Zum 100. Jahrestag des Hauptwerkes von Alfred Wegener

Was bedeutet Plattentektonik für uns?

Moderne Plattentektonik ab ca. Mitte des 20. Jahrhunderts

In den 1930er Jahren wurde İhsan Ketin [16] vom Atatürk-Programm aus der Türkei zum Geologie-Studium nach Deutschland entsandt (um dann in der Türkei Schüler zu unterrichten), zunächst zu Hans Stille (in Berlin), der ihm zu national war, dann zu Hans Cloos am geologischen Steinmann-Institut in Bonn, was ihm so gut gefiel [17], dass er als erster gebürtiger Türke in Geologie promovierte, Ende der 1930er in die Türkei zurückkehrte und dort in Istanbul die Türkische Universitäts-Geologie etablierte. - Ich wundere mich, dass sich Ketin in der Zeit offenbar nicht mit Max Pfannenstiel traf, einem Deutschen Geologen im Exil (dort in Ankara eine bewundernswerte 100seitige Publikation schreibend [18]), der sich Ende 1941 mit Curt Kosswig [19], dem ebenfalls aus Deutschland emigrierten Geozoologen und ‘Vater’ der Türkischen Zoologie, in Istanbul traf [18].

Nach dem desaströsen Erzincan-Erdbeben in der Türkei Ende 1939 vermaß Ketin mit Kollegen den Versatz von mehreren Metern und publizierte dies erst 1948 (und ausführlicher 1969) als horizontale Blattverschiebung (auf Deutsch, [20]): Der Großteil der asiatischen Türkei (Anatolien) würde sich gegen den nördlichen Küstenteil rechtshändig ('dextral', vgl. Abb. 1 und 2) nach Westen verschieben. Nicht nur das - er sagte sogar voraus, dass es im Osten Anatoliens eine linkshändige ('sinistrale') Verwerfung geben müsste [21] (die East Anatolian Fault, EAF, vgl. Abb. 1), an der Anatolien nach Westen getrieben wird; wie Recht er hatte! - Pfannenstiel [18] kannte die Erdbebenzone, bezeichnete sie jedoch nicht näher als die 'eines ersten Ranges'.

Dieser frühe (und zunächst vollends verkannte, auch weil auf Deutsch publizierte) Ansatz Ketins, dass sich Erdplatten gegeneinander verschieben, erfuhr seit den 1960er Jahren großen Auftrieb.

Mittelozeanische Rücken wurden (dank Hess, Wilson etc.) als Spreizungszentren erkannt – und die Plattentektonik geboren [22]. Tektonische Platten weisen meist 1–3 Grenztypen auf: Divergierend, konvergierend und/oder transform (vgl. Abb. 2+3). In der durch radioaktiven Zerfall heißen, zähen Asthenosphäre werden Konvektionsströme vermutet, die an mittelozeanischen Rücken (Bsp. Island, Rotes Meer) oder unter Kontinenten (Riftzone Ost-Afrika) aufsteigen, zu ozeanischen basaltischen Lithosphärenplatten erstarren, diese auseinanderziehen (divergente Grenze) und in Tiefseerinnen unter eine jeweils leichtere (z.B. kontinentale) Kruste (S-Amerika) verschlucken = subduzieren (konvergente Grenze); aufschmelzendes Material entlädt sich dabei in Vulkanen. Die subduzierte Platte wird bis in mehrere 100 km Tiefe in die Asthenosphäre gezogen und schließt den Kreis der Konvektion. Daneben gibt es transforme Grenzen, an denen Lithosphärenplatten mehr oder weniger horizontal aneinander vorbeischrammen (San-Andreas- oder North Anatolian Fault, NAF, Abb.1), sich dabei verhaken und in den berüchtigten Erdbeben in geringer Tiefe entladen.

