Um seine zentrale These zu belegen, schlägt der Autor einen weiten Bogen über Stammesgeschichte und Geschichte bis zur individuellen Entwicklung. Von Freuds Triebtheorie ausgehend und sich gleichzeitig von ihr absetzend beschreibt er die Ambivalenz menschlichen Lebens als grundlegenden Widerspruch zwischen einem, wie er es nennt, universellen Vermögen auf der einen Seite und der Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen in einer konkreten historischen Situation auf der anderen Seite. Diese Ambivalenz sei bestimmend für menschliches Leben, denn das universelle Vermögen drängt auf Verwirklichung, kann aber im alltäglichen Leben immer nur in kleinen Schritten und letztendlich nie vollständig realisiert werden.
Aus diesem Tatbestand ergibt sich die interessante Schlussfolgerung, dass Menschen in ihrem Alltag eine Dimension brauchen, in der sie diese existenzielle Spannung für sich thematisieren und fruchtbar machen können. Diese Aufgaben haben, so Uhrig, Spiritualität, Religion und Kunst.
Da der Autor die gesamte Geschichte überfliegt, werden naturgemäß viele Aspekte nur angerissen. Vor allem die Zeit des Nationalsozialismus ist völlig ausgespart und es wird nicht erklärt, warum diese wichtige Phase der deutschen und europäischen Geschichte fehlt.
Auch wenn es um den Zusammenhang zwischen dem menschlichen Genom und dem genannten universellen Vermögen geht, muss Uhrig passen, was er übrigens selbst eingesteht.
Auf der Grundlage seiner Fragestellung verfolgt der Autor die naturgeschichtliche und geschichtliche Entwicklung des Menschen um nach Antworten zu suchen. In diesem Sinne gliedern sich die rund 360 Seiten in vier große Teile:
Wer sind wir?
In diesem Abschnitt geht es darum, den Kern der menschlichen Natur zu erörtern. Demnach soll der Mensch über ein universelles Vermögen verfügen, das ihm erlaubt, in den unterschiedlichsten und oft auch höchst elenden geschichtlichen Situationen zurecht zu kommen, zu leben und zu überleben, zu arbeiten und zu feiern, Kinder groß zu ziehen und alt zu werden. Allerdings könne dieses gewaltige Potential immer nur im Alltag einer bestimmten historischen Situation realisiert werden, und müsse deshalb immer Stückwerk bleiben. In diesem Widerspruch lebten die Menschen und müssten damit klar kommen.
Woher kommen wir?

Über viele Entwicklungslinien vor allem der Gattung Australopithecus und der Gattung Homo führt der Weg vor rund 200 000 Jahren zum Homo sapiens. Er verfügt über ein kreatives Gehirn und geschickte Hände und ist ein ausdauernder Läufer. Durch seine hohe soziale Kompetenz und die Fähigkeit zu sprechen eröffnet sich für ihn ein neuer sozialer Raum: die Geschichte.
Wohin gehen wir?
Je nach Standpunkt und Fragestellung lässt sich Geschichte sehr unterschiedlich interpretieren und akzentuieren. Das Augenmerk des Autors richtete sich vor allem auf die von Menschen erkämpften Freiheiten, denn nur diese seien die besten Voraussetzungen um das Potential der Menschen optimal zu realisieren. Unter dieser Fragestellung hätten sich zwei Leuchttürme, die welthistorisch bedeutsam wurden, herauskristallisiert: die attische Demokratie und die Freiheitsrechte der bürgerlichen Gesellschaft.
Individuelle Entwicklung
Weder Geschichte noch individuelle Entwicklung lassen sich verstehen, so Uhrig, wenn man die grundlegende Triebstruktur des Menschen außer Acht lässt: Den Widerspruch zwischen universellem Potential und den vorgefundenen geschichtlichen und sozialen Gegebenheiten.
Während sich der Autor in der stammesgeschichtlichen Entwicklung im wesentlichen an die bekannten Fakten und Etappen hält, wird Geschichte sehr eigenwillig interpretiert. Unter der Fragestellung "Wohin gehen wir?" spricht er sich positiv für die attische Demokratie und die Freiheitsrechte der bürgerlichen Gesellschaft aus, während die kulturellen Errungenschaften anderer Epochen und anderer Gesellschaften unter den Tisch fallen. Eine eurozentristische Tendenz ist nicht zu übersehen. Die grundlegende Fragestellung nach der universellen Potenz des Menschen ist doch sehr allgemein und kann durch die Berufung auf die Genomstruktur, die dieser zugrunde liegen soll, leicht in ein biologisch determiniertes Menschenbild abgleiten.
Bernhard Uhrig, Affe oder Gott? - Über die Ambivalenz menschlichen Lebens, epubli Verlag Berlin 2016, 359 S., 25 Euro, ebook 7,49 Euro
3 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Aus diesem Tatbestand ergibt sich die interessante Schlussfolgerung, dass Menschen in ihrem Alltag eine Dimension brauchen, in der sie diese existenzielle Spannung für sich thematisieren und fruchtbar machen kön
Sry, verstehe ich nicht; klingt mir zu eso. Was fehlt mir nur?
Nein, ich kaufe mir das nicht einmal als ebook.
Kay Krause am Permanenter Link
Mich stört schon, dass hier "Spiritualität, Religion und Kunst" als DIMENSIONEN bezeichnet werden, die "der Mensch" (immer diese Verallgemeinerungen!) braucht, um sein Leben zu meistern.
Weil sie in dieses Millieu hineingeboren und damit zu spirituell-religiös indoktrinierten Menschen für den Rest ihres Lebens geformt wurden. Wäre ein hiesig (z.B. in Münster/Westf.) geborener Christ statt dessen in Saudi Arabien geboren, dann wäre er eben ein Moslem. So einfach ist das mit der Religion und der Spiritualität. Die Kunst in dieses Zwangsdenken mit hineinzunehmen, halte ich für unfair! Selbstverständliche gibt es auch religiöse und spirituelle Kunst, nur diese benötigt der Mensch nicht um "existenzielle Spannungen für sich zu thematisieren und fruchtbar zu machen" !
Ich bin ohne Religiösität und Spiritualität aufgewachsen und (meines Erachtens) von der Realität geprägt, soweit diese von uns Menschen erkennbar ist. Ich bin allerdings nicht ohne Kunst aufgewachsen. Diese hat mich geformt, beeinflußt, und tut das heute noch.
Kunst kann nur in einem freien Geist wohnen und gedeihen, sie bedarf keiner Religion und keiner Spiritualität. Ein kleiner Schuß Spiritus kann allerdings hier und da nicht schaden.
Harald Freunbichler am Permanenter Link
"Spiritualität, Religion und Kunst"
Greift zu kurz.
Schweizerisch: S´ ischt alles Mentis!