Direkte Demokratie

Landesregierung scheitert seit Jahren an Zustimmungsquorum

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Schloss Schwerin, Sitz der Landesregierung
Schloss Schwerin, Sitz der Landesregierung

SCHWERIN. (hpd) Mecklenburg-Vorpommern (M-V) erlebte am 6. September seinen zweiten Volksentscheid seit der Neugründung des Landes 1990, womit das Land nun stolz auf ganze zwei Anwendungsfälle direkter Demokratie in Form von Volksabstimmungen innerhalb von 25 Jahren zurückblicken kann.

Eine Initiative von Richterbund M-V und dem Verein Pro Justiz M-V hatte die Aufhebung des 2013 vom Landtag beschlossenen Gerichtsstrukturneuordnungsgesetzes zum Ziel. Dieses Gesetz sieht eine Reduzierung der Anzahl der Amtsgerichtsbezirke vor und wird seit 2014 umgesetzt. Laut Initiatoren der Volksabstimmung bedeutet diese Gerichtsstrukturreform für Teile der Bevölkerung erheblich längere Wege von teilweise über 50 km zur Wahrnehmung von Gerichtsterminen. Außerdem werden die für den Haushalt anvisierten Einspareffekte bezweifelt.

Am Volksentscheid beteiligten sich 23,7% aller Abstimmungsberechtigten, von denen eine deutliche Mehrheit von 83,2% (absolut 19,7%) für den Gesetzentwurf der Initiatoren stimmte. Wenn die Mehrheit entscheidet, ist dies ein klarer Sieg des Ja-Lagers. Doch die Landesgesetzgebung fordert keine einfache, sondern eine qualifizierte Mehrheit, die mindestens 33% aller Abstimmungsberechtigten entsprechen muss (Zustimmungsvorbehalt). Demzufolge ist der Gesetzentwurf zur Gerichtsstrukturreform trotz erzielter deutlicher Mehrheit unter den Abstimmenden letztendlich gescheitert. Wie auch in vielen weiteren Fällen in Deutschland ist das Signal fatal, denn vielen Bürgern stellt sich nun direkte Demokratie als Mogelpackung dar, was politisches Engagement nicht befördern dürfte - im Gegenteil. Doch was sollte jetzt beklagt werden, die Abstimmungsbeteiligung von 23,7% oder die Existenz eines Zustimmunsquorums von 33% aller Abstimmungsberechtigten?

Die Abstimmungsbeteiligung liegt in Deutschland wie auch international meist zwischen 20–40%, weil im Gegensatz zu einer Wahl nur über ein Thema entschieden wird, folglich also die Beteiligung an Volksentscheiden oft geringer ausfällt als bei Wahlen. 23,7% Beteiligung für ein spezielles Thema wie die Gerichtsstrukturreform ist also keinesfalls ein Makel, wie viele meinen. Doch das Zustimmungsquorum setzt eine Beteiligung wie bei Wahlen voraus. Denn bei einem knappen Abstimmungsergebnis, bei dem JA und Nein-Lager sich die Stimmen fast teilen, hätten für das Thema Gerichtsstrukturreform über 60% der Abstimmungsberechtigten am Volksentscheid teilnehmen müssen um das Quorum zu erfüllen. Dies wären über 10% mehr als bei der letzten Landtagswahl, bei der alle gesellschaftlichen Themen zur Abstimmung standen. Allein diese Hochrechnung zeigt, dass Sinn und Berechtigung des Quorums zu hinterfragen sind.

