Der "menschliche Faktor" - Weshalb das Abkommen nicht funktionieren kann

Ein Jahr Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei (Teil 2)

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Flüchtlinge in Ungarn unterwegs nach Österreich (4. September 2015)
Flüchtlinge in Ungarn unterwegs nach Österreich

Gerald Knaus, Politikberater und Vordenker des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei ist davon überzeugt, die Probleme Europa zu verstehen und adäquate Lösungen anzubieten. Sein Konzept zum Flüchtlingsdeal mag sich sich auf dem Papier womöglich noch gut lesen, scheitert im realen Leben jedoch ganz schnell am "menschlichen Faktor". Den hat Knaus in mehrfacher Hinsicht nur sehr unzureichend einbezogen. Stattdessen ist er offenbar – durchaus ein wenig weltfremd - vom Good Will aller Beteiligten ausgegangen.

Kennern dagegen war von vornherein klar, dass sein mit buchhalterischer Stringenz verfasstes Konzept ("ihr nehmt x Personen zurück, und wir nehmen euch x Personen wieder ab") schon allein an der mangelnden Solidarität der EU-Mitgliedsstaaten scheitern muss. Die meisten von ihnen sind zufrieden, dass ihr Land aufgrund der blockierten Balkanroute und des Flüchtlingsdeals von weiteren Flüchtlingen "verschont" bleibt – und das soll bitte auch so bleiben.

Die Journalistin Sybille Hamann stellte in einem ZEIT-Artikel über Knaus (2008) fest: "Wenn es eine Frage gibt, die den mit allen europäischen Problemen vertrauten Mann ratlos macht, dann diese: Wovor fürchten sich viele Menschen so sehr? Woher kommt die Angst vor jener Welt, die er selbst nie als Bedrohung, sondern immer nur als Chance angesehen hat? So sehr sich Gerald Knaus auch bemühen mag, die Angst der anderen als abstraktes Phänomen zu begreifen - sie nachzufühlen gelingt ihm beim besten Willen nicht." Diese Einschätzung aus dem Jahr 2008 scheint auch heute noch zuzutreffen.

Inzwischen dämmert es allerdings auch Knaus: "Ich habe manchmal das Gefühl, jetzt wo die Zahlen zurückgegangen sind, wenden sich auch die Regierungen ab." Das kam in Knaus Planungen nicht vor.

Er hat in seinen Planungen offenbar auch nicht berücksichtigt, dass die Eiligkeit, mit der das Abkommen umgesetzt wurde, zwangsläufig zu einem heillosen Kompetenz- und Organisations-Chaos führen musste. Alle Strukturen mussten von Null aufgebaut werden, und nicht alle waren willens, sich daran zu beteiligen. Drei Monate nach Inkrafttreten des Abkommens war noch kein einziger Flüchtling aus Griechenland in die Türkei zurückgeschickt worden. Von 600 Sachbearbeitern aus ganz Europa, die die EU nach Griechenland schicken wollte, um die dortige Bürokratie zu entlasten, waren erst 65 in Griechenland angekommen. Hinzu kam, dass Griechenland sich zu viel Einmischung von außen verbat.

Auch die Rückführung ausgewählter Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa gestaltet sich als sehr zähe Angelegenheit. Im Juli 2016 waren gerade mal 711 Flüchtlinge die EU eingereist. Im Januar 2017 waren es 2.957 - bei einem geplanten Gesamtkontingent von bis zu 72.000 Flüchtlingen. Ärger gab es, weil die Türkei hochqualifizierte syrische Flüchtlinge im eigenen Land behielt und vor allem sogenannte "Härtefälle", schwere medizinische Fälle oder Flüchtlinge mit sehr niedriger Bildung in die EU ausreisen ließ.

Hinzu kommt, dass Gerald Knaus die Flüchtlinge nicht versteht. Er glaubt, dass sich diese Menschen, statt illegal weiterzuziehen oder in Griechenland auszuharren, freiwillig in die Türkei zurückbegeben würden, wenn das Flüchtlingsabkommen nur organisatorisch auch wirklich funktionieren würde. Denn das sei doch für sie doch viel sicherer.

Nun haben aber gar nicht alle Menschen, die in die Türkei zurückgehen, eine Chance, von dem Abkommen zu profitieren. Es berücksichtigt ja nur syrische Flüchtlinge. Irakische oder afghanische Flüchtlinge zum Beispiel sind pauschal ausgeschlossen. Speziell nicht-syrische Flüchtlinge haben also keinerlei Anreiz, in die Türkei zurückzukehren.

Der Deal lautet außerdem nicht: "DU kehrst zurück, und DU darfst dann auch legal wieder einreisen." Auch syrische Flüchtlinge können sich nach einer Rückkehr in die Türkei also keinesfalls sicher sein, wieder nach Europa einreisen zu dürfen. Dieses Risiko werden vor allem Flüchtlinge, deren Verwandte bereits in Europa leben, nachvollziehbar nicht eingehen wollen. Sie haben es bereits nach Europa geschafft, das Recht, dort einen Asylantrag zu stellen und bei einer Anerkennung auch bleiben zu dürfen. Wieso sollten sie Europa also freiwillig wieder verlassen und sich auf deutlich schlechtere rechtliche Rahmenbedingungen in der Türkei einlassen? Zumal es durchaus möglich ist, dass für die Einreise nach Europa syrische Flüchtlinge bevorzugt werden, die die Türkei zuvor nie verlassen haben, falls sie die entsprechenden Auswahlkriterien der Türkei besser erfüllen. Besonders Akademiker müssen befürchten, dass sie, wenn sie sich auf eine Rückkehr in die Türkei einlassen, das Land nicht mehr Richtung EU verlassen werden, weil die Türkei sie für sich behalten will.

