Rezension

Ansichten eines Affenmannes

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Prof. Dr. Volker Sommer

Volker Sommers neues Buch "Unter Mitprimaten" bietet weit mehr als der unprätentiöse Untertitel "Ansichten eines Affenforschers" vermuten lässt: Keineswegs geht es da nur um "Ansichten", die man, ähnlich wie Meinungen, so oder so haben kann, ohne wirklich etwas von der Sache zu verstehen; vielmehr findet sich darin, komprimiert auf gut 200 Seiten, nicht weniger als die ethische wie metaethische Essenz eines fast 40-jährigen Forscherlebens: als Primat unter Primaten, sprich: immer entlang des Verhältnisses Mensch-Natur.

Der mittlerweile emeritierte Professor des University College London (Jahrgang 1955) zählt nicht nur zu den weltweit führenden Vertretern seiner Disziplin, sondern – auch wenn es den (vom Rezensenten erfundenen) Begriff so gar nicht gibt – zu den weltweit führenden Philpitheken (frei übersetzt: Affenfreunden): Ein Prädikat, das keineswegs jedem Primatologen zukommt. Sommer ist Affenmann mit Leib und Seele. Jahre seines Lebens verbrachte er bei und mit Languren am Rande der rajasthanischen Wüste Nordindiens, bei und mit Gibbons im thailändischen Regenwald und bei und mit Schimpansen einer fernab gelegenen Hochlandregion im östlichen Nigeria. Im dortigen Gashaka-Gumpti-Nationalpark begründete er 1999 ein Forschungs- und Naturschutzprojekt, das inzwischen zu einem der größten in Westafrika herangewachsen ist.

Es zählt, wie Sommer schreibt, zum "Ehrenkodex von Primatologen", endlos Feldgeschichten erzählen zu können, von körperlichen Strapazen mit Egeln, Dornen und dramatischen Darmverstimmungen, aber auch von zutiefst beglückenden Begegnungen mit ungezähmter Fauna und Flora. Er selbst folgt diesem Kodex beispielgebend. Seine im Duktus des Lagerfeuergeschichtenerzählers vorgetragenen Schnurren und Anekdoten dienen indes nicht bloßer Unterhaltung oder dem Teilnehmenlassen der Leser*innenschaft an "Abenteuern in der Wildbahn", vielmehr sind sie, in all der Humorigkeit und Selbstironie, die Sommers Schreibstil durchziehen, solide akademisch – oder wenn man so will: philosophisch eingefasst – und geben tiefreichenden Einblick in die Fragestellungen und Probleme, aber auch in die Kämpfe und inneren Widersprüche primatologischer Feldarbeit.

Biosystematik

Zunächst aber geht es in dem Buch – und dies keineswegs so staubtrocken, wie man befürchten könnte – um biosystematische und klassifikatorische Fragen, deren Beantwortung, so Sommer, hilft, sich in gradualistischem Denken zu üben, bei dem deutlich wird, dass die Evolution nicht in Sprüngen verläuft, sondern in fließenden Übergängen. Wir Menschen sind keine "vom Himmel gefallene Sonderspezies", vielmehr gehören wir der Ordnung der Primaten zu, genauer: den Altwelttrockennasenaffen und noch genauer: den Menschenaffen; und nochmal genauer: der Unterfamilie der Homininae des sub-saharischen Afrika, die uns und unsere engste Verwandtschaft umfasst: Gorillas, Schimpansen und Bonobos. Alle Angehörigen dieser Unterfamilie gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück, von dem aus vor acht bis neun Millionen Jahren die evolutionären Wege sich teilten: ein Zweig führte zu den heute lebenden Gorillas, ein zweiter zu den heute lebenden Schimpansen, Bonobos und Menschen.

Cover

Im folgenden Kapitel, überschrieben mit "Sieben apokalyptische Plagen", geht es eher bedrückend zu: Während die 1960er Jahre mit den bahnbrechenden Untersuchungen der drei Pionierinnen des Metiers Jane Goodall, Dian Fossey und Biruté Galdikas im Rückblick als "goldenes Zeitalter der Freilandprimatologie" bezeichnet werden müssen, mit damals noch Millionen wilder Affen, die Wälder und Savannen durchstreiften, steht es mittlerweile schlecht um ihren Bestand. Ihr Überleben ist hochbedroht, zum einen durch fortschreitende Vernichtung ihrer Habitate (Menschheitswachstum, Landwirtschaft, Bodenschätze ausbeutende Industrien) und zum anderen durch Jagd (Tierhandel, "Buschfleisch"), bewaffnete Konflikte, Übertragung von Krankheiten und nicht zuletzt durch die von Menschen verursachte Veränderung des Klimas.

