Ein nicht ganz ernst zu nehmendes Sprachspiel zum Wort des Jahres 2016

Von postfaktisch über postreligiös zu postkulturell?

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Wie schon der österreichische Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) feststellte, enthält der Mythos komprimiert gespeicherte Lebensweisheiten mit realen und emotionalen Hintergründen. Das heißt: Mythen bedienen sich einer symbolischen Sprache, die sowohl gefühlsmäßig wie auch faktisch gedeutet werden kann.

Diese allegorische Rhetorik wächst an gespeicherten Erfahrungen. Bewährte Erkenntnisse werden metaphysisch verallgemeinert und zusammengefasst. So enthält der Mythos, neben Tatsachen eine quasi divinatorische Auslegung, welche durch Rituale verstärkt weitergegeben wird. Dieses Brauchtum besteht aus genormten Handlungen, die eine Orientierung in bestimmten Lebenssituationen begleiten.

Der deutsche Philosoph und Wertethiker Max Scheler (1874-1928) sieht darüber hinaus noch ein seelenhaft gebundenes Gruppenbewusstsein. Diese Wesenheit steht bei ihm für die verschiedenen sozialen Gruppen: Jäger, Sammler, Ackerbauern, Krieger, Adlige, Kulttechniker usw. Hier sind dann nicht nur gruppenspezifische ethische Wertvorstellungen tradiert, sondern auch ganze Glaubenssysteme. Sie erfüllen damit das menschliche Grundbedürfnis nach Orientierung und Hingabe.

In der Achsenzeit, eine Theorie des deutschen Philosophen Karl Jaspers (1883-1969), entwickelten sich aus diesen Kultgemeinschaften die Religionen. Als Achsenzeit bezeichnete er dabei einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte, bei dem in der Antike, zwischen den Jahren 800 bis 300, das mythische Denken in eine kritische Reflexion überging. Hier haben auch die abrahamitischen Buchreligionen ihre Wurzeln. Die Kraft und die Fülle des Geistes, welche Theologen den Religionen zuschlagen, liegt in den mythologischen Handlungsanweisungen, die gleichnishaft ausgelegt eine Orientierung im Dasein erleichtern sollen. Aber nur in ihrer allegorischen Betrachtung trugen die Religionen, wenn überhaupt, wesentlich zur Lösung von Alltagsproblemen bei.


Gedankensprung: Im Jahre 2016 wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) den Begriff "postfaktisch" zum Wort des Jahres. Die lateinische Vorsilbe post bedeutet zunächst nach (dem Faktischen), hinter (dem Faktischen) und steht in diesem Zusammenhang wohl erstmalig für den Begriff postmodern.

Die Postmoderne entstand in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts; zunächst als eine Kennzeichnung einer bestimmten Art von Architektur. Modern galt zu jener Zeit eine rein zweckmäßige Baukunst, die auf jeden überflüssig erachteten Schnörkel verzichtete. Mit den "modernen" Plattenbauten, die daraufhin entstanden, konnte man dann zwar versuchen eine Wohnungsnot zu mildern, aber "nun haste eine neue Wohnung, aber schlechte Laune", Originalton einer Berliner Abgeordneten der "Grünen", ironisch aber treffend. So kam es zu der Forderung nach "Kunst am Bau".

Die Bezeichnung postmodern wurde danach auf die gesamte Kunst übertragen. Hiermit wurde symbolisch umschrieben, was hinter dem ebenfalls zur Interpretation offenen Begriff modern stehen soll. Das gesamte Umfeld, was dann im Nachhinein mit diesem Adjektiv versucht wurde zu relativieren, lässt sich nur erahnen. Es sollte eben nicht nur eine Zeitdiagnose sein, sondern eine kritische Denkbewegung, über das Faktische hinaus. Ganze Bücher wurden darüber verfasst, ohne dass es je zu einer einheitlichen Meinung gekommen wäre. Aber das ist mit dem Begriff Religion ja auch nicht anders.

Nun wollen wir aber nicht in das allzu trockene Gebiet der Sprachwissenschaft eintauchen, sondern uns der Realität zuwenden. Die rhetorische Diktion Postmodern wurde des Weiteren nicht nur auf die bildende Kunst angewandt, wo sie entstanden ist, sondern führte auch die Werbegrafik aus einer Sackgasse. Es kam zu dem sprichwörtlichen "Barockstuhl auf der Autobahn". Später fand der Begriff postmodern auch Eingang in die Literatur und die Philosophie. Hier wurde u. a. Friedrich Nietzsche (1844-1900) als postmoderner Denker entdeckt. "Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: ein Grauen überfiel mich. Und als ich um mich sah, siehe! Da war die Zeit mein einziger Zeitgenosse."1

Als Nietzsches Kritik an der Aufklärung, wurde hier seine Warnung verstanden, dass Demokratie zur Pöbelherrschaft führen könnte. Das konnte bis jetzt glücklicherweise vermieden werden, nicht aber, dass die Demokratie faktisch mit demokratischen Mitteln immer noch abgeschafft werden könnte. Mit dem Begriff postmodern wird heute ein komplexer Zustand beschrieben, der sich mehr intuitiv erklären, als widerspruchsfrei begründen lässt, aber die Vorsilbe post blieb in der Folge inflationärer Interpretationen ausgesetzt. So auch bei dem Wort des Jahres - postfaktisch.

