Die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an Kunst und Kultur ist für einen gesellschaftlichen Diskussions- und Entwicklungsprozess von großer Bedeutung. Mit ihrer Neuaufstellung geht jetzt die Freie Volksbühne Berlin, traditionsreichste deutsche Besucherorganisation, neue Wege, um Menschen unterschiedlichen Alters, Herkunft und Bildung für das kulturelle Leben zu begeistern.
"Kultur braucht Freunde", sagt Brigitte Scheffrath. Sie und ihr Mann blättern gerade durch die neueste Ausgabe des "Kulturvolk. Das Magazin". Die Monatszeitschrift des Vereins Freie Volksbühne lotst beide durch den Dschungel der Berliner und Brandenburger Kulturangebote. Wenig später entscheiden sie sich für einen Opernabend und bestellen die Karten per Internet. "Der Rabatt von fast 40 Prozent und die portofreie Zusendung der Tickets ist natürlich nicht zu verachten", freut sich Michael Scheffrath.
Wie das Ehepaar Scheffrath haben viele an Kultur interessierte Menschen heute eine große Entscheidungsfreiheit. Der Kulturmarkt ist unübersichtlich geworden, und Kultur findet in Konkurrenz zu öffentlichen und privaten Kultureinrichtungen auch im Internet statt. Dabei kommt es nicht ausschließlich auf die Qualität des Produkts an. Kulturbetriebe müssen daher viel Kraft darauf verwenden, um Besucher für das Besondere zu gewinnen. Wie sie runterholen von der Couch? Sie müssen - um es mit Bertold Brecht zu sagen - den traditionell kleinen Kreis der Kenner zu einem großen Kreis machen, die Besucher hegen und pflegen, und versuchen, sie möglichst langfristig an die jeweilige Kunstinstitution zu binden, damit sich das Publikum aus Neues und Schwieriges einlassen kann. Wie aber eine konsequente Orientierung und Bindung am Besucher, am Zuschauer, am Kursteilnehmer organisieren?
"Wir verstehen uns mit unserem serviceorientierten Angebot als Mittler zwischen Publikum und Kulturveranstaltern", erklärt Alice Ströver, Geschäftsführerin der Freien Volksbühne Berlin. Der gemeinnützige Verein bietet seinen Mitgliedern kostengünstige Eintrittskarten an; aus jährlich 11.000 Veranstaltungen können diese auswählen. Auch spontanes Ausgehen am gleichen Abend kann organisiert werden. Neben diesem Kartenangebot bietet der Verein exklusive Führungen, Künstlergespräche, gemeinsame Theaterbesuche und viele Eigenveranstaltungen im eigenen Haus an. Kundenbindung ist auch für die Freie Volksbühne Berlin eine Herausforderung geworden.
Dass eine inhaltlich gute, professionelle und zielgruppengenaue Kulturarbeit auch in Zeiten von Fernsehen und Internet erfolgreich sein kann, belegt der gerade erschienene "Spartenbericht Musik" des Statistischen Bundesamtes: Zählt man die jährlichen Besucher von Musiktheateraufführungen sowie Klassikkonzerten und -festivals zusammen, kommt man auf 18,2 Millionen Besucher. Das sind 40 Prozent mehr, als die Bundesliga jährlich in die Fußballstadien locken kann.
Neue und jüngere Mitglieder zu gewinnen, hat sich die seit 127 Jahren bestehende Besucherorganisation in Berlin dieser Tage zum Ziel gesetzt. "Wir haben uns intern lange mit dem Außenauftritt der Freien Volksbühne beschäftigt und jetzt entschieden, ab 1. März 2017 unter dem neuen Markennamen "Kulturvolk. Das Publikum" aufzutreten", sagt Frank Bielka, Vorsitzender des Vereins. Der neue Name, so Bielka, beschreibe eine Gemeinschaft mit dem Interesse an Kunst und Kultur. "Wir knüpfen damit auch an die Tradition der Volksbühnenbewegung an."
