlich erledigt. Denn Gruppen sind Betrachtungsebenen, während Evolution – gemäß Evolutionstheorie – auf der Individualebene stattfindet.
  • Die Gesamtdatenlage ist zwar komplex, aber nicht so komplex, dass man nicht erkennen könnte, dass Fortpflanzung im Tierreich auch ohne Religiosität und Religion funktioniert. Wissenschaftlichkeit erfordert ja die Integration in bereits bestehende Erkenntnisse.

Christliche Religionswissenschaftler sagen hingegen, dass man gerade aufgrund dieser irreduziblen Komplexität keine einfachen linearen Kausalzusammenhänge annehmen dürfte. Und weil niemand verstehen kann, wie Religiosität in dieser Komplexität wirkt, heißt es dann mit Hilfe der Datenselektion kausal: “Religionen – und nur Religionen – vermögen Menschen in ausreichender Zahl zu einem Verzicht zu bewegen, den Familien mit mehr als zwei Kindern bedeuten.” [Blume, 2014].

Da Schimpansen offensichtlich keine Religion haben, bedeutet die Aussage dieser Religionswissenschaftler phylogenetisch interpretiert wohl, dass erst unserer gemeinsamen Vorfahren existierten, dann jemand die Religion implementiert haben muss, und dann erst der heutige Mensch entstehen konnte, der eine ausreichend hohe Kinderzahl zum Überleben realisierte?

Irreduzible Komplexität, eliminative Induktion, Daten- und Verfahrensselektion, angeborene Religiosität, die den Menschen erst zum Menschen evolvieren lässt, sowie erfolgreichere Glaubensinhalte, die uns von einem Designer offenbart wurden und daher reproduktive Vorteile bescheren: Willkommen in der akademischen Variante des Kreationismus: dem Intelligent Design 2.0!

Umgekehrt erscheint die Argumentation sinnvoller. In der Geschichte der Menschheit hat es bereits viele Religionen gegeben, von denen die meisten gescheitert sind, und wir sind die Nachfahren derer, die sich bisher erfolgreich fortgepflanzt haben. Fortpflanzen tun sich folglich nicht die Menschen mit der "richtigen" Religion, sondern die Menschen (Genlinien), die sich erfolgreich reproduzieren, bestimmen die Glaubensinhalte, die ihr erfolgreiches Verhalten auf Kosten anderer rechtfertigen. Daher bestimmen nicht Religionen die Fortpflanzung, sondern das lokal erfolgreiche Verhalten definiert die Glaubensinhalte und weltlichen Ideologien im öffentlichen Diskurs, die sich auch – aber nicht nur – in den Religionen niederschlagen können. Deshalb sind Glaubensinhalte lokal ja so mannigfaltig und rechtfertigen von Polygynie bis Polyandrie so ziemlich alles, was dem Überleben vor Ort nutzt. Wie schnell sich ein solcher Wechsel zu erfolgreicheren Ideologien vollziehen kann, war beim Mauerfall zu beobachten, als viele SED-ler sofort in die christlichen Parteien wechselten.