Mindestens jeder dritte Asylsuchende ist traumatisiert und seelisch erkrankt – mehr als eine Million Menschen. Nur ein Bruchteil erhält jedoch Therapie. Geflüchtete mit unbehandelten psychischen Störungen können zur Gefahr für sich selbst und manchmal auch für andere werden.
Rund eine Million der Asylsuchenden in Deutschland leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen. Forschungsergebnisse etwa der Universitäten Mannheim und Bielefeld zeigen, dass 30 Prozent der Schutzsuchenden im Land an posttraumatischen Belastungsstörungen und 40 Prozent an Depressionen erkrankt sind – viele Betroffene an beidem.
Nur ein Bruchteil von ihnen erhält aber Therapie. Das ist das Ergebnis einer mehrmonatigen Correctiv-Recherche. Sie deckt einen systematischen Missstand auf, der eine Integration der Betroffenen erschwert oder behindert – und in einigen Fällen ein gravierendes Sicherheitsrisiko darstellt.
Ärzte, Psychologinnen und Beschäftigte in Sammelunterkünften, mit denen Correctiv sprach, warnen vor den Folgen: In vielen Fällen verschlimmern sich die Beschwerden ohne Behandlung. Viele Betroffene geraten damit in eine Spirale und haben kaum eine Chance auf Integration.
Schlimmstenfalls werden bereits lange auffällige Geflüchtete zum Sicherheitsrisiko für andere, wie etwa die Fälle Brokstedt und Würzburg zeigen: Asylsuchende mit Symptomen einer Psychose griffen fremde Menschen mit Messern an und töteten sie. Die Correctiv-Recherchen zeigen, dass im Fall Brokstedt die Behörden versagten, weil sie das Gefährdungspotenzial von Ibrahim A. nicht erkannten. Sie deuten auf Anfrage an: Hätte Ibrahim A. selbst einen Antrag auf eine Psychotherapie gestellt, wäre er behandelt worden.
Die Recherche von Correctiv weist nach: Dies ist in vielen Fällen praktisch unmöglich. A. war im Jahr 2021 mehrere Monate lang in einer Sammelunterkunft in Kiel untergebracht. Die dortige Leiterin der Stadtmission Karin Helmer sagt, sie und ihre Kollegen und Kolleginnen hätten in den Unterkünften der Stadtmission eine Erhebung gemacht. Dort leben sowohl wohnungslose Deutsche als auch Geflüchtete, viele davon mit psychischen Erkrankungen. Die Ergebnisse: Einer von fünf Bewohnern stelle eine Gefahr für sich oder andere dar, sagt Helmer: "Das ist bei uns nicht die Ausnahme. Das ist unser Alltag."
In den meisten Fällen werden die Betroffenen aber vor allem zum Risiko für sich selbst: Viele nehmen sich das Leben, andere vernachlässigen aufgrund ihrer Krankheit ihre Kinder. Vielfach entwickeln die Betroffenen Folgeerkrankungen und werden zur Belastung für das deutsche Gesundheitssystem.
Der Grund für die Versorgungslücke ist den Recherchen zufolge, dass Bund, Länder und Kommunen deutlich zu wenig Geld zur Verfügung stellen, um psychische Krankheiten bei Asylsuchenden zu entdecken und sie zu behandeln.
Besonders groß ist das Defizit demnach bei den Bundesländern. Diese sind als Betreiber der Erstaufnahmeeinrichtungen laut geltendem EU-Recht dafür verantwortlich, alle Neuankömmlinge auf ihren Gesundheitszustand hin zu untersuchen – und zwar ausdrücklich auch auf ihren psychischen Zustand hin. Eine Abfrage von Correctiv bei den Bundesländern ergab jedoch, dass diese Untersuchungen so gut wie nie stattfinden – was dazu führt, dass seelische Erkrankungen in den meisten Fällen gar nicht erst erkannt werden.
Auch für die Behandlung stehen kaum Plätze zur Verfügung: Nur rund vier Prozent der psychisch kranken Asylsuchenden können in dafür vorgesehenen sogenannten psychosozialen Zentren behandelt werden – und für das kommende Jahr plant die Bundesregierung, deren Förderung weiter zu kürzen.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte Correctiv mit Blick auf die Gefährdung für die Allgemeinheit: "Ganz engmaschig müssen wir Flüchtlinge betreuen, die psychisch auffällig sind. Wenn wir das nicht können, ist das ein Sicherheitsrisiko, das es nicht geben muss." Denn diese Menschen seien "unberechenbar und können mit besonders kurzer Zündschnur von jetzt auf gleich eine Gefahr für Leib und Leben werden". "Im schlimmsten Fall werden Menschen angegriffen, verletzt oder getötet", so Reul.
CDU-Chef Friedrich Merz, der kürzlich von einer angeblichen Überversorgung Geflüchteter mit medizinischen Leistungen gesprochen hatte, wollte sich zum Thema nicht äußern, wie sein Sprecher mitteilte.
Die ganze Recherche findet sich auf der Website von Correctiv.