BERLIN (hpd) Die Neuwahl in der Türkei ist entschieden: Die islamisch-konservative AKP hat wider Erwarten die absolute Mehrheit zurückerobert, die sie bei der regulären Wahl im Juni verloren hatte; die prokurdische HDP ist von über 13 auf knapp 11 Prozent gefallen, schafft aber den Wiedereinzug ins Parlament. Unabhängige Wahlbeobachter kritisieren, dass die Wahl im Vorfeld unter Einschüchterung und Angst, Repression und Gewalt gelitten habe, dass die freie Medienberichterstattung behindert und das Wahlergebnis dadurch negativ beeinflusst worden sei. Auch an der Stimmen-Auswertung gibt es Zweifel, weshalb eine unabhängige Untersuchung der Wahl gefordert wird.
Angesichts der neuen Machtverhältnisse gehen Kritiker der AKP und des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, gehen regierungskritische Journalisten und Medien, die politische Opposition des Landes, insbesondere aber Kurdinnen und Kurden schweren Zeiten entgegen - Zeiten, die sich bereits seit der regulären Wahl im Juni 2015 Bahn brechen und die zu einem autoritär-diktatorischen Präsidialsystem führen könnten, das AKP und Erdogan anstreben.
Politische Beobachter befürchten nun eine Fluchtwelle aus der Türkei in Richtung Europa - ein Europa, das den EU- Beitrittskandidaten Türkei gerade wegen der schwer zu bewältigenden "Flüchtlingskrise" zur "Pufferzone" machen, womöglich zum "sicheren Dritt- und Herkunftsstaat" erklären möchte – ungeachtet der staatlichen Repressionspolitik, der eskalierenden Gewalt und systematischen Menschenrechtsverstöße in dem tief zerrissenen Land.
Trotz bürgerkriegsähnlicher Zustände, trotz aller Ungewissheit vor und nach der Neuwahl haben EU und Deutschland – unter dem Druck der "Flüchtlingskrise" in Europa - wieder ihr Interesse an dem EU-Beitrittkandidaten Türkei entdeckt. Ausgerechnet jetzt, in einer menschenrechtlich höchst dramatischen Situation, wird die Türkei aus politisch-opportunistischen Gründen geradezu hofiert und als Verhandlungspartner wiederentdeckt.
Zwischen der regulären Wahl im Juni und der erzwungenen Neuwahl haben die AKP-dominierte Übergangsregierung und Staatspräsident Erdoğan – nicht zuletzt aus machterhaltenden und wahltaktischen Gründen – den begonnenen Friedensprozess zur Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts abgebrochen und der kurdischen Bevölkerung, ihren Organisationen und Parteien abermals den Krieg erklärt. Sie lassen wieder PKK- Stellungen in der Türkei und im Nordirak bombardieren (wobei die neue Gewalteskalation auch von der PKK mitzuverantworten ist), sie ließen kurdische Zivilisten zu Tausenden inhaftieren und Mitglieder der prokurdischen Bündnispartei HDP gezielt attackieren und als PKK-Sympathisanten kriminalisieren, obwohl diese für ein Ende des bewaffneten Kampfes eintreten. Außerdem lastet der schwere Vorwurf auf der türkischen Regierung, sie habe IS-Kämpfer unterstützt – und es gibt durchaus konkrete Belege dafür.
Zudem konnten oder wollten die türkischen Sicherheitsorgane die zahlreichen nationalistischen Übergriffe auf Zeitungsredaktionen und kurdische Einrichtungen nicht verhindern, obwohl sie teils unter den Augen der Polizei und eines riesigen Sicherheitsapparats geschahen. Genauso wenig verhinderten sie die verheerenden Anschläge auf kurdische und linke Friedensaktivisten in Suruç, auf eine HDP-Wahlkampfkundgebung in Diyarbakır sowie das jüngste und folgenschwerste Massaker in der Geschichte der Türkei in Ankara mit über 100 Toten – trotz konkreter Warnungen und obwohl die mutmaßlichen IS-Täter polizeibekannt waren und unter Beobachtung standen. Die Anschläge richteten sich gegen eine Großdemonstration für Frieden und Demokratie unter anderem der HDP und damit gegen eine Wiederaufnahme des türkisch-kurdischen Friedensprozesses.
Der NATO-Partner und EU-Beitrittskandidat Türkei befindet sich praktisch im Ausnahmezustand und steht womöglich am Rande eines Bürgerkriegs – und soll nun, in offenem Widerspruch dazu, von der EU zu einem "sicheren Dritt- und Herkunftsstaat" deklariert werden. Damit wäre auch die Gefahr verbunden, dass etwa Kurden mit türkischem Pass, die vor politischer Verfolgung in der Türkei geflohen waren und Schutz in EU-Ländern fanden, ihren sicheren Aufenthaltsstatus verlieren und erleichtert abgeschoben werden könnten.