Als Quorum (lat.: "von denen", also i.S.v. Anteil) bezeichnete Beteiligungs- oder Zustimmungsklauseln sind immer wieder Gegenstand der Diskussion. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwieweit auch bei geringer Abstimmungsbeteiligung die in einer Abstimmung getroffene Mehrheitsentscheidung noch Legitimität gegenüber allen Abstimmungsberechtigten besitzt? Bezüglich Wahlen scheint es darüber in Deutschland keine Zweifel zu geben. Diese sind immer gültig, egal wie wenige daran teilnehmen sollten, denn für Wahlen gibt es keinerlei Beteiligungsvorgaben. Es wäre auch wenig sinnvoll Wahlen wegen geringer Beteiligung nachträglich zu annullieren - die Demokratie würde sich selbst Patt setzen. Bei Volksentscheiden dagegen ist das nachträgliche Annullieren gesetzliche Praxis, aber nur, weil sich das demokratische Gesamtsystem dadurch nicht selbst blockiert und handlungsunfahig wird, wie es bei Wahlen der Fall wäre. Zustimmungs- oder Berteiligungsquoren bei Volksentscheiden sind also überhaupt nur möglich, wenn Volksentscheide lediglich eine ergänzende aber keine tragende Funktion des demokratischen Systems darstellen.

Befürworter solcher Quoren argumentieren i.d.R. wie der CDU-Innenexperte Christian Hartmann im März bzgl. einer Senkung der Unterschriftenzahl für Volksbegehren in Sachsen: "Ziel kann nicht sein, dass eine Minderheit ein Thema formuliert, eine Minderheit über das Thema entscheidet und eine Mehrheit mit der Entscheidung umgehen muss."[1] Mit Mehrheit sind die Nicht- und Neinstimmenden gemeint. An dieser Aussage ist von besonderem Interesse, was sie nicht erwähnt. Einerseits, dass die “Mehrheit” aus Nichtabstimmenden selbst hätte abstimmen können. Andererseits wie sie Minderheit definiert? Die amtierende sächsische Regierungskoalition aus CDU/SPD, welcher Herr Hartmann angehört, wurde von 25,4% aller Wahlberechtigten gewählt. Eine Mehrheit? Oder eine Minderheit mit deren Entscheidungen eine Mehrheit von 74,6% aus Nicht- und Oppositionswählern umgehen muss? Vermutlich würde Herr Hartmann hierauf antworten, dass die Nichtwähler ja an der Wahl hätten teilnehmen können – eben. Doch diesen Hinweis lässt man bei der Diskussion um Quoren bei Volksentscheiden seltsamerweise nicht gelten, sondern besteht auf Quoren um insbesondere die Nichtabstimmenden vor Entscheidungen durch aktive politische Minderheiten zu schützen. Im Gegensatz dazu werden bei Wahlen die Nichtwähler nicht vor einem Wahlergebnis mit geringer Abstimmungsbeteiligung geschützt, da es bei Wahlen kein Quorum gibt.

Befürworter von Zustimmungsquoren lassen sich auch nicht durch Verweise auf zahlreiche bestehende Regelungen, die keine Zustimmungsquoren beinhalten, von ihrer Meinung abbringen. Andererseits können Sie aber kein objektives Kriterium für die nötige Höhe eines solchen benennen. Was nicht verwundert, denn es gibt keines. Weshalb die Höhen zwischen 10–50% betragen können. Die Festlegung ist reine Willkür. In M-V und Baden-Württemberg beträgt die Höhe auf Landesebene 33%, auf kommunaler Ebene in Deutschland oft 25%. In Bayern und Sachsen fehlt ein Quorum bei Landesvolksentscheiden ganz, bei Bürgerentscheiden in den Kommunen dagegen muss in beiden Ländern ein solches erreicht werden. Über diese wunderlichen Gegensätze kann kein Befürworter widerspruchsfrei aufklären. Nachvollziehbare Logik - Fehlanzeige! Dabei müsste ein Befürworter eines Zustimmungsquorums doch mit Leichtigkeit begründen können, warum in Baden-Württemberg bei Landesvolksentscheiden dieses notwendig sein soll, obwohl im benachbarten Bayern darauf verzichtet wird Auch wenn er dies nicht auflösen, wird er allerdings kaum davon abrücken, es für Baden-Württemberg als unverzichtbar zu erklären. Warum?

