Ausbildung zum Naturheilpraktiker trägt sektiererische Züge

Was für ein klingender Titel: Eidgenössisch diplomierter Kinesiologe! Kinesio… was? Diese alternativmedizinische Diagnose- und Behandlungsmethode arbeitet mit Muskeltests und ist umstritten. Trotzdem adelt der Bund seit kurzem die Kinesiologen und über ein Dutzend andere Anbieter komplementärer Methoden mit einem Diplom.

Die Phoenix-Schule, die Ausbildungen dazu anbietet, schreibt dazu: "Es handelt sich um einen staatlich anerkannten Abschluss der höheren Berufsbildung. Die Komplementär-Therapie mit ihren rund 12.000 Praktizierenden in der Schweiz hat dadurch einen in ganz Europa einmaligen Status errungen."

Weniger euphorisch beurteilt diesen Sonderstatus A. B. (Initialen geändert.) Er durchläuft in einer anderen Schule die Ausbildung zum eidgenössisch diplomierten Naturheilpraktiker.

Was er dort erlebt, erschüttert sein Vertrauen in die Welt der Alternativmedizin. Er erklärt: "In meinen Augen ist es ethisch und moralisch in keiner Weise vertretbar, ja verwerflich, dass mit den gängigen, evidenzlosen Naturheilverfahren Geld verdient wird. Es werden Hoffnung und Verzweiflung von Patienten ausgenutzt, um sich zu bereichern."

A. B. nervt auch, dass er Disziplinen studieren muss, die seiner Ansicht nach nichts mit der Naturheilkunde zu tun haben. Dazu zählt er unter anderem Homöopathie, Bachblüten, Schüsslersalze, Humoralmedizin, Irisdiagnostik und Astromedizin. Viele Studien würden zeigen, dass diese Methoden wirkungslos seien und bestenfalls einen Placeboeffekt bewirkten.

Außerdem hätten die Anbieter dieser Methoden nie die Wirksamkeit wissenschaftlich nachweisen oder beweisen müssen, moniert A. B. Er kann deshalb nicht verstehen, weshalb das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) eine Ausbildung billige, bei der solche Disziplinen gelehrt würden.

Der Student macht bei den genannten Methoden sogar ein erhebliches Schadenspotential aus, wenn aufgrund dieser Methoden eine angemessene Therapie ausbleibe.

Seine Begründung: "Das Gedankengut vieler Naturheilpraktiker gefährdet Patienten und Hilfesuchende, weil sie die akademische Medizin gezielt ablehnen und die eigenen Verfahren als Wunderheilmethoden propagieren. Die wissenschaftlich nicht bestätigten Behandlungen halten die Patienten von einer adäquaten und plausiblen Therapie ab."

Man müsse sich vor Augen führen, dass eine simple und gleichzeitig "ganzheitliche" Erklärung bei einem derart komplexen System wie der Medizin mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die richtige sein könne, erklärt A. B. Außerdem seien die Kosten für die wirkungslosen Therapien hoch.

"Das Leid, das viele Patienten erfahren, übersteigt den Nutzen dieser Methoden um ein Vielfaches, weshalb sie verboten werden sollten", bilanziert er. Überhaupt vermisst er bei vielen Naturheilpraktikern ein ethisches und moralisches Gewissen.

A. B. studiert Naturheilkunde, weil er überzeugt ist, dass es nützliche und sinnvolle Anwendungen gibt. Er erwähnt klassische Massagen, stoffgruppenbasierte Phytotherapie, also die Verwendung von Pflanzenbestandteilen, und physikalische Therapieformen. Diese kämen in der Ausbildung viel zu kurz.

Lehrreich und essentiell sind für ihn hingegen die Fächer Anatomie, Pathologie und Physiologie. Doch diese würden von praktizierenden Ärzten unterrichtet, die wissenschaftlich und rational denken und handeln.