Abb. 2

Abb. 2: Plattentektonik [23]. Die oben links im Detail abgebildete horizontale Blattverschiebung (strike-slip) ist linkshändig ('sinistral') dargestellt; blickt man auf die jeweils gegenüberliegende Seite, bewegt sich das Gegenstück nach links*; es gibt ebenso rechtshändige ('dextrale') strike-slips; das Gegenstück bewegt sich nach rechts. Zu letzterem Typ gehören die San-Andreas- und die Nordanatolische Verwerfung. *Fatalerweise ist das Detailbild genau falsch herum; es bezieht sich auf die am Meeresgrund skizzierte dextrale Transformstörung - wieder ein wiki-Fehler!

Abb. 3

Abb. 3: Tektonische Platten [24]. Vgl. auch detaillierter [25] mit Angabe der Geschwindigkeiten in der Karte ganz am Ende. Indien bewegt sich (ggb. Afrika) mit ca. 30 mm/Jahr nach Norden, Australien (schneller) mit ca. 70 mm (dazwischen, südwestlich von Sumatra, krachte es 2012 gewaltig transform [26]), die Pazifische Platte mit bis zu 100 mm nach Westen; Arabien (ggb. der Ägäis) mit über 50 mm/Jahr nach N und stößt dabei entlang der (sinistralen) EAF an die Türkei, deren Großteil entlang der (dextralen) Nordanatolischen Verwerfungszone (North Anatolian Fault Zone, 'NAFZ') mit ca. 20 mm/Jahr nach Westen verschoben wird (vgl. Abb. 1). Bezogen auf 1 Mio. Jahre (was geologisch sehr kurz ist), kann mm durch km (!) ersetzt werden; d.h. in geologisch längeren Zeiträumen von 10 bis 100 Mio. Jahren wird sich das ozeanische / kontinentale Antlitz unserer Erde komplett gewandelt haben [27].

Die Nordanatolische Verwerfung ist (wie die San-Andreas-Verwerfung, nicht -Graben, in Kalifornien) dextral-transform; Ketin erkannte dies erstmals [20]. Es bedurfte keiner Kontraktion oder Expansion mehr (auch wenn selbst heute noch so etwas propagiert wird, selbst eine “Hohle Erde” oder eine “Hohlwelttheorie”; Quellen erspare ich mir hier, weil zu aberwitzig; sie sind im Internet zu finden). Die Plattentektonik erklärt alles einfacher, wenn auch nicht komplett; aber welche naturwissenschaftliche Theorie ist schon komplett?

Für die Türkei führt dies derzeit u.a. der Geologe Celâl Şengör fort, nach Ketin (1988) der zweite Türkische Träger der renommierten Gustav-Steinmann-Medaille (2010) – und, nebenbei, einer der dezidiertesten Atheisten der Türkei.

Die entsprechenden tektonischen Kräfte und Prozesse habe ich selbst in den letzten Jahren kennengelernt. Aus Abb. 1 ist ersichtlich, dass sich die NAFZ im W in 3 Stränge splittet; den Nördlichen (NS), Mittleren (MS) und Südlichen (SS). Der NAFZ-MS führt in Ost-West-Richtung genau südlich an İznik vorbei (dem antik-griechischen Νίκαια bzw. -römischen Nicaea [28]), vgl. Abb. 4 für Details.

Abb. 4
Abb. 4: İznik. Rote Linie = NAFZ-MS; gestrichelt = NAFZ-SS; grüne Kreise = wind gaps; blauer Kreis = Arapuçtu-Schlucht; blaue Linie = Sakarya (fließt nach N zum Schw. Meer).

Östlich von İznik und dessen See steigt (exakt entlang des NAFZ-MS) ein 0,5 bis 5 km breites Tal über 25 km von knapp 100 auf knapp 400 m Höhe an, um dann abrupt auf 100 m Höhe der Pamukova-Senke zu fallen. Nach Osten und bes. Süden ist das Tal von mehreren Trockentälern (wind gaps) gesäumt. Auf meiner ersten Reise dorthin im Mai 2011 'entdeckte' ich ca. 20 km östlich von İznik den tief eingeschnittenen "Arapuçtu kanyon" (Abb. 5) [29]. Der Einzugsbereich der Schlucht bis zum Gaziler wind gap ist aber viel zu klein, um so große Wassermassen zu sammeln, die zur Erosion der Schlucht nötig waren [30]. Derzeit entsteht selbst nach starken Gewittern in der Bildmitte von Abb. 5 nur ein kärgliches Wasserfällchen.