"Es führt jedenfalls kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass unsere nächsten Verwandten bald in vielen, ja den meisten Urheimaten verschwunden sein werden. Vielerorts ist das schon Fakt. In einigen Jahrzehnten werden bestenfalls Überlebensinseln übrigbleiben – mehr oder weniger ausgedehnte Parks, mehr oder weniger gut geschützt, mehr oder weniger geschätzt von Einheimischen und Touristen. (…) Wir müssen uns wohl oder übel damit abfinden, als Primaten bald ziemlich allein zu sein auf unserem Planeten. Jene Verwandten, die hier und dort in Gefangenschaft überleben, werden nicht mehr sein als traurige Echos einer einstmals wundervoll reichen natürlichen Sinfonie." (S. 87 f.)

Primatologinnen und Primatologen, so Sommer, die in tropischen Regenwäldern gegen das Unvermeidliche ankämpfen, haben es schwer, nicht deprimiert, zornig oder zynisch zu werden. Er selbst habe sich eine Art Lebensphilosophie zurechtgelegt, die es ihm erlaube, weiterhin vor Ort tätig zu sein. Zum einen tröste er sich mit zuweilen errungenen kleinen Siegen: So sei es ihm etwa gelungen, zusammen mit einheimischen Umweltaktivisten, den Bau einer Straße mitten durch den Cross-River-Nationalpark in Nigeria zu verhindern (bzw. zumindest die Trasse ein wenig umzulegen); und zum anderen halte er es mit Albert Camus, dessen Sisyphus die Sinnlosigkeit und Absurdität seines Tuns akzeptiert und eben dadurch "Meister seiner Tage" bleibt.

Zoos auf dem Prüfstand

Während Sommer seinen in jugendlichem Alter gefassten Entschluss, Zoologe werden zu wollen, mithin dem seinerzeitigen Frankfurter Zoodirektor Bernhard Grzimek zugute hält – dessen Sendereihe "Ein Platz für Tiere" Mitte der 1960er Jahre überaus populär war und ihn für die Tierwelt begeisterte – und Zoos seinen Lebens- und Berufsweg fortlaufend begleiteten – sowohl während seines Biologiestudiums in Göttingen (studentische Exkurse in die Stuttgarter Wilhelma) als auch während seiner späteren Tätigkeit als Hochschullehrer in London (Delegation von Studierenden, Diplomanden und Doktoranden in die verschiedensten Tiergärten dieser Welt) – kamen ihm Zweifel an der Einrichtung "Zoo" erst in fortgerückteren Lebensjahren. Seine mittlerweile fulminante Kritik an Zoos, einschließlich der sogenannten "vier Säulen" (Erholung, Bildung, Forschung und Artenschutz), mit denen sie ihre Existenz rechtfertigen, lässt keine Fragen mehr offen: "Ausgestellte Tiere zu betrachten, konditioniert uns von Kindesbeinen an, Zerrbilder für 'Natur' zu halten und den markanten Widersinn auszublenden, dass 'wilde' Tiere gefangen gehalten werden." (S. 101)

Hinter Gittern und Panzerglas eingesperrte Menschenaffen beispielsweise ergehen sich in einem ganzen Repertoire an "abnormen" Verhaltensweisen: Haare-Ausrupfen, In-den-Augen-(oder-im-Anus-)Stochern, Wiederaufnehmen von Erbrochenem, Verzehren (oder Herumschmieren) von Kot, Urintrinken und dergleichen mehr. Mit Natur, die die Zoos abzubilden vorgeben, hat das alles nichts zu tun; eher mit geschlossener Psychiatrie. Sommer plädiert dafür, im Minimum die Haltung von Tieren mit starkem Bewegungs- und Raumbedarf, mithin von Bären, Großkatzen, Elefanten, Nashörnern, Flusspferden, Delfinen und natürlich Primaten, kontrolliert abzuwickeln: "Eine radikale Lösung wäre, sie [die Zoos] zu schließen und die Sammlungen in koordinierte Auffangstationen zusammenzuführen, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. (…) Um den Kreislauf zu durchbrechen, müssten ehemalige Zooinsassen bis an ihr Lebensende versorgt werden, ohne sich weiter fortzupflanzen." (S. 123)

