Seit genau einem Jahr gibt es nun den Zentralrat der Konfessionsfreien. Nach einem Strategieworkshop mit den Mitgliedsverbänden zieht der Vorsitzende Philipp Möller eine Bilanz.
Es ist ein wunderschön sonniger Montag in den Salzburger Alpen, kein Wölkchen am Himmel und kein Tropfen in der Luft, als Rainer Rosenzweig und ich nach 20 Minuten Fahrt aus dem Sessellift steigen. Gestern sind die Delegierten unserer Mitgliedsverbände abgereist, und wir nutzen den heutigen Tag, um die letzten 48 Stunden zu reflektieren – und letztlich auch das vergangene Jahr. Umringt von majestätischen Dreitausendern kraxeln wir übers Geröll, die gläserne Bergluft in der Nase, als ich Rainer frage: "Was haben wir an diesem Wochenende gelernt? Was ist die wichtigste Botschaft, die wir hier in den Alpen auf 2.315 Meter Höhe produziert haben?"
Rainer schaut in die Ferne. "Dass wir gemeinsam neue Horizonte entdeckt haben?" Lachend schmeißen wir uns alle Floskeln um die Ohren, die sich hier oben aufdrängen: Neue Perspektiven gewonnen, den Horizont erweitert, mit Weitsicht hoch hinausgekommen oder – so der Slogan des Workshops – frische Luft für frische Ideen, den Gipfel der Konfessionsfreiheit erklommen, und so weiter.
"Aber mal ganz im Ernst", sagt Rainer und setzt sich auf einen Felsbrocken. "Das war das erste Treffen mit den Verbänden, bei dem wir uns einig waren über die Ausrichtung unserer Zusammenarbeit", sagt er. "Und das ist für mich wirklich die wichtigste Botschaft dieses Wochenendes – und vielleicht des ganzes letzten Jahres: Statt die Differenzen zu betonen und sich an Details festzubeißen, die Außenstehenden kaum zu vermitteln sind, verfolgen unsere Mitgliedsverbände inzwischen gemeinsame politische Ziele – kollegial, konstruktiv und mit einer klaren Vision."
Und so verfliegen wundervolle Stunden auf fast 3.000 Höhenmetern, in denen Rainer und ich uns vor Augen halten, was in dem breiten Spektrum der säkularen Verbände seit 2008 erreicht wurde: Die jahrelange Arbeit in unserer Vorgängerorganisation, dem Koordinierungsrat säkularer Organisationen (KORSO), war kleinteilig und oft mühsam – aber: Die Mühe hat sich gelohnt, denn heute ist der Zentralrat endlich in der Lage, als säkulare Lobbyorganisation zu wirken. Und auch die intensive Arbeit, die wir vor unserer Pressekonferenz im Mai in unsere politische Agenda, die "Säkulare Ampel" gesteckt haben, zahlt sich nun aus. Der Zentralrat der Konfessionsfreien hat geschafft, wofür viele im KORSO lang und hart gearbeitet haben: für einen gemeinsamen Blick nach vorn, für das Bündeln von Kräften und Ideen – und für den endgültigen Abschied von der "Volksfront von Judäa gegen die judäische Volksfront."
