Rezension

Lügen die Medien?

24 Interviews, einen Vortrag und eine Studie führt Jens Wernicke, Diplom-Kulturwissenschaftler im Bereich Medien, zu einem breitgefächerten Kompendium früherer und heutiger Medienkritik zusammen.

Der Haupttitel: "Lügen die Medien?" verweist auf die seit 2014 erhobenen "Lügenpresse"-Vorwürfe, in deren Verlauf dieses polarisierende Schlagwort zum Unwort des Jahres 2014 erklärt wurde. Doch weder die Kür, noch die in der Begründung zum Unwort des Jahres verkürzte geschichtliche Darstellung des Begriffes erhellen die dahinter liegende Problematik zufriedenstellend. Im vorliegenden Kompendium wird darauf hingewiesen, dass "Lügenpresse" auch ein Kampfbegriff der Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert, wie auch der Studentenrevolte von1968 war. Die Titelfrage des vorliegenden Buches erscheint jedoch nicht vordergründig, sondern nur als ein Aspekt des letzten Punktes des Untertitels:"...Der Kampf um die öffentliche Meinung", welcher den Inhalt des Kompendiums treffender wiedergeben dürfte.

In drei Kapiteln: Die Macher, Die Denker, Die Zivilgesellschaft – werden aus der journalistischen, wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Perspektive Fragen über  die heutigen Medien diskutiert, aber auch immer wieder das Verständnis fördernde Exkurse in die Mediengeschichte unternommen. Etwa zu den Ursprüngen moderner Öffentlichkeitsarbeit (Public Relation)/ Propaganda in den USA seit deren Eintritt in den Ersten Weltkrieg.

"Die Macher" sind gestandene Journalisten, die langjährig in Redaktionen oder als Korrespondenten für private bzw. öffentlich-rechtliche Medien gearbeitet haben. Walter von Rossum (freier Autor für WDR, Deutschlandfunk, Zeit, Merkur, FAZ, Freitag...), David Goeßmann (Journalist für Deutschlandfunk, WDR, SWR, Korrespondent USA, Kontex-TV), Volker Bräutigam (Regionaldirektor süddeutscher Zeitungen, Tagesschau-Redakteur beim NDR, NDR Kulturredaktionen), Ulrich Tilgner (30 Jahre Korrespondent Mittel- und Naher Osten, Leiter ZDF-Studio Teheran, Schweizer Fernsehen), Stefan Hebel (langjähriger Redakteur Frankfurter Rundschau, politischer Autor, Deutschlandradio, Freitag, Publik Forum) u.a. berichten aus eigener Erfahrung vom Innenleben privater und öffentlich-rechtlicher Medien, über Arbeitsbedingungen, wirtschaftliche und personelle Strukturen, Zwänge durch redaktionelle und/oder politische Einflussnahme infolge von Machtverhältnissen, bis hin zu Versetzungen, Abberufungen und beruflichen Kaltstellungen.

Im Kapitel "Die Denker" weiten Medien- und Politikwissenschaftler, Psychologen, Philosophen und Soziologen die Kritik auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus. Naom Chomsky, Uwe Krüger, Rainer Mausfeld, Jörg Becker, Michael Walter, Klaus-Jürgen Bruder, Kurt Gritzsch, Daniele Ganser und die Forschungsgruppe zu Propaganda in Schweizer Medien thematisieren die Arbeit der Medien unter dem Gesichtspunkt der kapitalistischen Eigentums- und Wirtschaftsverhältnisse. Können Medien unter diesen Bedingungen überhaupt der Aufgabe als vierte und unabhängige Gewalt nachkommen, oder spiegeln sich in ihrer Arbeit nicht zwangsläufig bestehende Macht- und Eigentumsverhältnisse wider? Sind private Medien, die von Einzeleigentümern geführt werden und sich in einem immer weiter fortschreitenden Konzentrationsprozess befinden, überhaupt mit Demokratie vereinbar, oder stehen sie nicht vielmehr in Widerspruch zu dieser?

Ausführlich wird der Neoliberalismus, als heute herrschende radikalisierte Form des Kapitalismus, sowie Funktion und Wirken der Medien in diesem analysiert. Beispielhaft und detailliert wird dies anhand der angewandten Strategien und Psychotechniken zur Durchsetzung der Agenda 2010 in Deutschland aufgezeigt, mit denen erfolgreich die symbolische Dekonstruktion des Sozialstaates betrieben wurde, indem man bisherige Vorstellungen zu dessen Legitimation und zu Gerechtigkeit durch eine simple Eigentumslogik ersetzte. Dies wurde vor allem durch eine Bedeutungsverschiebung bei bis dahin positiv besetzten Begriffe erreicht.

Weiterhin wird die Rolle der Medien bei der Vorbereitung und Führung von Kriegen beleuchtet, die Rolle und Wirkung der nur wenigen Nachrichtenagenturen, das Verhältnis und Wechselwirkungen zwischen Medien und den allgegenwärtigen PR-Agenturen und nicht zuletzt die gerade aktuell zu beobachtende Praxis vieler Medien, insbesondere bei den Themen EU, Flüchtlinge, Russland und Rechtspopulismus in Form eines Kampagnenjournalismus selbst als offen parteiische und missionarische politische.Akteure in Erscheinung zu treten.

Im dritten Kapitel "Die Zivilgesellschaft" kommen Vertreter gesellschaftlicher Organisationen, medienkritischer Vereine und Einzelpersonen zu Wort. Von Maren Müller (Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechlichen Medien e.V.),  Sabine Schiffer (Institut für Medienverantwortung), Hektor Haarkötter (Initiative Nachrichtenaufklärung e.V.), Gert Hautsch (Vereinte Dienstleistungsgesellschaft ver.di) u.a. werden Aspekte wie Sprachregelung (Wording), Doppelstandards bei der internationalen Berichterstattung, die Geschichte der massiven Beeinflussung der Medien durch Geheimdienste im Nachkriegs- Deutschland, die Problematik des Tendenzschutzparagrafen und weiteres diskutiert.

Das von Jens Wernicke vorgelegte Kompendium ist keine Medienschelte, sondern eine differenzierte und ausführlich begründete Medienkritik, die zudem nach Lösungen für die Zukunft fragt. Nach dessen Lektüre wird man das mediale und politische Geschehen zweifellos mit einem geschärften Blick beobachten.


Jens Wernicke, Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung. Frankfurt am Main 2017, Westend Verlag, 368 S., ISBN-13: 978-3864891885, 18 Euro, erschienen am 1. September 2017