Warum eine Debatte über das Verhältnis von Religion und Sexualität überfällig ist

Sexuelle Zwangsneurosen

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Egon Schiele (1890-1918), 1911 wegen "Verbreitung unsittlicher Zeichnungen" verurteilt

BERLIN. (gbs) Anlässlich der anhaltenden Diskussionen um die Ereignisse in Köln, bei denen in der Silvesternacht zahlreiche Frauen zu Opfern sexueller Belästigungen und sexueller Gewalt wurden, hält die Giordano-Bruno-Stiftung eine Debatte über das Verhältnis von Religion und Sexualität für dringend erforderlich.

"Wie beim Terrorismus werden auch bei Formen sexueller Gewalt die religiös-kulturellen Hintergründe nach dem Motto 'Das hat doch nichts mit Religion zu tun!' heruntergespielt", erklärte gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon. "Tatsächlich werden sexuelle Diskriminierung und sexuelle Gewalt jedoch weltweit in erschreckendem Umfang religiös legitimiert. Der Grund dafür ist offensichtlich, denn die Verhinderung einer freien, selbstbestimmten Sexualität ist seit jeher eine zentrale Stütze religiöser Herrschaft."

Die sexuelle Revolution, die in den westlichen Ländern in den letzten Jahrzenten den Weg zu einer offeneren Gesellschaft ebnete, sei in muslimischen, aber auch in hinduistischen Gesellschaften (Beispiel Indien), noch nicht angekommen, sagte Schmidt-Salomon. Patriarchale, frauenverachtende Normen und Verhaltensweisen würden daher den Alltag in den meisten muslimischen Ländern bestimmen. Vor diesem Hintergrund müssten auch die Ereignisse in Köln verstanden werden. Wer versuche, sie mithilfe von Vorfällen auf dem Oktoberfest zu relativieren, demonstriere damit ein erschütterndes Maß an Realitätsverleugnung, die im Ansatz vielleicht gut gemeint, letztlich aber kontraproduktiv sei.

"Natürlich ist es unsinnig und gefährlich, zu behaupten, dass alle muslimischen Männer  im Sinne überkommener patriarchaler Normen denken und handeln", sagte der gbs-Sprecher. "Doch ebenso unsinnig und gefährlich ist es, die Tatsache zu ignorieren, dass diese Normen innerhalb der Gruppe der muslimischen Männer im Durchschnitt signifikant häufig anzutreffen sind. Denn die Gesellschaft kann auf dieses Problem nur dann mit geeigneten Maßnahmen reagieren, wenn das Problem als solches erkannt wird."

Schmidt-Salomon zeigte sich optimistisch, dass die Dominanz rigider Sexualnormen innerhalb der muslimischen Community aufgehoben werden kann, sofern man sie öffentlich als "unaufgeklärt und reaktionär" kennzeichne und bekämpfe, statt sie "kulturrelativistisch zu beschönigen". Er verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass autoritär-patriarchale Normen vor 50 Jahren auch in deutschen, christlichen Familien breite Anerkennung fanden und CDU/CSU-Politiker erst vor wenigen Jahren zögerlich damit begannen, sich für Frauen- und Homosexuellenrechte einzusetzen: "Vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte ist es ebenso bemerkenswert wie belustigend, dass sich in der Integrationsdebatte ausgerechnet Vertreter der C-Parteien als Verfechter individueller Selbstbestimmungsrechte stilisieren. 

Um die dringend erforderliche Debatte um das Verhältnis von Sexualität und Religion voranzutreiben, veröffentlicht der hpd nachfolgend einen Artikel, den Michael Schmidt-Salomon vor knapp einem Jahrzehnt für die Zeitschrift MIZ schrieb. Der Text "Freie Liebe für freie Geister?" aus dem Jahr 2006 beschäftigt sich u.a. mit der Frage, warum die Religionen soviel Wert auf die Kontrolle der Sexualität legen.


Michael Schmidt-Salomon (MIZ 4/2006)

Freie Liebe für freie Geister? 

"Wenn ich über ‘Sex’ reden soll, packt mich die Wut!”, warnte mich Mina Ahadi, Koordinatorin des Internatonalen Komitees gegen Steinigungen vor dem Workshop zum Thema "Let’s talk about sex!” "Dabei wird mir immer wieder bewusst, wie sehr die religiösen Fundamentalisten unsere Schlafzimmer besetzt haben. Ich bin überzeugt: Man kann nicht über sexuelle Selbstbestimmung sprechen, ohne dabei die Religionen in schärfster Weise zu kritisieren.”

Ich kann Minas Wut gut verstehen. In der Tat haben die Religionen seit jeher gerade auf sexuellem Gebiet besonders schwere Geschütze aufgefahren. Noch heute legen sie allergrößten Wert darauf, darüber zu bestimmen, wer es wann mit wem auf welche Weise treiben darf und was dabei unter gar keinen Umständen erlaubt sein sollte. Wie ernst es ihnen mit diesem Anspruch ist, zeigt sich vor allem in jenen Gegenden, in denen religiöse Eiferer über politische Macht verfügen. So müssen Schwule im Iran bekanntlich noch immer mit der Todesstrafe rechnen. Und es ist auch beileibe kein Zufall, dass die grausamste aller heute praktizierten Hinrichtungsarten, die Steinigung, ausgerechnet bei "sexuellen Delikten” (insbesondere im Falle sog. "Ehebrecherinnen”) angewandt wird.

Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt: Warum bloß sind die großen Religionen – nicht nur der Islam, sondern ebenso das Judentum und Christentum, in anderer Weise auch der Buddhismus und der Hinduismus – derartig "sexbesessen”? Was – um alles in der Welt – ist dran am "Sex”? Weshalb wurde und wird gerade er immer wieder zum bevorzugten Kampfgebiet religiöser Ideologien?