Die Flüchtlinge, die eisern auf den griechischen Inseln ausharren, sind also nicht etwa zu blöd, um zu verstehen, dass man ihnen doch eigentlich etwas Gutes will. Für sie ist das Flüchtlingsabkommen nichts Gutes. Ihnen war von Anfang an klar, dass es nur den Interessen der EU dient, aber nicht ihren. Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie sie in der Türkei leben müssten, ohne jede Aussicht auf Verbesserung. Solange sie sich auf EU-Gebiet aufhalten, bleibt ihnen zumindest die Hoffnung, dass irgendwann alles besser werden kann. Und diese Hoffnung ist zutiefst menschlich. Es heißt ja, sie stirbt zuletzt.

Europas Interessen stehen dem diametral entgegen. Gesamteuropäische Solidarität und die Einhaltung der Menschenrechte haben offenkundig nur auf dem Papier eine hohe Priorität. In Wirklichkeit vertritt jeder Staat vor allem seine eigenen Interessen

Die Lösung ist demnach nicht, möglichst vielen außereuropäischen Staaten Geld dafür geben, dass sie Flüchtlinge gegen deren Willen davon abhalten, Europa zu erreichen, schon gar nicht zwielichtigen Staatspräsidenten oder Diktatoren. Der richtige Adressat ist nach wie vor die UNO-Flüchtlingshilfe. Die klagt seit Jahren darüber, dass auf den Geberkonferenzen stets großzügige Summen angekündigt werden, um die Flüchtlingslager in den Krisenregionen zu unterstützen, dass aber nur ein kleiner Teil der Zahlungen tatsächlich erfolgt. Zwar sind viele europäische Staaten zuverlässiger Zahler, und speziell Deutschland ist bekannt dafür, großzügige Summen zu überweisen. Daher stellt sich die EU insgesamt auf den Standpunkt, sie zahle ja, im Unterschied zu anderen Staaten, speziell den reichen Ölstaaten im Nahen Osten.

Auf diesen Standpunkt konnte man sich bislang womöglich stellen, aber da sich die großen Fluchtbewegungen nicht gen Saudi-Arabien bewegen, sondern Richtung Europa, sollte die EU schon aus purem Eigennutz dafür sorgen, dass genügend Gelder an das UN-Flüchtlingshilfswerk fließen.

Solange die Flüchtlingslager in den Anrainerstaaten ausreichend Schutz und Versorgung bieten, bevorzugen die meisten Flüchtlinge diese Option. Das war in den vergangenen Jahren jedoch nicht mehr der Fall. Das UN-Flüchtlingshilfswerk musste mangels Geld über mehrere Jahre hinweg immer wieder die Essensrationen drastisch kürzen. Viele Flüchtlinge konnten auch nicht mehr ausreichend mit Heizöl, Isoliermaterial, Decken und warmer Kleidung versorgt werden.

Das Flüchtlingshilfswerk warnte daher mehrfach davor, dass diese Unterversorgung zwangsläufig zu großen Fluchtbewegungen Richtung Europa führen werde. Und 2015, nach Jahren unzumutbarer Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern vor Ort, waren die Flüchtlinge dann tatsächlich da, mitten in Zentraleuropa, und nicht mehr nur an dessen Rändern. Es war also ein Marsch mit "Ansage". Dennoch gaben sich viele Politiker vollkommen überrascht, das habe man ja nicht vorhersehen können. Doch. Konnte man.

Wichtig ist also, dass die Flüchtlinge in den Anrainerstaaten der Krisengebiete gut versorgt werden können, es muss genügend Kleidung und Nahrung vorhanden sein, Hygiene und ärztliche Versorgung müssen gesichert sein, Kinder muss Schulunterricht ermöglicht werden, auch Spielmöglichkeiten müssen vorhanden sein. Erwachsenen sollten eine Möglichkeit haben, sich sinnvoll beschäftigen, damit ihnen nicht die (Zelt-)decke auf den Kopf fällt. Es braucht außerdem psychologische Betreuung für traumatisierte Menschen.

Auch die Sicherheit im Flüchtlingslager muss gewährleistet sein. Tatsächlich geht es oft drunter und drüber, die Prostitution blüht, ebenso wie sexuelle Übergriffe, speziell Frauen und Kinder sind nicht sicher. Vor allem in Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon, im Irak und der Türkei ist die Zahl der Kinderehen drastisch angestiegen. Dahinter steckt oft der Wunsch, der eigenen Tochter vermeintliche Sicherheit zu bieten und ihre Ehre zu bewahren. Auch Armut und mangelnde Versorgung im Camp sind ist ein häufiger Grund, ein Mädchen zu verheiraten, selbst wenn es noch minderjährig ist.

Um ausreichende Sicherheit und Versorgung zu gewährleisten, braucht das UN-Flüchtlingswerk Geld. Richtig viel Geld. Europa als insgesamt reicher Kontinent wäre in der Lage, deutlich mehr zu zahlen als bisher. Unter dem Strich wäre das finanziell immer noch günstiger als die Kosten, die durch jene Flüchtlinge entstehen, die bei uns leben. Und womöglich werden sich in Zukunft dann auch wieder weniger Menschen auf den Weg machen. Freiwillig, und nicht, weil man sie daran hindert.

Auch dieser Vorschlag ist sicher kein Allheilmittel, und alternativlos schon gar nicht. Er orientiert sich allerdings näher an den tatsächlichen Interessen der beteiligten Parteien, als es bei dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei der Fall ist.

Selbstverständlich könnte Europa auch noch weitere Flüchtlinge verkraften, wenn die EU-Mitgliedsstaaten in diesem Punkt solidarisch zusammenstünden. Dass wir diese Solidarität demnächst auch in der Praxis sehen werden, ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Leider.