BERLIN. (hpd) Die Deutschen bildeten im 19. Jahrhundert die größte Einwanderungsgruppe in den USA. Unter ihnen befanden sich auch Freireligiöse und Freidenker, die aus weltanschaulichen oder politischen Gründen aus Deutschland fliehen mussten. Amerika erschien diesen Dissidenten wie das “gelobte Land”, in dem freie Religionsausübung, die Trennung von Staat und Kirche, aber auch die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit in der Verfassung verankert war.
Anhand der Auswanderungszahlen lässt sich belegen, dass bis 1895 2,3 Millionen Deutsche in die USA emigrierten; ihren Höhepunkt erreichte die Migration im Jahre 1882, als etwa 250.000 Deutsche ihre Zukunft in Amerika suchten. Die Zahlen waren erst rückläufig, als die Möglichkeit der freien Landnahme im nordamerikanischen Westen nicht mehr bestand und sich die ökonomischen und sozialen Lebensverhältnisse in Deutschland verbesserten.
Die Region zwischen Cincinnati, Milwaukee und St. Louis war eine beliebte Zielregion deutscher Immigranten und wurde als “German Triangel” bezeichnet. Hier in Wisconsin, das 1848 als 30. Bundesstaat in die Union aufgenommen worden war, entstand wegen der politischen Partizipationsmöglichkeiten ein Zentrum religiös motivierter Einwanderung. So war es nicht verwunderlich, dass bis 1890 der deutschstämmige Bevölkerungsanteil in Milwaukee auf 69 Prozent angewachsen war.
Zu dieser Gruppe gehörten auch viele Dissidenten, die sich in Deutschland in freien Gemeinden zusammengefunden hatten. In der Repressionsperiode der 1850-er Jahre wurden die Gemeinden als staatsgefährdende, politische und soziale Umsturzvereine behandelt, die brutal unterdrückt wurden. So schrieb der freireligiöse Sprecher der Freien Gemeinde Nordhausen, Eduard Baltzer, im Juli 1857 an seinen in die USA emigrierten Freund Schünemann-Pott: “Alle Hindernisse eines gedeihlichen Gemeindelebens, Verbot des Kindergartens, der Schule, der Religionsstunden, auch des Religionsunterrichts des Redners an seine eigenen Kinder, der Versammlung während der gewöhnlichen christlichen Kirchenzeit, sowie Schwierigkeiten bei der Entlassung unserer Kinder aus der Schule, ihre Aufnahme in die Innungen u.s.w. dauern fort. Die Ausübung bürgerlicher Rechte wird den Mitgliedern der freien Gemeinden vorenthalten, die Erlaubnis zum Vertreib conzesssionspflichtiger Gewerbe ihnen entzogen. Wenn ein Gemeindemitglied, sei es Mann oder Weib, sich mit einem Mitglied der Landeskirche verheiraten will, so verweigern die Gerichte die Vollziehung der Civilehe…”
Derartigen repressiven staatlichen Maßnahmen war auch Friedrich Schünemann-Pott, der als Sprecher bei verschiedenen Freien Gemeinden und als Herausgeber der Zeitung “Blätter für freies religiöses Leben” in Lübeck tätig war, ausgesetzt gewesen. Bereits 1848 sah er sich mit einer Anzeige wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung konfrontiert. 1854 beschloss er mit seiner Familie nach Amerika auszureisen. Die Überfahrt nach New York dauerte 45 Tage und war lebensgefährlich. Ein Jahr später wurde Schünemann-Pott zum Sprecher der Freien Gemeinde Philadelphia berufen. Neben der generellen Betreuung der Gemeindemitglieder und den Sonntagsvorträgen oblag ihm auch die Führung des Zivilregisters, in dem er Geburten, Eheschließungen und Todesfälle verzeichnete. Während seiner sechzehnjährigen Amtszeit als Sprecher der Gemeinde hatte Schünemann-Pott 307 Kinder in das Geburtsregister eingetragen, 480 Ehen geschlossen und an 137 Gräbern die Trauerrede gehalten.
Der Lebensalltag der meisten Dissidenten war allerdings nicht einfach. “Die Deutschen haben halb mit ihrer materiellen Lage, mit der Zahlungsfähigkeit, ja sogar mit der Zahlungswilligkeit ihrer Arbeitgeber, halb aber auch mit dem Blick nach der alten Heimath unaufhörlich zu thun”, schrieb ein Gemeindemitglied nach Deutschland. Trotzdem schafften es die Mitglieder, jahrelang in einen Baufonds einzuzahlen. So konnte die Gemeinde in Philadelphia Ende 1864 ihre eigene Veranstaltungshalle in der Fünften Straße Nr. 455 errichten.
