Nach zehn intensiven Tagen der Internationalen Filmfestspiele Berlin füllte am vergangenen Samstag die Abschlusszeremonie des Festivals den Berlinale Palast. Mit der immer energiegeladenen Anke Engelke als Gastgeberin war der Abend außergewöhnlich emotional und das nicht nur, weil es die letzte Berlinale des Festivaldirektors Dieter Kosslick war.
Bevor die Preise bekannt gegeben wurden, las die Jurypräsidentin, die französische Schauspielerin Juliet Binoche, eine Erklärung vor, in der das Bedauern der Jury zum Ausdruck gebracht wurde, dass sie den chinesischen Wettbewerbsfilm "One Second" von Regisseur Zhang Yimou über die Kulturrevolution in China nicht berücksichtigen konnten, da dieser kurzfristig aus "technischen Gründen" zurückgezogen wurde.
Der begehrte "Goldene Bär" der 69. Berlinale wurde von der sechsköpfigen Jury an den Film "Synonyme" des israelischen Regisseurs Nadav Lapid vergeben. Seine autobiografische Geschichte dreht sich um einen gestörten israelischen Ex-Soldaten, der versucht seiner Vergangenheit zu entfliehen und eine neue Nationalität und Identität in Frankreich anzunehmen. In einer ergreifenden Dankesrede widmete Lapid die Auszeichnung der Filmeditorin, seiner Mutter, die in den letzten Tagen ihres Lebens die Schnittarbeit fortgesetzt hatte. Der Film gewann am Vortag in der Deutschen Kinemathek einen prestigeträchtigen Fipresci-Preis, zusammengenommen belegte dies die große kritische Würdigung des Films.
Trotz dieser Anerkennung war der Film über den desorientierten und selbstbeschäftigten Antihelden Yoav, gespielt von Tom Mercier, weniger beliebt beim Mainstream-Publikum. Die Ablehnung seines Heimatlandes durch den Protagonisten hat in Israel eine Kontroverse ausgelöst, da es laut Direktor ein Land ist, in dem uneingeschränkte Loyalität gefordert wird. "Israel befindet sich in einer schweren Phase in seiner Geschichte mit viel Brutalität", sagte er der Presse. Bei der Preisverleihung fügte er eine positive Anmerkung hinzu: "Der Film ist möglicherweise ein Skandal in Israel", sagte er, "aber es ist auch eine Feier des Lebens."
Silberbärenpreise gingen an den französischen Film "Gelobt sei Gott" von Francis Özon, einem Dokudrama, welches die quälenden Wunden sexuellen Missbrauchs durch den katholischen Klerus behandelt, und an "Systemsprenger", einem herzzerreißenden Film über ein Mädchen, welches sich allen Rettungsversuchen widersetzt. Der Silberne Bär für den besten Regisseur ging an Angela Schanalec für ihren Film "Ich war zuhause, aber" und die Preise für besten Schauspieler und beste Schauspielerin gingen an die Hauptdarsteller aus "So Long, My Son" von Wang Xiaoshuai. Das beste Drehbuch wurde an den italienischen Film "Piranhas" verliehen, und die beste Kinematographie an Rasmus Videbaek für seine Arbeit an "Pferde stehlen" des norwegischen Regisseurs Hans Petter Moland.
Ein Wettbewerbsfilm, der einen Preis verdient hätte, jedoch mit leeren Händen blieb, war die wunderschön gearbeitete nordmazedonische Produktion "Gott existiert, ihr Name ist Petrunya" von Regisseurin Teona Strugar Mitevska. Der Film wurde jedoch mit zwei Preisen unabhängiger Jury getröstet. Es präsentiert die Schauspielerin Zorica Nusheva, die gekonnt eine gebildete Frau spielt, die in einer trostlosen Existenz ohne Zukunft gefangen ist. Sie offenbart ihre eigene Kraft durch eine spontane, mutige Tat, welche sie gegen ein rachsüchtiges und brutales Patriarchat stellt. Ein weiterer herausragender Film, der bei den Preisen übersehen wurde, war "Öndög", ein langsam erzählter, lakonischer Film, der in der Mongolei spielt, dabei wunderschön, manchmal unkonventionell und oft unerwartet, mit einer starken und autarken Frau im Mittelpunkt der Geschichte.
Nach der letzten Auszeichnung und nachdem die internationale Jury Dieter Kosslick einen riesigen ausgestopften Bären vorgestellt hatte, strömte die anwesende Filmbranche in die Flure des Berlinale-Palastes vor der Vorführung des frisch gekrönten Goldenen-Bär-Films. Ein US-Kritiker sagte, es sei die beste Berlinale in letzter Zeit gewesen, während ein italienischer Fernsehproduzent sich darüber beklagte, dass das Festival dieses Jahr weniger internationale Stars aufwies. Ein französischer Geschäftsmann lobte die kulinarische Filmsektion, während ein australischer Filmkritiker über die Debatten der Berliner Kritikerwoche reflektierte. Eine armenische Festivalprogrammiererin sagte, sie habe wertvolle Kontakte auf dem europäischen Filmmarkt geknüpft, während ein junger ukrainischer Kameramann herzlich über das Berlinale Talente-Programm sprach, an dem er teilgenommen hatte. Eine Journalistin aus Bangladesch sagte, sie sei erschöpft, sprach aber begeistert über das Radio Eins Berlinale Talk-Programm im Cinemaxx. Knut Elstermann führte dort engagierte Interviews mit Regisseuren, Schauspielern und Kritikern.
