Nachruf auf Franz M. Wuketits

Ein unverbesserlicher Freigeist

Der Wiener Zoologe, Evolutionsbiologe und Wissenschaftstheoretiker Franz M. Wuketits ist tot. Er starb am gestrigen Mittwoch nach langer schwerer Krankheit im Alter von 63 Jahren. Ein Nachruf von Michael Schmidt-Salomon.

"Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst!" – Mit diesen Worten hätte Franz M. Wuketits, den seine Freunde nur "Manfred" nannten (das ominöse "M." in seinem Namen), wohl seinen eigenen Tod kommentiert. Ich habe ihn diesen Satz unzählige Male sagen hören – und doch musste ich immer wieder lachen, wenn er ihn mit seinem wunderbaren Wiener Schmäh zum Besten gab. Selbst jetzt zaubert die Erinnerung an ihn ein Lächeln auf mein Gesicht, obwohl mich die Nachricht von seinem Tod tief erschüttert hat.

Ich traf Manfred das erste Mal Ende der 1990er Jahre auf einem der wunderbaren Seminare, die Georg Batz in Nürnberg organisierte. Manfred stellte damals sein Buch "Naturkatastrophe Mensch" vor, in dem er die Evolution als "Zickzackweg auf dem schmalen Grat des Lebens" beschrieb. Eigentlich war es von der Seminarleitung vorgesehen, dass ich den als "zwanghaften Pessimisten" verschrienen Evolutionsbiologen aus humanistischer Perspektive kritisieren sollte, aber ich erkannte schnell, dass dieser Mann absolut richtig damit lag, jeglichen "Fortschrittsautomatismus" nicht nur in der Natur, sondern auch in der menschlichen Kultur zu bestreiten. (Manfred ging in dieser Hinsicht deutlich weiter als Stephen Jay Gould in seinem etwa zeitgleich erschienenen Buch "Illusion Fortschritt". Ich persönlich halte Manfreds Werk, das 2009 unter dem treffenderen Titel "Evolution ohne Fortschritt" neu aufgelegt wurde, für eines der besten Bücher, die zu diesem Thema je geschrieben wurden, und kann es nur jedem empfehlen, der sich für eine zeitgemäße Interpretation der Evolutionstheorie interessiert.)

Schon damals, bei unserem ersten Treffen in Nürnberg, entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen uns. Davon habe ich in den Folgejahren auch in intellektueller Hinsicht stark profitiert. Denn Manfred gab mir, der ich bis dahin durch die Denkmuster der Sozial- und Geisteswissenschaften geprägt war, den entscheidenden Impuls, mich intensiver mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen und die Gräben zwischen den "drei Wissenskulturen" zu überwinden. Einen besseren Mentor für dieses Unternehmen hätte ich mir kaum aussuchen können. Denn Manfred war ein Meister des interdisziplinären Denkens. Er hatte in den 1970er Jahren nicht nur Zoologie und Paläontologie, sondern auch Philosophie und Wissenschaftstheorie studiert. Nach der Promotion (1978) und der Habilitation (1980) lehrte er u. a. an der Uni Wien, wurde Gründungs- und Direktionsmitglied des "Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung" und veröffentliche rund 500 Aufsätze sowie über 40 Bücher, durch die er sich einen Namen machte als einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Geschichte und Theorie der Biowissenschaften, der Evolutionstheorie, der evolutionären Erkenntnistheorie und Ethik sowie der Soziobiologie.

2002 lud mich Manfred zur Tagung "Humanität – Hoffnungen und Illusionen" ein, wo ich einen Vortrag zur "Perspektive des evolutionären Humanismus" halten sollte. Ohne es beabsichtigt zu haben, löste Manfred dadurch die Gründung der Giordano-Bruno-Stiftung aus, die 2004 auf der Blaupause eben jenes Vortrags entstand. Selbstverständlich war Manfred von Anfang an aktiv in die Stiftungsarbeit involviert. Tatsächlich war er der allererste Beirat der gbs und motivierte viele seiner Kollegen (u. a. Volker Sommer und Bernulf Kanitscheider) dazu, sich der Stiftung ebenfalls anzuschließen. Im März 2004 war Manfred selbstredend auch der erste Referent, der einen Vortrag (Thema: "Der Affe in uns") im neu geschaffenen "gbs-Forum" hielt (damals noch am alten Stiftungssitz in Mastershausen). Auch später übernahm Manfred zentrale Funktionen bei wichtigen Stiftungsereignissen. So sprach er die Laudatio auf Richard Dawkins bei der Verleihung des Deschner-Preises 2007 (dokumentiert in Band 2 der gbs-Schriftenreihe) sowie die Laudatio auf Charles Darwin bei dem Festakt zu dessen 200. Geburtstag in der Deutschen Nationalbibliothek (siehe Band 3 der Schriftenreihe).

In den 20 Jahren, die wir uns kannten, habe ich Manfred in seinen vielen, mitunter auch skurrilen Facetten schätzen gelernt: Er war ein blitzgescheiter, umfassend gebildeter Intellektueller, von dem man unglaublich viel lernen konnte, ein Wiener Original, dem es schwer zu schaffen machte, dass man in den Kaffeehäusern nicht mehr rauchen durfte, ein unverbesserlicher Freigeist, der sich gegen jede Form der Bevormundung zur Wehr setzte (auch wenn er gerne das "Lob der Feigheit" predigte), ein fanatischer Büchernarr, der stundenlang in einem Antiquariat verbringen konnte, ein wunderbar komischer Kauz, der erst am späten Abend wach wurde (weshalb er nur selten Seminare vor 18.00 Uhr abhielt), ein echter Schlawiner, der die Menschen mit seinen pfiffigen Formulierungen immer wieder zum Lachen bringen konnte.

In den letzten Jahren haben wir uns leider seltener gesehen, vor allem, nachdem er seit dem Sommer 2017 mit den Symptomen seiner schweren Krebs-Erkrankung zu kämpfen hatte, die ihn dazu zwang, viele Termine abzusagen. Zuvor aber haben wir ganze Nächte durchdiskutiert, unendlich viel gescherzt, gelacht, getrunken, geraucht. Oft trennten wir uns erst in den frühen Morgenstunden. Bei den Stiftungstreffen waren wir stets die Letzten, die ins Bett gingen. Wirklich übertrieben haben wir es selten – mit einer Ausnahme vielleicht, als wir in der Stiftungsbar zwischen vier und fünf Uhr morgens versehentlich eine 75 Jahre alte Portweinflasche leerten, die aus dem Geburtsjahr von gbs-Gründer Herbert Steffen stammte. Glücklicherweise war Herbert über unser Malheur keineswegs erbost, sondern höchst amüsiert ("Ich hätte nicht gedacht, dass man das alte Zeug noch trinken kann!"). Selten hat man Manfred so erleichtert erlebt.

Ich werde die Gespräche mit Manfred vermissen. Er war einer jener Menschen, dem ich neidlos einen Exklusivanspruch auf ewige Gesundheit zugebilligt hätte. Gestern ist er in den Armen seiner Frau gestorben. Ich kann es kaum fassen, dass er tot ist.