Im Zentralrat sind alle säkularen Verbände versammelt, die einen konsequent weltanschaulich neutralen Staat einfordern, so wie ihn die Verfassung vorsieht. Diese Haltung wird uns die Arbeit oft schwermachen – nicht nur weil wir selbst jene Privilegien ablehnen, die wir bei anderen kritisieren. Sondern auch weil es ein riesiges Geflecht an Weltanschauungsgemeinschaften gibt, die den Kirchen nacheifern und ebenso staatliche Fördermittel, Steuergeschenke und eigene Gesetze anstreben. Zudem gibt es ein ebenso riesiges Geflecht an politisch Verantwortlichen, die ihnen diese Privilegien auch zusprechen wollen, weil sie ganz genau wissen: Die verfassungsrechtlichen und teils aberwitzigen Privilegien der Kirchen lassen sich nur noch gegen die Säkularisierung durchdrücken, wenn anderen Weltanschauungsgemeinschaften die gleichen Privilegien zugesprochen werden. Denn laut Grundgesetz müssen alle gleichbehandelt werden, und allein die Anwesenheit des Islam veranschaulicht das religionspolitische Dilemma Deutschlands: Die Kirchensteuer lässt sich nur noch halten, wenn auch eine Moscheesteuer erhoben wird. Das eigene Arbeitsrecht in Caritas und Diakonie hat nur dann noch eine letzte Chance, wenn auch islamische Wohlfahrtsorganisationen gegründet werden; wenn auch sie zu über 98 Prozent aus öffentlicher Hand finanziert werden, aber behaupten dürfen, sie seien eine tragende Säule der Gesellschaft; und wenn auch sie entscheiden können, dass nur jene Menschen für sie arbeiten dürfen, die dem Islam angehören und sich seinen moralischen Vorgaben unterwerfen. Und letztlich dürften sogar die Kirchenglocken nur dann weiterhin die Öffentlichkeit beschallen, wenn am Freitag auch der Muezzin zum Gebet rufen darf.
Das ist daher wirklich neu und einzigartig am Zentralrat – unser Alleinstellungsmerkmal: Wir sind eben keine weitere Weltanschauungsgemeinschaft, die "etwas vom großen Kuchen abhaben will", sondern: Wir sind die einzige Lobbyorganisation, die alle Sonderrechte für alle Weltanschauungsgemeinschaften gleichermaßen kritisiert. Der Zentralrat der Konfessionsfreien ist die NGO für Säkularisierung in Deutschland. Laut Verfassung ist Weltanschauung Privatsache, also muss sie auch privatrechtlich organisiert werden – als eingetragene Vereine, die die gleichen Rechte und Chancen haben wie alle anderen eingetragenen Vereine auch. Das oft bemühte "kooperative Trennungsmodell" des Grundgesetzes erlaubt es dem Staat zwar, einzelne Aufgaben auch an Weltanschauungsgemeinschaften zu delegieren – aber Sonderrechte und millionenschwere Steuergeschenke sind darin nicht vorgesehen.
Ebenso einig sind wir uns zudem in der Tonalität, mit der der Zentralrat auftritt: freundlich, sachlich, gelassen, entschieden kritisch, aber immer wertschätzend, zeitgemäß, farbenfroh und lebensnah – unterm Strich also positiv, und all das haben wir mit viel Liebe fürs Detail in unsere Homepage einfließen lassen. Wichtig ist: Wir sind nicht gegen Religion, sondern für Religion als Privatsache. Religionskritik ist für uns kaum noch nötig, deshalb sitzen die Adressaten unserer politischen Botschaften nicht in der Deutschen Bischofskonferenz, sondern im Deutschen Bundestag; sie stehen nicht an der Kanzel, sondern am Wahlstand – wir wenden uns an Menschen, die politische Verantwortung tragen.
Dazu gehört etwa ein aufwendiges Anschreiben an die Mitglieder des Deutschen Bundestags, in dem wir sie dazu auffordern, keinem der vorliegenden Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Suizidhilfe zuzustimmen – weil keiner dem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2020 gerecht wird. Dazu gehört ein Offener Brief an Annalena Baerbock und Marco Buschmann, die wir anlässlich des Attentats auf Salman Rushdie dazu aufgefordert haben, das iranische Mullah-Regime zur Aufhebung aller Fatwas zu drängen und in Deutschland den Blasphemieparagraphen (166 StGB) zu streichen. Und dazu gehört natürlich auch unsere Säkulare Ampel, die wir auch schon an die MdBs verschickt haben.
Zudem wenden wir uns an die Öffentlichkeit: Mit unserer Pressekonferenz wurden wir trotz Ukraine-Krieg, Energiekrise, Klimawandel und Corona-Pandemie wahrgenommen – seitdem wächst unser Pressespiegel, und damit auch unsere Relevanz.