Einige blieben nicht für die Filmvorführung nach der Preisverleihung. Die Journalisten eilten mit allen Preisträgern zur Pressekonferenz nach der Preisverleihung. Andere machten sich auf den Weg zu einer letzten Runde der Berlinale-Partys, angefangen mit der offiziellen Versammlung im Crackers in der Friedrichstraße. Das jüngere Publikum schloss sich dem Rave in der Berlinale Audi Lounge direkt neben dem Palast an, wo in der Nacht zuvor eine "stille Party" stattgefunden hatte.
Das Fest für Filme, welches die 69. Berlinale war, dauerte bis Sonntag, ein Tag, an dem die Öffentlichkeit die endgültige Auswahl sehen konnte. Im Haus der Berliner Festspiele stellte der Leiter von Amnesty International Germany den Film vor, der in diesem Jahr den 15. jährlichen Preis der Organisation gewann, den brasilianischen Dokumentarfilm "Espero tua (re) volta" der Regisseurin Eliza Capai. Der scheidende Festivaldirektor Kosslick war ebenfalls anwesend und bezeichnete die Berlinale als audiovisuelle Menschenrechtsorganisation.
Capais Dokumentarfilm zeigt auf, wie mutige Schüler aus Sao Paolo in 2015 mobilisierten und Demonstrationen und Schulbesetzungen nutzten, um den Abbau ihres öffentlichen Schulsystems erfolgreich zu verhindern. Capai äußerte sich nach der Vorführung zu ihrer Hoffnung, dass sich Studenten in anderen Ländern vom Film inspirieren ließen und kündigte an, dass Kopien kostenlos für Studiengruppen zur Verfügung gestellt würden. Sie widmete ihren Preis jedem, der für eine bessere Welt, eine Welt mit Gerechtigkeit, kämpft.
Capais Vater wurde während der brasilianischen Militärdiktatur 1964–1985 als politischer Gefangener gefoltert. Der Horror dieser Zeit war Gegenstand eines anderen brasilianischen Films im Festival, "Marighella", dem Regiedebüt von Wagner Moura (bekannt für seine Rollen in "Narcos" und "Elite Squad"). Sein aufgeladener Film mit dem Sänger und Schauspieler Seu Jorge in der Hauptrolle erzählt vom tragisch zum Scheitern verurteilten Widerstand einer Gruppe von Brasilianern, angeführt von dem Schriftsteller Carlos Marighella, der den brasilianischen Militärapparat mit hoffnungslosen Aussichten bekämpfte. Die Berlinale-Weltpremiere fand 50 Jahre nach dem Mord an Marighella durch staatliche Truppen statt.
Moura sprach mit großer Emotion zur Presse über die sich verschlechternde Situation in Brasilien unter dem rechten Präsidenten Jair Bolsonaro. "Der bewaffnete Kampf und Widerstand damals (unter der Diktatur)", sagte Moura, "unterscheidet sich nicht so sehr von dem Widerstand, den wir jetzt in Brasilien haben müssen. Und damit spreche ich vom Widerstand der LGBT-Gemeinschaft, schwarzen Menschen aus den Favelas und den indigenen Brasilianern, alles Menschen, die mit dieser Regierung sicherlich viele Probleme haben werden." Moura fügte hinzu, dass es schwierig sein würde, den Film in Brasilien zu veröffentlichen, da sie auf einen starken Widerstand stoßen würden. "Es geht um Sichtweisen", sagte er, "und die Sichtweise in Brasilien beginnt sich bereits zu ändern." Und tatsächlich berichtete der Guardian drei Tage später, dass der Film von Präsident Bolsonaro angeprangert worden war und bereits vor seiner Freilassung Kontroversen im ganzen Land ausgelöst hatte.
Wie der scheidende Festivaldirektor Dieter Kosslick nach der Sonntagsvorstellung zu lautem Beifall sagte: Die Filme im Festival zeigen so oft Menschen in Widerstand, "weil es so viele Idioten auf der Welt gibt."
5 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
"... jedoch mit leeren Händen blieb ..." - irgendwie etwas, sagen wir, kauzig? Andererseits gefällt mir Gillian Dells Schreibstil; ging mir schon bei ihrem letzten Beitrag so aus "...
Inzwischen glaube (!) ich fast, sie macht das absichtlich und nur, damit ich darüber stolpere. Ich kenne solche Leute...
Das alleine kommt mir schon wichtiger vor als die Pleite der Elsflether Werft.
Noch wichtiger - ich wäre gerne auf der Berlinale gewesen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Zugegeben, etwas verklausuliert; aber (s. 'Schreibstil') das sollte ein Kompliment an die Autorin sein. Allein der letzte Absatz lohnt das ganze Lesen!
Wolfgang Schaefer am Permanenter Link
Die Zeiten der klassischen Musik ist vorbei, die Zeiten der Literatur sind vorbei und die heutigen Filme sind nicht mehr das, was sie einst waren.
Hans Trutnau am Permanenter Link
S\
*Können* die "heutigen Filme" eigentlich das sein, "was sie einst waren"?
\S
Ich will ja nicht nur negativ sein, lieber Wolfgang Schaefer.
Wolfgang Schaefer am Permanenter Link
Also gegenüber dem barbarischen Christentum bin ich nur negativ, bei anderen "Gepflogenheiten" bin ich positiv gestimmt, wenn nicht wieder aus einer windigen Ecke ein Kreuz auftaucht und die schöne Stimmung