Kommentar

Dieses Haus bedient keine Homosexuellen

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Demonstration vor dem SCOTUS (2015): mit dem Fall "Obergefell vs Hodges" erlaubte er die gleichgeschlechtliche Ehe. Das war noch bevor Trump das Gericht neu besetzte.
Demonstration vor dem SCOTUS

Mit dem Fall "303 Creative LLC v. Elenis" hat der Supreme Court of the United States (SCOTUS) kurz vor der Sommerpause noch einmal für entsetztes Staunen gesorgt. Angehörige sogenannter "expressiver Berufe" – wen genau das umfasst ließ der SCOTUS unglücklicherweise unbezeichnet – dürfen künftig offen Menschen diskriminieren, deren Lebensweise ihren eigenen religiösen Überzeugungen widerspricht. Fehlgeleiteter hätte dieses Urteil kaum sein können: Ein Kommentar.

Die aktuelle Sitzungsperiode des US-amerikanischen Verfassungsgerichts ist, so viel ist sicher, ein Fall für die Geschichtsbücher. Nicht etwa, weil sie derart dröge war, dass wir sie in irgendeine staubige Ecke unseres kollektiven Gedächtnisses verbannen können, sondern weil die Entscheidungen des SCOTUS derart inkongruent mit einem Großteil der US-amerikanischen Rechtsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg sind, dass die US-Bevölkerung ihre negativen Auswirkungen wohl noch in Jahrzehnten spüren wird.

Ende Juni entschied der SCOTUS einen dieser Fälle mit einer Tragweite, die kaum zu überschätzen ist. In "303 Creative LLC v. Elenis" urteilte das Gericht, dass Lorie Smith – eine christliche Webdesignerin, die präventiv dagegen klagte, Hochzeitswebsites für gleichgeschlechtliche Paare erstellen zu müssen – ihre Dienstleistungen homosexuellen Heiratswilligen offen verweigern darf. In den Worten der Verfasserin der Gegenposition, Richterin Sonia Sotomayor: "Das [klagende] Unternehmen argumentiert, und eine Mehrheit des Gerichts stimmt dem zu, dass die Redefreiheitsklausel des Ersten Verfassungszusatzes besagtes Unternehmen vor einem allgemein geltenden Gesetz schützt, das Diskriminierung beim Verkauf von öffentlich zugänglichen Waren und Dienstleistungen verbietet, weil das Unternehmen Dienstleistungen anbietet, die individuell und expressiv sind. Das ist falsch. Völlig falsch."

Man muss nun einen Schritt zurücktreten, um zu verstehen, was hier vor sich geht. Die meisten Menschen würden nämlich bereits jetzt intervenieren und einwerfen: "Diese Frau ist aber doch selbstständige Webdesignerin. Sie kann jeden Auftrag ohne Angabe von Gründen ablehnen. Warum sollte sie ein Recht einklagen, das sie längst hat?" Und diese Frage ist mehr als berechtigt – wir können sie nur verstehen, wenn wir das aktuelle politische Klima in den USA verstehen.

Selbstverständlich hat Frau Smith bereits jetzt das Recht, jeden Auftrag grund- und kommentarlos abzulehnen. Vertragsfreiheit wird gerade in den USA mit einem sehr, sehr großen V geschrieben. Was Frau Smith allerdings unter Colorados Antidiskriminierungsgesetz nicht hat, ist das Recht, ihre potentielle Kundschaft wissen zu lassen, dass sie sie abweist, weil sie homosexuell ist. Warum Frau Smith also diesen Rechtsstreit führt? Weil, in den Worten ihrer Klageschrift, "Gott mich ruft, für meinen Glauben einzutreten und seine wahre Botschaft über die Ehe zu verbreiten". Eben dieses Recht hat ihr der SCOTUS nun zugesprochen. Frau Smith, und alle anderen Angehörigen sogenannter "expressiver Berufe", dürfen künftig öffentlich sagen: "Dieses Haus bedient keine Homosexuellen."

Und als wäre es für eine offene, pluralistische Gesellschaft nicht schon Gift genug, Menschen das Recht zuzusprechen, andere aufgrund der eigenen Religion offen und ungeniert diskriminieren zu dürfen, ist die Entscheidung auch noch ein eklatanter Bruch mit der jüngeren Rechtsgeschichte.

