Geschichte der Migration

Vergessene Flüchtlinge (1)

ellis_island_air_photo.jpg

Ellis Island war lange Zeit Sitz der Einreisebehörde für den Staat und die Stadt New York und über 30 Jahre die zentrale Sammelstelle für Immigranten in die USA.
Ellis Island

BERLIN. (hpd) Die Flüchtlingsfrage wird hierzulande das beherrschende politische Thema 2016 und auch in den folgenden Jahren sein. Dabei ist die Flüchtlingskrise geschweige keine deutsche oder europäische Frage. Nur hat die westliche Welt sich seit Jahren weggeduckt und gehofft, mit einigen Millionen Euro humanitärer Hilfe werde sich das Problem schon irgendwie von allein lösen. Diese Politik konnte nicht erfolgreich sein.

Rund 60 Millionen Menschen weltweit versuchen derzeit, Krieg, Gewalt, religiöser Verfolgung oder akuter wirtschaftlicher Not in ihren Heimatländern zu entkommen – die höchste Zahl, die das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) jemals verzeichnet hat. Neun von zehn Flüchtlingen leben in Entwicklungsländern und die meisten von ihnen machen sich gar nicht auf den gefährlichen Weg nach Europa. Bezogen auf die Bevölkerungsgröße lebt der größte Anteil Geflüchteter in Libanon, Jordanien, Türkei und Tschad. “Die aktuellen Flüchtlingsbewegungen zeigen sehr deutlich, dass globale Probleme keine Grenzen kennen”, so Bärbel Dieckmann, Präsidentin der Welthungerhilfe.

Deutschland taucht nicht auf der Liste der 15 wichtigsten Aufnahmeländer bezogen auf die Bevölkerungsgröße auf. Aber die Bundesrepublik kann aufgrund ihrer ökonomischen Stärke mehr helfen und sie braucht Zuwanderung. Wer sich diesen Tatsachen verschließt, der sollte sich u.a. mit den demographischen Entwicklungen befassen. Die Bewältigung der aktuellen Flüchtlingsbewegungen von über einer Million Menschen nach Deutschland mit all ihren Aspekten (Unterbringung, Erlernen der deutschen Sprache, Bildung und Ausbildung, Arbeitsplätzen, Integration in unser Wertesystem) ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es ist eine Generationenaufgabe.

Bedrohungsängste, die sich heute in Europa vor allem in Furcht vor dem Islam äußern, sind nichts Neues. Auch in den USA sieht sich Präsident Barack Obama mit einer Front von Republikanern und 13 Bundesstaaten konfrontiert, die die Aufnahme von Menschen, die vor islamistischer Gewalt fliehen, strikt ablehnen. Davon wären 30 Staaten betroffen. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien vor vier Jahren haben die USA allerdings erst 1.500 Flüchtlinge aufgenommen; Obama will in diesem Jahr mindestens 10.000 Syrer und insgesamt 70.000 Flüchtlinge aus der ganzen Welt die Einreise ermöglichen. Ein Blick auf die Geschichte der USA zeigt, dass Migration zu den amerikanischen Traditionen gehört. Mit Erstaunen stellt man auch fest, dass die Deutschen, wie noch zu zeigen sein wird, zu einer der größten Einwanderungsgruppen der USA zu zählen sind.

So dramatisch die gegenwärtigen Ereignisse auch sind, Migrationsforscher weisen darauf hin, dass große Flüchtlingsbewegungen seit Jahrhunderten zur deutschen Geschichte gehören. Aber kaum jemand erinnert in der aktuellen Flüchtlingsdebatte daran, dass in der frühen Neuzeit böhmische und niederländische Glaubensflüchtlinge einwanderten, dass 1685 fast 50.000 Hugenotten aus Frankreich nach Deutschland flohen, 1913 rund 170.000 italienische Arbeitsmigranten kamen. Vergessen ist, dass 350.000 Polen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet Arbeit fanden und ihre Familien nachholten, dass in der Weimarer Republik 600.000 russische Emigranten sowie 70.000 Juden aus Osteuropa nach Deutschland einwanderten. 1964 wurde der Millionste “Gastarbeiter” in der Bundesrepublik begrüßt. Diese Menschen sollten eigentlich nur eine bestimmte Zeitspanne dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, die meisten von ihnen, ihre Familien und Kinderkindes aber blieben dauerhaft. Und fast niemand käme heute mehr auf die Idee, dass Italiener, Griechen, Türken und Vietnamesen, die als “Boatpeople” nach Deutschland immigrierten, nicht integrierbar seien. Schon gar keiner nahm den unsinnigen Satz “Das Boot ist voll” in den Mund, als zwischen 1949 und 1989 3,8 Millionen Menschen aus der DDR legal oder illegal in die Bundesrepublik kamen.

Die Vorstellung, dass Nationen, Ethnien, Kulturen oder Religionen nicht kompatibel zueinander seien, ist historisch nicht haltbar. Gesellschaften sind immer heterogene Einheiten, sie leben und entwickeln sich durch Austausch. Bleiben sie statisch, gehen sie zugrunde. Allerdings führt kein Weg an der Integration vorbei.

Nicht als Bedrohung, sondern als Chance sollte daher die aktuelle Zuwanderung gesehen werden. Politisch wird die Flüchtlingsfrage derzeit noch zu sehr abstrakt behandelt. Integration ist dagegen eine Arbeit zwischen Menschen vor Ort. Sie erfordert bürgerschaftliches Engagement und die Kooperation von Zivilgesellschaft und Staat. Die Zahl der abertausenden Bundesbürger, die Hilfe für Flüchtlinge organisieren, stimmt froh. Rechtsradikale Kräfte von Pegida bis AfD, die ihr “fremdenfeindliches Süppchen” kochen, werden die Gesellschaft nicht spalten können, wenn Solidarität nicht nur propagiert, sondern vorgelebt wird.

Die Geschichte kann man nicht zurück drehen. Daraus lernen – vielleicht… So ist es wahrscheinlich nicht verkehrt, auch die Geschichte der Auswanderung von Deutschen in die USA zu kennen.

(wird fortgesetzt)