Also - woher kam das Wasser? Die Lösung ergibt sich, wenn der dextrale NAFZ-MS-Versatz 'zurückgespult' wird: Die Schlucht ist (mitsamt des Blocks südl. des MS) in den letzten 2 Mio. Jahren um mind. 20 km nach Westen verschoben und (stärker als das breite İznik -Tal) angehoben worden. Zuvor diente die Schlucht, tiefer liegend, entsprechend weiter im Osten als natürlicher Auslass des ebenfalls tiefer liegenden İznik-Tals und verband das Marmarameer über den Sakarya mit dem Schwarzen Meer; gelegentlich (je nach lokalen Wasserständen) vermutlich auch in umgekehrter Richtung. So weit meine These, die bisher in lokalen Geologenkreisen gut ankam. Immerhin ist dem Sakarya selbst eine dextrale Ablenkung von über 25 km in der Pamukova-Senke bescheinigt worden [31].

ABB. 5

Abb. 5: Arapuçtu kanyon, eine über 100 m tiefe, perfekt V-förmig eingeschnittene Schlucht 20 km östlich von Iznik, wo sie - heute inaktiv -  keinen Sinn ergibt. Aus halsbrecherischer Position von mir von Süden aufgenommen am 24.7.2012. Das eingesetzte Detailbild vom unteren Schluchtausgang am 28.5.2011 einen Tag nach starkem Gewitterregen.

Und droht dort plattentektonisches Ungemach? Aber ja. Die NAFZ setzt sich vom Van-See im Osten (wo es wie in 2011 häufig Erdbeben gibt [32]) über mehr als 1500 km nach Westen fort. 2014 gab es in der Ägäis westlich der Halbinsel Gelibolu schwere Beben [33], 1999 bei Gölcük/İzmit (das antike Nikomedia) [34]; vgl. Abb. 6! İstanbul liegt genau dazwischen… Und ein schweres Beben wird dort in den nächsten wenigen -zig Jahren mit weit über 50 % Wahrscheinlichkeit erwartet [35] (ähnlich wie zwischen San Francisco und Los Angeles). Kann sein, dass es das Marmarameer dort an dem NAFZ-NS mit seiner möglichen Schmierwirkung glimpflicher ausgehen lässt. Die Hauptbeben ereignen sich jedoch am NS; MS und SS scheinen 'nur zu kriechen'. Das ist ablesbar an der Straße zwischen Gaziler und MS (Position s. Abb. 4), deren Risse alljährlich repariert werden.

Abb. 6
Abb. 6: Die Gleisbetten der Bahnlinie zwischen İzmit und Sapanca kreuzen die NAFZ und wurden 1999 um mehrere m dextral versetzt [35]. Die neue Hochgeschwindigkeitstrasse wurde dort in den letzten Jahren nur ca. 100 m parallel zur alten Trasse angelegt und nur marginal mit einer in den Boden eingelassenen, 1 m dünnen Stahlbetonmauer "bewehrt", wie es den persönlichen Anschein für mich hatte.