Schünemann-Pott gründete 1859 den Bund der freien Gemeinden in Nordamerika und gab die “Blätter für freies religiöses Leben” heraus. Die Zeitung enthielt neben Beiträgen von bekannten Freidenkern auch Nachrichten aus den US-Gemeinden, Korrespondenz aus Deutschland und Berichte von Jahresversammlungen und freigeistigen Aktivitäten. 1871 wechselte Schünemann-Pott zur Gemeinde in San Francisco. Er starb 1891 im kalifornischen St. Helena.
Unter den Sprechern, die ab 1850 ins amerikanische Exil gingen, war auch Eduard Schröter. Wegen seiner politischen und religiösen Aktivitäten hatte die hessische Regierung ihm seit 1847 mit der Ausweisung gedroht, so dass er sich zum Verlassen Deutschlands entschloss. In New York gründete er 1850 die Freie Gemeinde, hielt Vorträge in den Städten an der Ostküste und organisierte Gemeinden in Boston, Norwich, Hartford und New Haven. Dort, wo er seine Veranstaltungen nicht in deutschen Zeitungen ankündigen konnte, suchte er seine deutschen Landsleute in ihren Wohnungen, Restaurants und Arbeitsplätzen auf, um sie für die freigeistige Sache zu gewinnen. Ein Jahr später zog Schröter nach Milwaukee um. Von dort gab er die Zeitung “Humanist” heraus, die große Popularität unter den deutschen Lesern fand. Der “Humanist” war wegen seiner antireligiösen Haltung und der Kritik an der amerikanischen Gesellschaft und Politik nicht unumstritten.
Durch den Einfluss Schröters wurde Wisconsin, wo bis Ende 1852 rund dreißig freie Gemeinden entstanden waren, das Zentrum der deutsch-amerikanischen Freidenker-Bewegung. Die organisierten Freidenker verstanden sich auch als Motor eines säkularen Bildungssystems. Ihr Programm kann man mit “Freiheit, Bildung und Wohlstand für alle” überschreiben. Religionskritik spielte dabei eine nicht unerhebliche Rolle, der Glaube an die Wissenschaft war fast unerschütterlich.
Eduard Schröter vertrat 1880 die freien Gemeinden auf dem Internationalen Freidenker-Kongress in Brüssel. 1882 legte er krankheitsbedingt alle Ämter nieder und verstarb noch im selben Jahr.
Was ist geblieben von den dissidentischen Einwanderern in die USA, war ihre Integration erfolgreich?
Zunächst ist festzuhalten, dass sie Jahrzehnte lang eine sichtbare Gemeinschaft mit separatem Vereins- und Pressewesen, mit weltanschaulicher Bildung in deutscher Sprache und dem Festhalten an kulturellen Traditionen bildeten. Die Bande in die alte Heimat brachen nicht ab. Die Ausformung von Netzwerken übte eine Pufferfunktion aus, indem sie die Dissidenten vor der Neuen Welt schützten und gleichzeitig zur Assimilation an die amerikanische Gesellschaft beitrugen.
Bekannte Freidenker wie Schünemann-Pott und Schröter erleichterten mit ihrem Wirken die Integration dieser Gruppe. Beide bildeten neben anderen Persönlichkeiten ein Schlüsselelement erfolgreicher Migration. Heute sind die Spuren der eingewanderten deutschen Dissidenten verschwunden, ohne ein öffentlich wahrnehmbares ethnisches oder weltanschauliches Profil hinterlassen zu haben. Gleiches gilt auch für alle deutschen Einwanderer dieser Periode, die sich relativ gut in die amerikanische Gesellschaft integrierten.
Bleibt die Frage, welchen Einfluss Religion oder Weltanschauung und kulturelle Herkunft überhaupt auf das Handeln von Flüchtlingen haben. Genau diesem Problem sind Forscher der University of Michigan vor einigen Jahren nachgegangen. Ihr Ergebnis: Der kulturelle Hintergrund sowie die (religiösen) Werte haben auf das Denken und Handeln von Individuen nur einen nachrangigen Effekt. Wir sollten uns daher davor hüten, Migranten nur auf ein Merkmal zu reduzieren. Wer glaubt, mit dem Charakteristikum “Muslime” sei schon alles Wesentliche über sie gesagt, versperrt sich den Blick auf die Komplexität menschlicher Existenz. Mit Feindbildern und der Furcht vor der Bedrohung unseres Kulturkreises wird die notwendige Aufgabe der Integration der Flüchtlinge in Deutschland nicht zu bewältigen sein. Migration sollte nicht bekämpft, sondern zukunftsweisend geregelt werden.