Pseudoreligiöse, spirituelle, magische und esoterische Aspekte

A. B. möchte den Namen seiner Schule nicht nennen, weil er Nachteile bei den Prüfungen oder seiner beruflichen Laufbahn befürchtet. Er will die Schule beenden, denn ohne Diplom wäre es für ihn unmöglich, zu arbeiten. Er möchte dereinst nur Therapien anwenden, die nachweisbar wirksam sind. Außerdem möchte er mithelfen, die Naturheilkunde auf der Basis der Naturwissenschaften zu überarbeiten sowie unplausible Therapie- und Diagnoseverfahren auszuräumen.

Er erlebt immer wieder, wie die Dozenten und Mitstudenten pseudoreligiöse, spirituelle, magische und esoterische Aspekte in die Behandlung oder ins naturheilkundliche Gedankengut einfließen lassen. A. B. erkennt bei vielen Naturheilpraktikern und Dozenten auch sektiererische Züge.

Fadenscheinige Begründungen

Wörtlich: "Die Verschmelzung mit sektenhaftem und verschwörungstheoretischem, rassen- und geschlechtsfeindlichem Gedankengut ist für mich offensichtlich. Das Risiko einer naturheilkundlichen Behandlung trägt nur der Klient, und dieser ist zusätzlich gemäß weit verbreiteter naturheilkundlicher Ansicht selber Schuld, falls die Therapie ein Misserfolg wird."

Viele Naturheilpraktiker nähmen sich mit fadenscheinigen Begründungen wie "der Klient war noch nicht bereit für seine Heilung" oder "die Vorteile der Erkrankung wollte der Patient nicht missen" aus der Verantwortung.

Er hat denn auch erschreckende Geschichten erlebt, die seine Skepsis weiter bestätigten. So habe eine Dozentin für Bachblüten mit einer Studentin darüber diskutiert, ob der Zweite Weltkrieg und der Holocaust stattgefunden hätten, wenn Hitler mit Bachblüten behandelt worden wäre. Damit nicht genug: Mehrere Dutzend Studierende hätten enthusiastisch genickt.

Fiktion und Realität verschmelzen

A. B. ärgert sich auch, dass in seiner Schule empfohlen wurde, Knoblauchzehen um den Hals zu tragen, um nicht mit dem Coronavirus angesteckt zu werden. Dozenten hätten vor dem Lockdown mit Knoblauchketten unterrichtet.

"Sie haben sich damit vermutlich einem höheren Risiko ausgesetzt, weil sie glaubten, geschützt zu sein", vermutet A. B. Es erinnere ihn an die Vertreibung von Vampiren in Gruselfilmen. So schnell würden Fiktion und Realität verschmelzen.

A. B. ist trotz der negativen Erfahrungen überzeugt, dass die Naturheilkunde großes Potenzial besitze. Deshalb brauche es naturwissenschaftliche Grundlagenforschung, um die wirksamen Methoden zu eruieren. Identisch wie bei der modernen, akademisch erforschten und gelehrten Medizin. Der angehende Naturheilpraktiker wünscht sich eine Ergänzung der evidenzbasierten Medizin durch eine naturwissenschaftlich erforschte Naturheilkunde.

Nur Frauen können hysterisch sein

Im Gegensatz dazu würden in seinem Studium vorwiegend jene naturheilkundlichen Methoden behandelt, die auf Behauptungen und Dogmen beruhten. "Diese sollten in einer modernen und aufgeklärten Kultur keinen Platz haben und nicht zugelassen werden", sagt A. B.

Er kennt Therapeuten, die voll Stolz berichten, dass sie für Patienten nach einer Behandlung beten würden. "Ich frage mich, wie viel diese für solche Gebete bezahlen müssen, da alle Dienstleistungen im Fünfminuten-Takt abgerechnet werden. Der Ansatz beträgt im Schnitt immerhin 12 Franken pro Zeiteinheit."

Wie grotesk das veraltete Weltbild vieler Verfechter der Naturheilpraktiker sei, habe ein Dozent an seiner Schule demonstriert. Dieser habe allen Ernstes behauptet, nur Frauen könnten hysterisch werden. Seine Erklärung: Die Dämpfe vom Uterus (= Gebärmutter, auf griechisch "hystéra") beneble den Geist, was zur Hysterie führe. Da Männer bekanntlich keinen Uterus besäßen, könnten sie auch nicht hysterisch werden.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

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