Intelligent Design 2.0 - Teil 5

Gruppenselektion für Auserwählte?

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Die Erschaffung Adams (Michelangelo) (Ausschnitt)
Die Erschaffung Adams (Michelangelo) (Ausschnitt)

RONNENBERG. (hpd) Religiöse Gemeinden sollen ihren Mitgliedern evolutiv mehr zu bieten haben als säkulare Gruppen. Die Selektion des Lebens greife an der Gruppe an und hier haben Mitglieder mit angeborener Religiosität Vorteile. So ist neuerdings wieder von der guten, alten Gruppenselektion die Rede.

In der Biologie konnte in den letzten 150 Jahren kein einziges Beispiel für eine Gruppenselektion gefunden werden und kein vernünftiger Biologe verschwendet seine Energie darauf, wenn er fünf Minuten sein Vordiplomwissen aktiviert. Dies hindert heutige Religionswissenschaftler nicht daran, diesen etwas veralteten Begriff neu zu beleben [Blume 2008] und religiöse Gemeinden als Paradebeispiele für Gruppenselektionen zu präsentieren. Haben Religiöse nicht mehr Kinder und ist dies nicht schon der Beweis, dass ihre Gemeinden der Selektion besser trotzen?

Gruppenselektion?

Was soll Gruppenselektion überhaupt sein? In der Gruppenselektion soll ein Selektionsfaktor an der Einheit Gruppe angreifen, so dass alle Individuen einzeln oder im Durchschnitt mehr Nachwuchs realisieren können als vergleichbare Nachbargruppen.

Kann es so eine Art der Selektion überhaupt geben? Selektion ist in der Biologie als die Wahrscheinlichkeit definiert, seine Gene in die nächste Generation zu bringen. In der Biologie wird von einer Individualselektion ausgegangen, bei der jedes Lebenwesen einzeln betroffen ist, sowie von einer Verwandtenselektion, bei der sich eng verwandte Gene über ihren Phänotyp helfen. Um einen neuen Begriff, wie den der Gruppenselektion, zu rechtfertigen, sollte sich diese Bezeichnung daher auf Gruppen von nicht-verwandten Individuen beziehen.

Zudem werden zwei Marker benötigt, um die Gruppen- von der Individualselektion zu unterscheiden. Einen, der die Gruppe definiert, sowie einen, der den biologischen Vorteil repräsentiert, der sich in einer höheren Wahrscheinlichkeit für überlebenden Nachwuchs auszeichnet. Um das Untersuchungsfeld etwas weiter zu fassen, nehmen wir als Beispiele für Marker eine Idee sowie ein Gen an. Folglich gibt es bei zwei Markern vier Kombinationsmöglichkeiten, in denen sie auftreten können: Gen/Gen, Gen/Idee, Idee/Gen sowie Idee/Idee.

Kann es nun eine Gruppenselektion laut Definition geben? Liegt die Kombination Idee/Idee vor, kann nicht von Selektion im biologischen Sinne gesprochen werden, da hier keine Gene in die nächste Generation transferiert werden. Biologen sprechen hier von Tradierung bzw. Detradierung. Liegt die Kombination Gen/Gen vor, so ist eine Verwandtenselektion gegeben, da sich Verwandtschaft über gemeinsame Gene definiert. Dies widerspricht jedoch der Grundannahme, dass sich der Begriff Gruppenselektion auf Gruppen von nicht-verwandten Individuen beziehen soll. In den Kombination Gen/Idee und Idee/Gen gilt gleiches. Folglich ist jede Gruppenselektion gleichzeitig eine Verwandtenselektion oder gar keine Selektion. Der Begriff ist somit in der Biologie überflüssig.

Noch deutlicher wird es, wenn über die Fortpflanzung in Gemeinden nachgedacht wird. Eine Gruppe ist meistens ein partiell offenes System, bei dem zur Inzuchtvermeidung Partner ein- und auswandern. Die angeblichen Vorteilsgene breiten sich mit dem Nachwuchs folglich auch in andere Gruppen aus, womit der vermeintliche Vorteil "der" einen Gemeinde ziemlich schnell dahin ist.