Als der republikanische Bewerber um das Präsidentenamt der USA, Donald Trump, seine intellektuelle Schlichtheit mit rein emotionalen populistischen Parolen überdeckte, kam es über den englischen Ausdruck post-truth zu der deutschen Bezeichnung postfaktisch. Nach dem der Kandidat Präsident geworden war, wollte man den "mächtigsten Mann der Welt" nicht mehr mit seinen intellektuellen Qualitäten konfrontieren und verniedlichte diese Faktizität durch den Begriff postfaktisch, was besser klingt, aber dasselbe bedeutet.


Wenn der Freigeist Gustav Tschirn (1865-1931) von einer unsagbaren Kraft und Fülle des Geistes spricht, der in den Religionen enthalten sein soll, meinte er die Art von Religion, welche sich in Metaphern ausdrückt und nicht die instrumentalisierten Religionen, die in ihren Dogmen erstarrt sind und die Allegorien, welche in Reflexion von Intellekt und Emotionen entstandenen sind, wörtlich nehmen. Das sahen vor Tschirn bereits Persönlichkeiten von David Hume (1711-1776) bis Ludwig Feuerbach (1804-1872) ähnlich; Feuerbach mit seiner Theorie des Anthropologischen Sensualismus und Hume implizite wenn er ausführt: "Gefühle sind notwendig, aber nicht hinreichend, um das Moralische zu erkennen, und auch der Verstand ist notwendig in diesem Erkenntnisprozess, aber nicht hinreichend. Denn ohne Gefühle ist der Verstand nicht imstande, Werte zu erkennen und zu Handlungen zu motivieren. Aber beide zusammen, also Verstand und Gefühl, sind grundsätzlich geeignet, das Moralische zu erkennen." 2 Ironisch betrachtet könnte man davon ableiten, dass sich im "gesunden Volksbewusstsein", die anthropomorphen Deutungen in den Religionen zu einer wörtlichen Übernahme isoliert haben (nach oder hinter das Faktische). Diese Zurückentwicklung könnte man analog zu postfaktisch auch als postreligiös bezeichnen.

Wenn der deutsche christliche Politiker Armin Laschet das Böckenförde-Diktum 3 so missversteht, dass er die These aufstellt: "Der Staat lebt von Werten, die er selbst nicht schaffen kann. Deshalb ist unser Staat-Kirchen-Verhältnis so wichtig"4 , kann man dies als eine postfaktische Aussage in einer postreligiösen Gesellschaft werten.


Fassen wir abschließend kurz zusammen: Religionen können vielleicht solange eine positive Orientierung im Dasein geben, solange ihre Auslegungen metaphorisch und nicht wörtlich zu verstehen sind. Statt dessen werden aber in einer fundamentalistischen Religionsauslegung, die allegorischen Gleichnisse wörtlich genommen. Das führt dann zu einer Gefühlsverlogenheit und wird von uns sarkastisch als postreligiös bezeichnet.

Besteht keine konsequente Trennung von Staat und Religion, kann so der religiöse Kitsch auch Einfluss auf die Politik nehmen. Wenn man so salopp mit der Sprache umgeht wie die GfdS, - schließlich ist nur der Begriff Postmodern ein ernstzunehmender Bestandteil unserer Sprache - und politische Impotenz mit der Diktion postfaktisch immunisieren will, kann man durchaus für eine Religion, die ihre "unsagbare Kraft und Fülle des Geistes" durch eine wörtliche Auslegung verloren hat, also hinter sich selbst zurückgefallen ist, indem sie ihre metaphorischen Deutungen wörtlich nimmt, den Begriff postreligiös vorschlagen und dazu noch die Unkultur einer Leitkultur mit der Kennzeichnung postkulturell auf den Punkt bringen!


  1. Friedrich Nietzsche "Also sprach Zarathustra" Stuttgart 1953, S.129 ↩︎
  2. Vgl. Gerhard Streminger "Aufklärung und Kritik" 1/2013, S.60 ↩︎
  3. Nach Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehem. Richter am BVG: "Der freiheitlich, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräften nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und - auf säkularer Ebene - in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat." ↩︎
  4. Carsten Frerk "Kirchenrepublik Deutschland" Aschaffenburg 2015, S.156 ↩︎