Es versteht sich, dass Sommer seit seinem Wandel vom "Nutznießer" zum vehementen Kritiker der Einrichtung Zoo aus einschlägigen Kreisen heraus auf teils heftigste Weise angefeindet wird: Der Geschäftsführer des Verbandes der Zoologischen Gärten etwa sprach ihm jedwede Kompetenz ab und beschimpfte ihn in einem "Offenen Brief" als dumm, böswillig und nachgerade kriminell. Auch mit seinem Einsatz für den jahrzehntelang unter besonders üblen Bedingungen im Zoo von Wuppertal gehaltenen Schimpansensenior Epulu oder die im Tierpark von Delbrück internierten Schimpansengeschwister Uschi und Kaspar machte Sommer sich unter Zoobefürwortern keine Freunde.

In einem eigenen Kapitel beschreibt und begründet Sommer das Great Ape Project (GAP), das, initiiert im Jahre 1993 von der italienischen Philosophin Paola Cavalieri zusammen mit dem australischen Bioethiker Peter Singer, für nicht-menschliche große Menschenaffen, also Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen und Bonobos, einige jener Privilegien einfordert, die bislang allein für Menschen gelten: das Recht auf Leben, auf Freiheit und auf körperliche wie psychische Unversehrtheit. Sommer selbst half 2011 dem seit Jahren weitgehend ergebnislos vor sich hindümpelnden Projekt neues Leben einzuhauchen. Unterstützt wurde das Revival von namhaften Evolutionsbiologen und Philosophen der Giordano-Bruno-Stiftung: Franz Wuketits, Eckart Voland, Michael Schmidt-Salomon, Gerhard Vollmer, Bernulf Kanitscheider, Thomas Metzinger, Hans Albert und anderen.

Bis heute sind zahlreiche Texte zum GAP erschienen, Sommer indes erklärt erstmals und nachvollziehbar, dass und weshalb es nicht an herkömmlichen Tierschutzerwägungen orientiert ist, wie viele meinen, sondern an viel weiter gefasstem Tierrecht: "Wer sich mit dem GAP etwas intensiver auseinandersetzt, versteht, dass diese Initiative nicht etwa Tierschutz predigt – weil Tierschützer normalerweise davon ausgehen, dass wir Tiere nutzen und besitzen dürfen, nur eben ohne sie unnötig zu quälen. Beim GAP geht es auch nicht um Natur- oder Artenschutz, also um ein Kollektiv von Organismen. Vielmehr geht es um das einzelne Lebewesen und dessen individuelle Interessen. Mithin handelt es sich beim GAP um eine Initiative zum Tierrecht, mit dem zentralen Gedanken, dass Tiere keine Sachen darstellen, sondern Personen. (…) Mittlerweile weiß ich aus Erfahrung, dass es eine Weile dauern kann, bis hinsichtlich der Unterscheidung von Tierschutz und Tierrecht der Groschen fällt." Darüber hinaus bietet Sommer eine komplette Zusammenschau von Pro- und Contra-Argumenten zum Great Ape Project: Jedweder nur denkbare Einwand, selbst der hanebüchenste, wird untersucht und nach bestem Vermögen beantwortet.

Volker Sommer, Unter Mitprimaten: Ansichten eines Affenforschers, S. Hirzel Verlag, Stuttgart, 1. Auflage, 2021, ISBN 978-3-7776-2841-1, 24 Euro

Richtigstellung: Die Redaktion wurde am 25. Mai 2021 von Herrn Sebastian Scholze vom Verband der Zoologischen Gärten (VdZ) e.V. darauf hingewiesen, dass "Peter Dollinger ist – wie er selbst im verlinkten Artikel schreibt – der ehemalige Geschäftsführer [des] Verbandes" sei. "Dass er diese Tätigkeit zuletzt ausgeübt hat, ist inzwischen sechs Jahre her." Daher sei der oben verlinkte Artikel nicht als "Offene[r] Brief des Geschäftsführers des Verbandes der Zoologischen Gärten an Volker Sommer" zu bewerten.

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