Lediglich einige Experten, wie der US-Amerikaner Edward O. Wilson, kokettieren mit ihrer Interpretation des Begriffes Gruppenselektion für ihre Haustiere, da die Individuen einiger Insektenarten sowohl sehr eng mit einander verwandt sind als auch extrem große Staaten bilden, die spezifische Gruppendynamiken zeigen.

Selektion in Gemeinden

Doch wie immer ist kein Insider-Gag so gut, dass er nicht falsch verstanden werden kann. Und so wenden Religionswissenschaftler diesen Begriff unreflektiert auf ihre Forschungsarbeiten an Gemeinden an, suchen eine fünfte Kombination der Marker, verwechseln Gruppenselektion mit Gruppenkonkurrenz, reden von hoher Komplexität der Materie sowie der zusätzlichen Multi-Level-Selektion. Dabei bräuchten sie gar keine Beispiele zu suchen, denn der in Deutschland und Großbritannien forschende Alexandre Courtiol hatte bereits mit Hilfe von Tauf- und Sterberegistern in finnischen Gemeinden gezeigt, dass es auch innerhalb der christlichen Gemeinden einzelne Familien gibt, die über Generationen hinweg mehr Nachkommen haben und die die anderen Gemeindefamilien kontinuierlich verdrängen [Courtiol 2012]. Selektion findet innerhalb von religiösen Gruppen folglich auf der Individual- und Verwandtenebene statt, und Multi-Level-Selektion liegt immer vor, denn dies bedeutet nichts Anderes, als dass mehrere Selektionsfaktoren gleichzeitig an den Individuen angreifen. Ein einfaches Beispiel hierfür ist die Gruppenbildung, bei der zwar einige höherrangige Individuen eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, dem Raubdruck zu entgehen, indem schwächere an den Rand gedrängt und geopfert werden, dafür aber gleichzeitig innerhalb der Gruppe ein stärkerer Selektionsdruck unter den Fortpflanzungspartnern sowie hin zu höherer Intelligenz entsteht. So what´s new?

Auserwählte?

Warum ist der Begriff der Gruppenselektion dennoch so anziehend für religiös motivierte Wissenschaftler? Viele Menschen haben den unbewussten Wunsch, sich mit ihren Nachkommen von der Masse abzuheben und eine eigene, "bessere" Spezies zu gründen. Sie sind von Gott auserwählt, am Ende über alle anderen gestellt zu werden, an seiner Rechten zu sitzen und sich die Welt samt ihren alten Artgenossen untertan zu machen. Für Familien und Clans wird daher ein eigener Genpool unterstellt, der durch Selektion bereinigt und durch geschickte Heiratspolitik unter den Würdigen verbessert werden kann.

Religiöse Gemeinden sind für viele Religiöse kulturelle Familien, die alle Andersdenkenden ausschließen und sich durch Heitratsvorschriften isolieren können. Für diese neue Art Mensch haben sie den Begriff des Homo religiosus eingeführt [Blume 2009]. Sie werten andere Religionsgruppen, indem sie Mission betreiben, durch Sonderarbeitsrechte oder eine Heiratspolitik ausschließen; bewerten andere Menschen, indem sie von Anti-Theisten [Blume 2011-a] oder einem nicht-vollständigen Menschsein reden [Schnückel 2012] und ihnen Moral und Ethik absprechen. Weiterhin heben sie die "genetischen" Vorteile ihrer "Gruppe" hervor, indem sie auf die Auswirkung ihrer Ideologie auf eine erhöhte Fortpflanzungsrate hinweisen [Blume 2014].

Sie haben es sicherlich erkannt. Diese drei Kriterien – Ethnie, Vorteilsgene und Abwertung Anderer – sind die Charakteristika des Rassismus. Natürlich spricht heute niemand mehr von überlegenen oder gar minderwertigen Menschen, dafür bedient man sich heute andere Begriffe. Wo das alte theologische Lied von der Superiorität der Gläubigen sowie der Inferiorität der Ungläubigen gesungen wird, da kultivieren Religionen den Grundstein zu einem permanenten kulturellen Rassismus.

Selektion?