Standpunkte, die rational nicht begründbar sind, entspringen dem Gefühl, oftmals einem Angstgefühl. Hier wohl die Angst, von politischen Minderheiten überstimmt zu werden, obwohl jede/r die Möglichkeit hat, gegen diese Minderheiten mit Nein zu stimmen. Doch gegen Gefühle lässt sich schwerlich argumentieren, wie auch Verliebte und Religiöse immer wieder lehren. Aber vielleicht liegt dem Beharren auf Quoren nicht nur ein Angstgefühl, sondern vielmehr Bequemlichkeit zugrunde, wie es ein Kommentar auf der Facebook-Seite Volksentscheid M-V nahelegt: "Um 'NEIN' zu voten brauchte man am Sonntag die Couch nicht zuverlassen, das war in Ordnung und Bürgerfreundlich." (Fehler i. Orig.) Demnach wäre ein Quorum ein Schutz für Sofasitzer, die darauf bauen, dass es vom JA-Lager nicht erreicht wird. Diesem Effekt zufolge müsste es als demokratiefeindlich bewertet werden, denn Demokratie lebt von aktiver Beteiligung.

Oder sind die Gründe der Befürworter hoher Quoren letztendlich in der Absicherung eines Machtmonopols zu suchen, welches man selbst in Händen hält, in der Abschottung des eingespielten Parlamentsbetriebes gegen unbequeme Einflüsse von außen? Wenn man sich Bürgermitbestimmung schon allein aufgrund des Zeitgeistes nicht verweigern kann, dann soll diese sich möglichst in nicht funktionierenden Verfahren totlaufen - so könnte die Strategie formuliert werden. Das Gesetzgebungsmonopol des Parlaments soll unangetastet bleiben. Genau um eine solche Allmacht des Parlaments zu verhindern, wurde 1919 die Volksgesetzgebung in die Weimarer Reichsverfassung als direktdemokratisches Korrektiv eingefügt. Als Korrektiv gegenüber dem Parlament, welches nach dem Wegfall der es einst beschränkenden Monarchie zum Gesetzgebungsmonopolisten aufzusteigen drohte. Machtbeschränkung des Parlaments war die wesentliche Intention für die damalige Aufnahme der Volksgesetzgebung, weniger die Bürgermitbestimmung. Gerade zur Abwehr dieser Machtbeschränkung sind viele Politiker heute Verfechter von Zustimmungs- und Beteiligungsquoren, die sie mit einer angeblichen Gefahr von die Mehrheit beherrschenden Minderheiten begründen, und worin Ihnen viele Bürger infolge unreflektierter Angstgefühle zu gerne folgen.

Das die Angstmache mit politischen Minderheiten überhaupt funktioniert, liegt an einer die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse verschleiernden Wahlberichterstattung, welche ausnahmslos mit Proporzzahlen hantiert, also Verhältniszahlen, welche sich auf die Sitzverteilung in den Parlamenten beziehen, die ja vollkommen unabhängig von der Wahlbeteiligung immer zu 100% besetzt werden. Absolute Prozentzahlen, die sich auf alle Wahlberechtigten beziehen, werden nie genannt. Bei 50% Wahlbeteiligung werden auf diese Weise bescheidene absolute 19% zu respektablen 38% aufgeblasen. Und wer absolut gerade mal 5% vorweisen kann, darf sich in der medialen Berichterstattung dann immerhin mit 10 Proporzprozenten schmücken. Und Parlamentsmehrheiten beginnen immer erst bei 51%, selbst wenn sie tatsächliche nur 26% eigene Wählerschaft vertreten sollten.

Dieser beständige Gebrauch der höheren Proporzzahlen gaukelt eine Legitimation des repräsentativen Systems und der Regierenden vor, welche von den absoluten Zahlen nicht bestätigen wird. Heutige Parlamentspolitik ist nicht durch Mehrheiten in der Wählerschaft legitimiert, sondern der Minderheitenstatus ist der Normalfall! Wäre dieses Faktum dank einer transparenten Kommunikation Bestandteil des allgemeinen politischen Bewusstseins, würde kaum jemand ein Problem mit Volksentscheiden haben, bei denen wie im Fall M-V, die Entscheidung von einer Minderheit von 19,7% der Wahlberechtigten getroffen wird. Eine Argumentation gegen entscheidende Minderheiten, wie die eines Herrn Hartmann, würde ins Leere laufen und könnte nicht gegen Volksabstimmungen gerichtet werden, um deren Regelung zum Nachteil der Anwender restriktiv zu gestalten.

