Außer finanzieller Gegenleistung soll die Türkei für ihre Abwehrbereitschaft zum sicheren Dritt- und Herkunftsstaat gekürt werden, in das Flüchtlinge, die in EU und Deutschland Schutz suchen, vereinfacht abgeschoben werden können. Dies wäre angesichts der Menschenrechtssituation geradezu absurd und verfassungswidrig: ein Verstoß gegen Asylgrundrecht und Genfer Flüchtlingskonvention. Denn einem Staat, dem die EU selbst (in ihrem bislang immer noch zurückgehaltenen "Fortschrittsbericht") systematische Verstöße gegen Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie mangelhafte Rechtsstaatlichkeit bescheinigt, kann und darf nach geltendem Recht ein solches politisches "Gütesiegel" nicht ausgestellt werden – schon gar nicht, um so eine unmenschliche Flüchtlingspolitik durchzusetzen, und schon gar nicht in Kooperation mit einem undemokratisch-autoritären Regime, das selbst Fluchtursachen schafft.
Auch die angestrebte enge Zusammenarbeit bei den Kontrollen in der Ägäis und entlang der EU-Außengrenzen, um Flüchtlinge auf dem Weg durch die Türkei von ihrer Weiterreise nach Europa gewaltsam abzuhalten, wäre ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.
Am 1. November fand die Neuwahl statt – in einem Klima des Hasses und der Angst, in einer Situation massiver Einschüchterung und Repression gegen Kurden, regierungskritische Medien, Journalisten, Politiker und Anwälte. Sie fand statt in einer Zeit eskalierender Gewalt mit Straßen- terror, Anschlägen und Morden, mit Ausgangs- sperren, Polizeirazzien, Massenverhaftungen, Misshandlungen und Erschießungen. Unter solch katastrophalen Bedingungen war an eine faire demokratische Wahl kaum zu denken; deshalb stand die Wahl zu Recht unter internationaler Beobachtung (eine Auswertung steht noch aus).
Nach der Wahl ist von EU und Bundesregierung endlich ein radikaler Wandel ihrer Türkeipolitik zu fordern. Die EU-Beitrittsverhandlungen sollten zügig wieder aufgenommen werden – jedoch unter klaren Bedingungen. Erstens: Beendigung des Krieges und der Gewalteskalation durch sofortigen Waffenstillstand des türkischen Staates und der PKK (wie es auch die HDP fordert). Zweitens: unverzügliche Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit dem Ziel einer demokratischen und gerechten Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts. Drittens: keine Einstufung der Türkei als sicheres Dritt- oder Herkunftsland und Schaffung legaler Fluchtwege über die Türkei. Viertens: unabhängige internationale Aufklärung der Anschläge in Ankara, Diyarbakir und Suruç sowie der Anschläge, die der PKK zugerechnet werden. Fünftens: internationale Anerkennung des kurdischen Autonomiemodells in Rojava/Kobanê und Ermöglichung humanitärer Hilfe beim Wiederaufbau Kobanês, um das demokratische Selbstverwaltungsmodell im Kampf gegen den IS – aber auch gegen türkische Anfeindungen – zu stabilisieren.
Darüber hinaus ist an die Forderungen unter anderem der Internationalen Liga für Menschenrechte gegenüber EU und Bundesregierung zu erinnern, das 1993 verhängte, undemokratische Betätigungsverbot für die PKK in der Bundesrepublik unverzüglich aufzuheben, die Verfolgung der PKK als ausländische "terroristische Vereinigung" nach Paragraph 129b Strafgesetzbuch einzustellen sowie die PKK von der rechtsstaatswidrigen EU-Terrorliste zu streichen.
Denn nur unter diesen Bedingungen können Bundesrepublik und EU glaubhaft den so wichtigen Dialog mit der kurdischen Bevölkerung und mit der PKK ermöglichen und zugleich dem EU- Beitrittskandidaten Türkei signalisieren, dass sie es mit der friedlichen und demokratischen Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts als Vorbedingung für einen EU-Beitritt wirklich ernst meinen.
Erstveröffentlichung in "Ossietzky". Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft Nr. 22/2015 vom 07.11.2015