BERLIN. (hpd) Die Mehrheit der großen Koalition hat die umstrittene Gesetzesinitiative zum "anlasslosen Protokollieren von Nutzerspuren" am 16. Oktober 2015 verabschiedet. Die Frage der Datensicherheit in der Ära nach den Snowden-Enthüllungen wurde von den Befürwortern nicht beantwortet. Grund genug, dass Bürgerrechtler und Opposition ihre Stimme erheben und die "vierte Gewalt" diesen Stimmen Gehör verschaffen.
Der Bundesnachrichtendienst BND und der US-Geheimdienst NSA zapften schon vor über zehn Jahren gemeinsam einen der größten Kommunikations-Knotenpunkte der Welt, den Internet-Knotenpunkt in Frankfurt am Main an. Nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung wurden Daten deutscher Staatsbürger, Politiker und Industrieunternehmen von dort an die NSA weitergeleitet, obwohl dies gegen Bestimmungen des Grundgesetzes verstößt.
Das Zeitalter der Daten-Sammelwut
Wir produzieren und veröffentlichen bewusst oder unbewusst immer mehr Daten. Gesammelte Daten können aus nahezu allen Quellen stammen: angefangen bei jeglicher elektronischer Kommunikation im Internet und in sogenannten "Sozialen Netzwerken", Kundenkarten- und Zahlungskarten-Abrechnungen, mithilfe von Smartphone-Anwendungen, von Behörden und Firmen gesammelte Daten, bis hin zu den Aufzeichnungen verschiedenster Überwachungs- und Kontrollsysteme. Gleichzeitig werden Unternehmen und Staaten immer besser darin, diese Daten auszuwerten und für sich und ihre Zwecke nutzbar zu machen, d.h. aus großen Datenmengen auf einzelne Individuen zu schließen.
Die Vorratsdatenspeicherung – ein Rückblick
Die islamistisch motivierten Terroranschläge auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher im Januar 2015 spielten den Befürwortern der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung in die Hände. Obwohl es zu den wertvollen Errungenschaften aufgeklärter Zivilisationen gehört, selbst schreckliche Ereignisse mit ruhigem Blick und Augenmaß zu beurteilen, forderten – wie leider üblich geworden - reflexartig Politiker erst der Union und dann auch der SPD die Speicherung von Telefon- und Internet-Daten, als die Opfer noch nicht einmal beerdigt waren.
Die mit dem Thema Vorratsspeicherung verbundene Problematik geht zurück bis ins Jahr 1983, als das Bundesverfassungsgericht im "Volkszählungsurteil" das Recht der Bürger auf "informationelle Selbstbestimmung" als Grundrecht anerkannt hat. 2002 setzte auch die EU mit ihrer Richtlinie zum Schutz der Privatsphäre noch auf den Datenschutz. Dies änderte sich nach den Terroranschlägen 2004 in Madrid und 2005 in London. Die Vorratsdatenspeicherung wurde 2006 in einer neuen EU-Richtlinie beschlossen und die EU-Mitgliedstaaten wurden zur gesetzlichen Umsetzung verpflichtet.
Deutschland setzte 2008 diese Richtlinie zur anlasslosen Speicherung von Verbindungsdaten um. 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für unvereinbar mit dem Grundgesetzt, da dieses "nachhaltige Einschüchterungseffekte auf die Freiheitswahrnehmung" habe. 2013 beschließt die Große Koalition im Koalitionsvertrag, die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erneut aufzugreifen. Im April 2014 kippt der Europäische Gerichtshof (EuGH) diese EU-Richtlinie, da sie mit der Charta der EU-Grundrechte unvereinbar ist. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vize-Kanzler Sigmar Gabriel (SPD) erklärten nach dem Urteilsspruch, an einer Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung festhalten zu wollen.
Bringt mehr Überwachung auch mehr Sicherheit?
Die Dokumentation zur Medaillenverleihung ist jetzt verfügbar. Sie ist unter dem Titel "Mutige Aufklärer im digitalen Zeitalter" (ISBN 978–3–944545–07–3) bei der Ossietzky Verlag GmbH erschienen. Sie umfasst 100 Seiten und kostet 8,00 Euro.
Durch die Enthüllungen von Edward Snowden ist seit Jahren bekannt, dass die USA und das Vereinigte Königreich mit ihren Geheimdiensten in großem Maßstab seit spätestens 2007 insbesondere das Internet global und verdachtsunabhängig überwachen. Auch die Protagonisten der Terrorbekämpfung in Deutschland sammeln, speichern und tauschen schon jetzt eine Vielzahl von Daten aus.
Der ehemalige Bundesdatenschützer Peter Schaar fordert einen Nachweis der Notwendigkeit: "Wer Grundrechte einschränkt, ist beweispflichtig". Und auch Bruce Schneier, einer der weltweit bekanntesten Experten für Verschlüsselung, sieht bei der Überwachungsdebatte einen falschen Gegensatz: Die Vorstellung, dass man sich zwischen Sicherheit und Privatsphäre entscheiden müsse, ist falsch.