Ebenso ist deutlich geworden, dass wir sehr wohl um das scheinbare Problem unserer geringen Mitgliederzahlen wissen, aber ebenso darum wissen, dass es eben nur ein scheinbares Problem ist – denn: Die Kirchen haben zwar noch viele Mitglieder, aber ihre Positionen genießen kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung – bei uns ist es genau andersherum. Und das ist auch nach einem Jahr Zentralrat der Kern unserer Argumentation: Immer mehr Menschen entscheiden sich für ein Leben in Konfessionsfreiheit – das muss die Politik nicht nur wahrnehmen, sondern auch ernst nehmen. Politische Mehrheiten werden sich nicht mehr gegen, sondern nur noch mit der Unterstützung der Konfessionsfreien durchsetzen lassen.
Ein paar Beispiele aus unserer Agenda, die die Haltung der Menschen in Deutschland verdeutlichen: 88 Prozent finden, dass jede Frau selbst darüber entscheiden können muss, ob sie eine Schwangerschaft fortsetzt – wir auch. 74 Prozent sind für die Abschaffung der Kirchensteuer – wir auch. 64 Prozent sind gegen Kruzifixe in Behörden – wir auch. 75 Prozent sind für die Straffreiheit der Suizidhilfe – wir auch. Und schließlich sprechen sich 72 Prozent für die Einführung eines gemeinsamen Ethikunterrichts aus – wir auch, und bei all diesen Fragen gilt: Das Antwortverhalten unter Konfessionsfreien ist konsistenter als etwa unter Katholiken oder Protestanten – kein Wunder, denn die Entscheidung für eine Konfession wird den Menschen als Säuglingen übergegossen; die Entscheidung für die Konfessionsfreiheit hingegen muss in Deutschland aktiv getroffen werden. Noch. Vielleicht hilft es bis dahin, Mitglied in unserem Freundeskreis zu werden, in dem wir schon eine vierstellige Zahl von Menschen versammelt haben, die unsere politische Agenda unterstützen.
"Wahnsinn", sagt Rainer schließlich, und schirmt die Augen gegen die untergehende Sonne ab. "Ich setze mich seit dreißig Jahren für die säkulare Sache ein – und mir ging's damit noch nie so gut wie heute!"
Auf dem Berg wird's langsam kühl, unsere Wasserflaschen sind ebenso leer wie unsere Mägen. Während des Rückwegs zum Sessellift halten wir uns noch einmal vor Augen, welche Schwerpunktthemen wir mit nach Hause nehmen: Ein Gesetz zur Suizidhilfe wird wohl noch in diesem Jahr verabschiedet werden – wir wollen dagegenhalten. Eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung soll darüber reden, ob und wie der Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert werden kann – wir wollen, dass darüber nicht nur geredet, sondern auch gehandelt wird. Die Ablösung der altrechtlichen Staatsleistungen (immerhin rund 600 Millionen Euro pro Jahr) soll mit den Kirchen verhandelt werden – dabei darf unsere konfessionsfreie Stimme nicht fehlen. Und schließlich befinden sich die Befürworter des kirchlichen Arbeitsrechts schon jetzt auf so dünnem Eis, dass unsere gewichtigen Argumente ihr Übriges tun sollten – wenn wir bis dahin vordringen. Und auch ein Herzensthema steht noch immer an: Dass Weltanschauungsgemeinschaften eigene Unterrichtsfächer in Schulen bekommen, auf Steuerkosten, deren Lehrkräfte sie selbst ausbilden und deren Inhalte sie so gestalten dürfen, dass sie dem eigentlichen Auftrag von Bildung widersprechen, nämlich ordentliches Wissen und Können zu vermitteln – auch darin waren wir uns am Wochenende einig: Das geht gar nicht.
Als wir uns in den Sessellift zum Hotel plumpsen lassen, ist die Sonne fast hinter dem Bergmassiv verschwunden, kalter Wind pfeift uns um die Ohren, unter uns tun sich Abgründe auf. "Hast du manchmal Angst, dass wir scheitern?", fragt Rainer leise.
Ja, habe ich. Aber immer weniger.