So schreibt Richterin Sonia Sotomayor gleich zu Beginn ihrer Gegenposition: "Vor fünf Jahren erkannte dieses Gericht die 'allgemeine Regel' an, dass religiöse und philosophische Einwände gegen die gleichgeschlechtliche Ehe 'es Geschäftsinhaber*innen und anderen Akteur*innen in der Wirtschaft und der Gesellschaft nicht erlauben, geschützten Personen den gleichberechtigten Zugang zu Waren und Dienstleistungen im Rahmen eines neutralen und allgemein anwendbaren Gesetzes über öffentliche Unterkünfte zu verweigern'. […] Heute gewährt der Gerichtshof zum ersten Mal in seiner Geschichte einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Unternehmen das verfassungsmäßige Recht, sich zu weigern, Mitglieder einer geschützten Gruppe zu bedienen. […] Das Gericht stellt außerdem fest, dass das Unternehmen das Recht hat, einen Hinweis anzubringen, der besagt, dass 'keine [Hochzeits-Websites] verkauft werden, wenn sie für gleichgeschlechtliche Ehen verwendet werden'."

Der essentielle Punkt von Antidiskriminierungsgesetzen, so Sotomayor weiter, sei die Verhinderung der durch die explizite Abweisung entstehenden Entwürdigung. Die Richterin illustriert dies mit dem Beispiel eines Bestattungsunternehmens: "Stellen Sie sich vor, ein Bestattungsunternehmen im ländlichen Mississippi erklärt sich bereit, die Leiche eines verstorbenen älteren Mannes zu überführen, einzuäschern und eine Gedenkfeier auszurichten. Als das Unternehmen erfährt, dass der überlebende Ehepartner des Mannes ebenfalls ein Mann ist, weigert es sich jedoch, weiter mit der Familie zu sprechen. Die trauernde, isolierte und gedemütigte Familie sucht verzweifelt nach einem anderen Bestattungsunternehmen, das den Leichnam aufnimmt. […] Diese Ausgrenzung, dieses Anderssein, ist eines der bedrückendsten Gefühle, das unsere soziale Spezies empfinden kann."

Abschließend ist anzumerken, dass dieses Urteil unweigerlich eine Flut an ähnlichen Fällen nach sich ziehen wird. Da es der SCOTUS nämlich versäumt hat, die Tragweite der Entscheidung entweder auf Webdesigner*innen zu begrenzen oder aber zu erklären, welche Berufe als "expressiv" gelten, werden sich die US-amerikanischen Gerichte in den kommenden Jahren damit befassen müssen, ob Konditoreien, Tattoostudios, Architekturbüros und Unternehmen, die Maßanzüge herstellen, nicht auch "expressiv" sind. Geschäftsbereiche, die dieses Label erringen, dürfen dann nach Herzenslust diskriminieren und dies sogar auf Schildern und Website-Bannern in die Welt hinausschreien. "Wenn 303 Creative diesen Fall gewinnt", warnte David Cole, juristischer Direktor der American Civil Liberties Union, "darf jedes Geschäft, das als 'expressiv' gilt, Schilder aufstellen, auf denen steht, dass keine jüdischen, christlichen oder Schwarzen Menschen bedient werden."

Und tatsächlich liegen bereits Berichte vor, denen zufolge eine Haarstylistin aus Michigan öffentlich ankündigte, ihre Dienstleistungen künftig trans und queeren Menschen zu verweigern. Diese sollten "zu einer Haustierstylistin gehen", zitiert das Nachrichtenmagazin HuffPost verschiedene Social Media-Beiträge der Unternehmerin. Da ein 1977 verabschiedetes und kürzlich ergänztes Antidiskriminierungsgesetz des Bundesstaats Michigan derartiges Geschäftsgebaren aber verbietet, scheint es mehr als denkbar, dass die Stylistin die hier diskutierte Entscheidung des SCOTUS und ihre eigenen religiösen Überzeugungen heranziehen wird, um die öffentliche, präventive Ablehnung einer bestimmten Gruppe von Menschen zu rechtfertigen.

Wie man es auch dreht und wendet: "303 Creative LLC v. Elenis" ist eine der letzten Jahrzehnte des sozialen Fortschritts unwürdige Entscheidung. "Immer wieder haben Unternehmen und andere kommerzielle Entitäten das verfassungsmäßige Recht beansprucht, diskriminieren zu dürfen und immer wieder hat sich dieses Gericht dem mutig entgegengestellt. Bis heute. Heute kneift dieses Gericht", schreibt Sotomayor.

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