Etappensieg der Behörden im Kampf gegen Bürgerrechte
Der Bundestag hat am 16. Oktober 2015 die Vorratsdatenspeicherung mal wieder beschlossen – gegen alle Kritik und Bedenken: Trotz einer erdrückenden Faktenlage haben Abgeordneten des Bundestags mit großer Regierungsmehrheit wieder für eine abgewandelte Art von Vorratsdatenspeicherung gestimmt. Jedoch hat dieses Mal sogar jeder vierte SPD-Abgeordnete gemeinsam mit den Abgeordneten von Bündnisgrünen und Linke gegen die Vorratsdatenspeicherung gestimmt.
Die Vorratsdatenspeicherung hat schon früher viel Geld gekostet, für aufwendige Gerichtsverfahren aber auch für die dafür notwendige technische Infrastruktur der Telekommunikationsanbieter. Am Ende werden dann die Kosten auf uns Kunden umgelegt, so dass wir letztlich unsere eigene Überwachung bezahlen müssen.
Spiegel Online schreibt dazu am 17.10.2015: "Als die Gerichte entschieden, dass die Speicherung gegen Grundrechte verstößt, mussten die verantwortlichen Politiker keine Konsequenzen ziehen: Niemand musste zurücktreten, niemand wurde dafür bestraft, dass er etwas beschlossen hat, das das Grundgesetz untergräbt. (…) Es kann aber nicht die Aufgabe unserer Politiker sein, Gesetze zu machen, die haarscharf an einem Verbot vorbeischrammen. Oder Maßnahmen zu beschließen, die gerade eben so mit dem Grundgesetz vereinbar, mit Ach und Krach rechtsstaatlich sind. Oder auch eben nicht mehr. Doch selbst in diesem Fall bleibt so eine politische Fehlentscheidung ohne Sanktionen für die Verantwortlichen."
Einsichten und Wirkungsmöglichkeiten – ein Beispiel
Notwendig ist nun ein gemeinsames zivilgesellschaftliches Engagement gegen Überwachungsfanatiker in Deutschland, Europa und den USA.
Vor knapp einem Jahr erhielten Edward Snowden, Laura Poitras und Glenn Greenwald die Carl-von Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte für ihre Zivilcourage und ihr herausragendes Engagement für die Verwirklichung der Menschenrechte.
In seiner Laudatio für die Preisträger 2014 führte Gerhart Baum, ehem. Bundesinnenminister, aus: "Es ist Snowdens Verdienst, dass er der Welt offenbart hat, was tatsächlich geschieht. (…) In die Öffentlichkeit durchgedrungen ist er mit Hilfe der Entschlossenheit, der journalistischen Professionalität und der Risikobereitschaft der beiden anderen Preisträger – Glenn Greenwald und Laura Poitras. (…) Vor allem ein mutiges Medium, der Guardian in London, hat mitgespielt. Er hat sich nicht der Selbstzensur unterworfen, wie andere, die sich in solchen Fällen der Veröffentlichung verweigern."
Und Gerhart Baum fuhr fort: "Die Enthüllungen haben offengelegt, dass die Souveränität unseres Landes und die Grundrechte seiner unbescholtenen Bürger durch eine anlasslose Massenausspähung aller Kommunikationsdaten (…) zutiefst verletzt worden sind – und täglich weiter verletzt werden. (…) Außerdem sind wir einem System staatlich sanktionierter Wirtschaftsspionage ausgesetzt - und das alles von Seiten befreundeter und verbündeter Staaten. (…) Ohne Privatsphäre und ohne Vertraulichkeit unserer Kommunikation gibt es keine freie Meinungsbildung und letztlich keine Demokratie. Darum hat Snowden gehandelt."
1 Kommentar
Kommentare
Arne Babenhause... am Permanenter Link
Für mich ist das ein weiterer Grund, technische Wege zu nutzen, um Privatsphäre und Redefreiheit zu wahren. Verbreitete Möglichkeiten dazu sind Tor, i2p und das Freenet Projekt.
Ich persönlich nutze den Tor Browser, wann immer ich nach medizinischen Informationen suche, und Freenet, wenn ich vertraulich mit Freunden sprechen oder Pseudonym veröffentlichen will.
Technische Mittel zum Schutz der Privatsphäre sind alleine nicht ausreichend, aber wenn genügend Leute sie nutzen, wird Überwachung so viel schwieriger, dass Datenschützer die notwendige politische Handhabe bekommen, um gegen Überwachung vorzugehen.
Solange Überwachung wie heute effektiv aus der Portokasse bezahlt werden kann, ist es sehr schwer, sie zu verhindern.