Volksbühnenbewegung: Die Kunst dem Volke
Schon Ende der 1890er Jahre gab es Berlin erste Versuche, das Bürgertum zu günstigen Eintrittspreisen ins Theater zu bringen. An die Gewinnung von Arbeitern dachte niemand. Denn welcher Proletarier konnte sich bei einem wöchentlichen Verdienst von 20 Mark und nach einem zehnstündigen Arbeitstag einen Theaterbesuch leisten?
Am 23. März 1890 erschien im "Berliner Volksblatt" der Gründungsaufruf des damals 30-jährigen Schriftstellers und Freidenkers Bruno Wille. Seine Idee war es, geschlossene Theatervorstellungen für Arbeiter zu einem Eintrittspreis von 50 Pfennig zu organisieren. Ende Juli 1890 lud Wille zu einer öffentlichen Versammlung ein, auf der er den Leitgedanken der Volksbühnenbewegung so formulierte: "Die Kunst soll dem Volke gehören, nicht aber Privilegium eines Teils der Bevölkerung, einer Gesellschaftsklasse sein." Hunderte Arbeiter zeigten Interesse und so konnte schon am 8. August 1890 die Freie Volksbühne Berlin gegründet werden. "Der Verein Freie Volksbühne stellt sich die Aufgabe, die Poesie in ihrer modernen Richtung dem Volke vorzuführen und insbesondere zeitgemäße, von Wahrhaftigkeit erfüllte Dichtungen darzustellen, vorzulesen und durch Vorträge zu erklären", hieß es in § 1 in der ersten Satzung. Mit der Aufführung von Hendrik Ibsens "Stützen der Gesellschaft" traf die erste Theaterbesucherorganisation der Welt eine programmatische Auswahl. Mit neuen, zeitgenössischen Stücken ermöglichte und förderte die Volksbühnenbewegung über viele Jahrzehnte hinweg wichtige Entwicklungen in der deutschen Theatergeschichte.
Schon 1913 gehörten in Berlin 70.000 Mitglieder der Volksbühnenbewegung an. Am 30. Dezember 1914 konnte der Verein ein eigenes Theater am Bülowplatz, der heutigen Volksbühne Berlin, eröffnen. Bis zu diesem Zeitpunkte hatte man in fremden Häusern gespielt. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden zahlreiche Volksbühnen-Ortsvereine, die sich 1920 zu einem Dachverband zusammenschlossen. In Zeiten von Inflation in der Weimarer Republik war es auch für Volksbühnen-Mitglieder ein Luxus, Eintrittskarten zwischen 120.000 und 150.000 Mark zu kaufen. Nach der Wirtschaftskrise stabilisierten sich die Volksbühnen wieder und erreichten bis 1926 mit 160.000 Mitgliedern ihren Höchststand. Die Nazis lösten 1939 die Volksbühnenbewegung auf, nachdem man sie zunächst "gleichgeschaltet" hatte. Das Vermögen der Volksbühnen in Höhe von über zwei Millionen Reichsmark konfiszierte die NSDAP.
Unter den neu entstandenen politischen Kräfteverhältnissen nach 1945 entwickelte sich die Volksbühnenbewegung in Ost und West unterschiedlich. Während sie in der DDR nach 1952 faktisch im FDGB aufging, kam es in der BRD zu vielen Neugründungen vorwiegend in größeren Städten. Die Neuorientierung der Theater nach 1968 erforderte auch eine Neueinstellung des Volksbühnen-Publikums und die Gewinnung jüngerer Mitglieder. Das Milieu der Arbeiterklasse hatte sich mittlerweile aufgelöst, und die Volksbühnenbewegung stand vor neuen Herausforderungen. Geblieben ist der Anspruch der Volksbühnen, als Dienstleister möglichst viele Menschen zu günstigen Bedingungen für Kultur zu begeistern.
Heute führen die überwiegend ehrenamtlich organisierten Volksbühnen-Vereine rund 140.000 Mitglieder zu knapp einer Million Plätzen bei Theater- und Konzerterlebnissen. Sie organisieren eine Vielzahl von Eigen- und Sonderveranstaltungen, von Museumsführungen und Kulturreisen bis hin zu Sportveranstaltungen.
Eine wechselhafte Geschichte der Volksbühnen liegt hinter ihr. Eine hoffentlich erfolgreiche Zukunft liegt vor ihr.