Und der Oberrheingraben? Nun, der Begriff 'Graben' bedeutet, dass es eine Dehnungsstruktur ist (wie der Ostafrikanische Graben). Die Erdkruste hob und dehnte sich hier vor bzw. seit ca. 40 Millionen Jahren (40 mm in dem erwähnten Vergleich), der Mittelteil, der Oberrheingraben, senkte sich relativ zu den Grabenschultern (Vogesen/Pfälzerwald im W, Schwarzwald/Odenwald im O) um bis zu 4.000 m und verschob sich sinistral. Ein Großteil der Senke wurde durch Sedimente von Rhein und Neckar etc. zur Oberrheinischen Tiefebene aufgefüllt, abgetragen von den Grabenschultern und westlich und östlich angrenzenden Gebieten, wodurch imposante Schichtstufenlandschaften beiderseits der Schultern herauspräpariert wurden, z.B. die Schwäbische Alb. Vor 19–16 ‘mm’ schoss der Kaiserstuhl-Vulkan hoch, vor bereits knapp 50 'mm' brach ein Teil bei Darmstadt mit Vulkanismus ein (bzw. mit einer Dampfexplosion heraus) und hat die Grube Messel [36] geschaffen, in deren einstmals sauerstoffarmem Maarsee-Wasser diverse pflanzliche und tierische Spezies (z.B. Urpferdchen oder Darwinius masillae "Ida", eher eine ausgestorbene Seitenlinie als eine vermeintliche Urvorfahrin der Menschenaffen [37]) mit den Sedimenten konserviert wurden.

Der Verwerfungsprozess ist nicht ganz abgeschlossen und zeigt sich in gelegentlichen schwachen bis mittleren Erdbeben in der Region [38]. Insgesamt hat uns diese Grabenstruktur mit seiner Tiefebene einen der fruchtbarsten, intensiv ackerbaulich genutzten Böden beschert. Wir können von Glück sagen, dass der größte Teil des Prozesses lange zurückliegt.

Ganz anders in den tektonisch aktivsten Gebieten der Erde vom Nahen bis Fernen Osten; von der erwähnten Türkei über Haiti, Sumatra, Nepal, Tonga/Fiji bis Japan und rund um den Pazifik. In den meisten Fällen sind es kontinentale Transformstörungen (strike-slips) und (wie in Sumatra bis Japan) Subduktionszonen, die die verheerendsten Erdbeben zeitigen. Die jüngsten der letzten Jahre sind noch in guter bzw. schlechter Erinnerung. Das GeoForschungsZentrum Potsdam aktualisiert täglich weltweit auftretende Erdbeben [39].

Und wo ist das nun, 0–100 km Erdkruste?

Die dicksten Krustenteile sind unter hohen Gebirgen zu finden: Himalaya, Anden, Rocky Mountains u.a. Die dünnsten (0 km) natürlich dort, wo keine feste Kruste vorhanden ist, sondern geschmolzene Lava, sei es temporär, wie z.B. in Island, oder ständig, wie in einigen wenigen Lavaseen. Die Lava erstarrt oberflächlich schnell zu festem Gestein, das durch seine höhere Dichte alsbald wieder abtaucht (was sinnfällig mit der Plattentektonik verglichen wurde [40].

In 50–100 Mio Jahren (gerade 50–100 mm im Vergleich!) werden die Kontinente ganz andere Konstellationen eingenommen haben als heute; von neuen Eiszeiten in weniger als 1 Mio. Jahren (oder < 1 mm) einmal abgesehen; oder von menschengemachten Klimaänderungen mal ganz abgesehen. Mittelmeer und Schwarzes Meer? Größtenteils verschwunden. Afrika? Zerbrochen. Australien? Womöglich am Äquator. Indien? Steckt vor dem Himalaja fest, der zur Hälfte abgetragen ist. Die Amerikas, Asien und Europa werden nicht wiederzuerkennen sein. Im Internet sind einige Animationen dazu zu finden [27].

Aber (um bei Zeit und Dicke zu bleiben) egal, wie dauerhaft oder dick die Kruste:
Wir leben wie auf einer brüchigen Eierschale. Deren äußerste feste Haut, plus der Hydro- und Atmosphäre, bilden unser Habitat, die Biosphäre. Sie unterliegt einer stetigen natürlich (und inzwischen auch menschlich [41]) bedingten Veränderung - eine der Haupttriebkräfte der Evolution.