Kann eine Ideologie überhaupt in die Evolution eingreifen? Computersimulationen zeigen, dass Selektionsfaktoren extrem lange angreifen müssen, um Populationen wirkungsvoll zu verändern. Kurzfristige Selektionsschübe führen - so massiv sie auch sein mögen - zu einem Überleben der meisten Variationen, die sich danach schnell wieder erholen. So konnten sich zum Beispiel die Gene für die Lactasepersistenz innerhalb der letzten 8.000 Jahre noch nicht einmal über ganz Europa ausbreiten, obwohl sich eine Milchviehkultur dauerhaft etabliert hat.

Was hat sich also in den letzten 5776, 2015 und 1394 Jahren dank der Religionen geändert? Die Verbrechen, die in der Gründungszeit dieser Religionen existierten, kommen uns heute immer noch sehr vertraut vor. Diebstahl, Mord und Ehebruch gab es damals wie heute und selbst Sodomie, Atheismus, Sklaverei und Folter sind nicht verschwunden. Auch Kriege sind immer noch ein Teil unseres Wettbewerbsdenkens und werden immer noch religiös abgesegnet. Es sind sogar noch ein paar Verbrechen hinzugekommen seit auch Frauen als Menschen gelten.

Hat da durch Steinigungen, Lebendfeuerbestattungen und Folter wirklich eine Selektion auf "bessere" Menschen stattgefunden? Oder hat sich eine Gesellschaft mit ihren Religioten arrangiert, indem sie nach der Sonntagsmesse oder dem Freitagsgebet die Haustür zumacht und ihr eigenes Leben lebt? Die immer noch notwendige Existenz der heiligen Schriften mit ihren Strafandrohungen zeigt, dass sich auch mit Thora, Bibel und Koran nichts zum "Besseren" verändert hat. Nach Zigtausend Jahren "Selektion" sind Gläubige immer noch genauso Menschen, wie alle anderen auch.

Wenn die Menschen schon nicht besser werden, so fördern Religionen doch die Kooperationen unter ihren Mitgliedern, heißt es nun [Sosis 2004, Blume 2011-b]. Kann eine Religion die Grundlage für eine "höhere" Zivilisationsstufe sein? Die Antwort ist einfach zu finden. Das Christentum existiert weltweit, doch nur in den Industriestaaten geht es den Menschen gut. Gleicher Glauben und auch eine intensivere Kooperation innerhalb einer religiösen Gruppe führen noch lange nicht zu besseren Lebensbedingungen.

Religiöse selektieren zwar ihre Artgenossen mitunter mörderisch, doch worauf eigentlich? Um als fromm zu gelten, schütten sie den Rum in den Kaffee und tun ein Sahnehäubchen darüber, damit man es nicht riecht. Religiöse wie auch nicht-religiöse Ideologen selektieren in der Evolution wahrscheinlich lediglich die Fähigkeit zum geschickten Selbst- und Fremdbetrug. "Bessere" Menschen dank besserer Gene machen sie jedoch nicht aus uns.

Literatur

Blume, Michael: Gruppenselektion vor dem Comeback? Scilogs 21.08.2008. http://www.scilogs.de/natur-des-glaubens/gruppenselektion-vor-dem-comeback/

Blume, Michael: Homo religiosus. 06.03.2009. Spektrum der Wissenschaft. http://www.spektrum.de/magazin/homo-religiosus/982255

Blume, Michael: Erkenntnistheorie und die empirische Beweislast der Antitheisten. scilogs 28. 04. 2011-a. http://www.scilogs.de/natur-des-glaubens/die-empirische-beweislast-der-a...

Blume, Michael: Spieltheorie – Mathematik für die Evolutionsforschung (auch zur Religion?). Scilogs 25. 04. 2011-b. http://www.scilogs.de/natur-des-glaubens/spieltheorie-mathematik-f-r-die...

Blume, Dr. Michael: Religion und Demografie. Warum es ohne Glauben an Kindern mangelt. Sciebooks, Amazon Create Space, 2014.

Courtiol, Alexandre et al.: Natural and sexual selection in a monogamous historical human population. PNAS Vol 109 (2012). S. 8044 – 8049.

Schnückel, Jörg: Overbeck auf dem Weg zum Hassprediger? In: Humanisti­scher Pressedienst vom 16.5. 2012. http://hpd.de/node/13387.

Sosis, Richard / Ruffle, Bradley: Ideology, religion, and the evolution of cooperation: Field Tests on Israeli Kibbutzim. In: Research in Economic Anthropology 23 (2004), S. 89–117.