19,7% JA-Stimmen aller Wahlberechtigten in M-V liest sich wie eine Bestätigung des Vorwurfes, Minderheiten könnten in Volksentscheiden Mehrheiten über den Tisch ziehen, wenn nicht ein Quorum dies verhindern würde. Abgesehen davon, dass keine Partei in M-V eine Wählerschaft dieser Größe vorweisen kann, wäre auch der mögliche Fall einer deutlich höheren Zustimmung, z.B. 32% Ja-Stimmen zu einem Gesetzentwurf zu untersuchen. In diesem würden 32% der Abstimmungsberechtigten, was mehr sind als die amtierende Regierung an eigenen Wählern vorweisen kann(!), in einem Volksentscheid zwar die Mehrheit für einen Gesetzentwurf bilden, aber trotzdem am Quorum von 33% scheitern. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Quoren bei Volksentscheiden überhaupt mit dem Prinzip der Volkssouveränität, welches dem GG zugrunde liegt, vereinbar sind und ob darüber hinaus noch eine Ungleichbehandlung zweier Gesetzgebungsverfahren vorliegt?

Denn das Zustimmungsquorum auf das Parlament übertragen zeigt, dass die Landesregierung von M-V seit vier Jahren selbst an diesem scheitert, denn sie ist nur von 30,2% der Wahlberechtigten gewählt. Trotzdem gelten die von ihr erlassenen Gesetze als legitim. Auch die Regierungen in Bayern (30,6%), Baden-Württemberg (31,3%), Berlin (31,1%), Brandenburg (26,3%), Bremen (24%), Hamburg (25,8%), Niedersachsen (27,6%), NRW (30%), Rheinland-Pfalz (31,2%), Sachsen-Anhalt (27,6%), Schleswig-Holstein (29%), Thüringen (32,5%) würden an einem Zustimmungsquorum von 33% aller Abstimmungsberechtigten, wie in M-V gültig, scheitern. Lediglich die Regierungen in Hessen (36,1%) und dem Saarland (40%) könnten derzeit mit ihrer Wählerschaft dieses erfüllen. Kann es verfassungskonform sein, dass für den Gesetzgebungsweg per Volksentscheid Hürden gelten, an denen fast alle Landesregierungen scheitern würden? Ist es mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Willkürverbot vereinbar, dass an das parlamentarische und das direktdemokratische Gesetzgebungsverfahren zweierlei Maß bzgl. ihrer Legitimierung angelegt werden? Der allgemeine Gleichheitssatz besagt, der Staat darf nicht wesentlich Gleiches ungleich behandeln.

Ob die Zustimmungs- und Beteiligungsquoren bei Volksentscheiden mit den Verfassungsgrundsätzen der Volkssouveränität und des Gleichheitssatzes vereinbar sind, müssten Juristen klären. Vielleicht gerade die aus Mecklenburg-Vorpommern, halten sie doch aktuell einen justiziablen Fall in eigener Sache in den Händen.

Anmerkung: Die dreistufige Volksgesetzgebung besteht aus Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Die ersten beiden Stufen beinhalten auch Quoren, bei denen es sich um Unterschriftenzahlen handelt, die gesammelt werden müssen. Zustimmungs- und Beteiligungsquoren betreffen nur die Abstimmung beim Volksentscheid. Der Begriff Volksabstimmung bezeichnet entweder Volksbegehren und Volksentscheid als Einheit, oder steht synonym nur für die Abstimmung beim Volksentscheid.

[1] DNN vom 21.3.2015