Die Türkei hat zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan aufgenommen – das ist beachtlich und unterstützenswert. Doch der EU und Deutschland geht es bei ihren neuerlichen Avancen in erster Linie um die türkische Beihilfe zur verschärften Abwehr dieser Flüchtlinge und um die Absicherung der EU-Abschottungspolitik. Der Türkei kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Denn sie hat nicht nur – angesichts der Nahostkrise wachsende – (militär-) strategische Bedeutung, sondern stellt auch für Europa eine Art "Schutzwall" dar, "um uns die Flüchtlinge sozusagen vom Hals zu halten", wie der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen formuliert ("Wir brauchen die Türkei", FR, 21.10.15). Die liberale Zeitung Taraf (Istanbul) bringt es so auf den Punkt: "Die Türkei soll ein Gefängnis für syrische Flüchtlinge werden. Die Türkei soll der Gefängniswärter sein, und die EU zahlt."
Außer finanzieller Gegenleistung soll die Türkei für ihre Abwehrbereitschaft zum sicheren Dritt- und Herkunftsstaat gekürt werden, in das Flüchtlinge, die in EU und Deutschland Schutz suchen, vereinfacht abgeschoben werden können. Dies wäre angesichts der Menschenrechtssituation geradezu absurd und verfassungswidrig: ein Verstoß gegen Asylgrundrecht und Genfer Flüchtlingskonvention. Denn einem Staat, dem die EU selbst (in ihrem bislang immer noch zurückgehaltenen "Fortschrittsbericht") systematische Verstöße gegen Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie mangelhafte Rechtsstaatlichkeit bescheinigt, kann und darf nach geltendem Recht ein solches politisches "Gütesiegel" nicht ausgestellt werden – schon gar nicht, um so eine unmenschliche Flüchtlingspolitik durchzusetzen, und schon gar nicht in Kooperation mit einem undemokratisch-autoritären Regime, das selbst Fluchtursachen schafft.
Auch die angestrebte enge Zusammenarbeit bei den Kontrollen in der Ägäis und entlang der EU-Außengrenzen, um Flüchtlinge auf dem Weg durch die Türkei von ihrer Weiterreise nach Europa gewaltsam abzuhalten, wäre ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.
Am 1. November fand die Neuwahl statt – in einem Klima des Hasses und der Angst, in einer Situation massiver Einschüchterung und Repression gegen Kurden, regierungskritische Medien, Journalisten, Politiker und Anwälte. Sie fand statt in einer Zeit eskalierender Gewalt mit Straßen- terror, Anschlägen und Morden, mit Ausgangs- sperren, Polizeirazzien, Massenverhaftungen, Misshandlungen und Erschießungen. Unter solch katastrophalen Bedingungen war an eine faire demokratische Wahl kaum zu denken; deshalb stand die Wahl zu Recht unter internationaler Beobachtung (eine Auswertung steht noch aus).
Nach der Wahl ist von EU und Bundesregierung endlich ein radikaler Wandel ihrer Türkeipolitik zu fordern. Die EU-Beitrittsverhandlungen sollten zügig wieder aufgenommen werden – jedoch unter klaren Bedingungen. Erstens: Beendigung des Krieges und der Gewalteskalation durch sofortigen Waffenstillstand des türkischen Staates und der PKK (wie es auch die HDP fordert). Zweitens: unverzügliche Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit dem Ziel einer demokratischen und gerechten Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts. Drittens: keine Einstufung der Türkei als sicheres Dritt- oder Herkunftsland und Schaffung legaler Fluchtwege über die Türkei. Viertens: unabhängige internationale Aufklärung der Anschläge in Ankara, Diyarbakir und Suruç sowie der Anschläge, die der PKK zugerechnet werden. Fünftens: internationale Anerkennung des kurdischen Autonomiemodells in Rojava/Kobanê und Ermöglichung humanitärer Hilfe beim Wiederaufbau Kobanês, um das demokratische Selbstverwaltungsmodell im Kampf gegen den IS – aber auch gegen türkische Anfeindungen – zu stabilisieren.
Darüber hinaus ist an die Forderungen unter anderem der Internationalen Liga für Menschenrechte gegenüber EU und Bundesregierung zu erinnern, das 1993 verhängte, undemokratische Betätigungsverbot für die PKK in der Bundesrepublik unverzüglich aufzuheben, die Verfolgung der PKK als ausländische "terroristische Vereinigung" nach Paragraph 129b Strafgesetzbuch einzustellen sowie die PKK von der rechtsstaatswidrigen EU-Terrorliste zu streichen.
Denn nur unter diesen Bedingungen können Bundesrepublik und EU glaubhaft den so wichtigen Dialog mit der kurdischen Bevölkerung und mit der PKK ermöglichen und zugleich dem EU- Beitrittskandidaten Türkei signalisieren, dass sie es mit der friedlichen und demokratischen Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts als Vorbedingung für einen EU-Beitritt wirklich ernst meinen.
Erstveröffentlichung in "Ossietzky". Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft Nr. 22/2015 vom 07.11.2015