Klimageschichte von 66 Millionen Jahren aus Ozeansedimenten entschlüsselt

In einer Datenanalyse haben Forschende anhand von Ablagerungen in der Tiefsee das Klima der Erdvergangenheit in vorher nie dagewesener zeitlicher Auflösung nachgezeichnet. Das internationale Team unter der Federführung von Dr. Thomas Westerhold vom MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen und Dr. Norbert Marwan vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) hat dafür aus Bohrungen im Ozeanboden einen umfangreichen Datensatz zusammengetragen und entschlüsselt.

Bei der Datenanalyse machen neuartige statistische Methoden, mit denen komplexe dynamische Systeme untersucht werden, Klimazustände zum ersten Mal sichtbar. Sie zeigen, wie berechenbar Klimaveränderungen über sehr lange Zeiträume sind. Ihre neue Klimareferenzkurve stellte das Team am 11. September 2020 in der renommierten Fachzeitschrift Science vor. 

"Unser Ziel war es, für alle Forscherinnen und Forscher weltweit eine Referenzkurve des Erdklimas zu erstellen, die nicht nur die höchstaufgelösten Daten aus 66 Millionen Jahren vereint, sondern auch zeitlich deutlich präziser ist", erklärt Erstautor Thomas Westerhold vom MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen. "Wir wissen nun genauer, wann es wärmer oder kälter auf dem Planeten war und welche Dynamik dem zugrunde liegt." 

Blick in die Vergangenheit ist auch ein Blick in die Zukunft

"Was im Material zunächst unsichtbar ist, verborgene Zusammenhänge und wiederkehrende Muster, das können unsere mathematischen Analysen aufdecken", sagt Norbert Marwan vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). "So ist der Blick in die Vergangenheit immer auch einer in die Zukunft. Aus den langsamen natürlichen Klima-Schwankungen der Jahrmillionen lässt sich dann auch etwas für die atemberaubend rasche menschgemachte Veränderung unseres Jahrhunderts lernen." Wie ein bunter Strichcode lassen sich die klimatischen Veränderungen der vergangenen 66 Millionen Jahre studieren. 

Seit mehr als fünf Jahrzehnten wird bei international koordinierten Expeditionen – dem International Ocean Discovery Program IODP und seinen Vorläuferprogrammen (DSDP, ODP, IODP) – weltweit Probenmaterial vom Ozeanboden gewonnen. Erst dieses spezielle Material und die darin enthaltenen Mikrofossilien ermöglichen es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, globale Klimaveränderungen bis weit in die Vergangenheit zu rekonstruieren und zu analysieren. Dafür nutzen sie Spuren von Sauerstoff- und Kohlenstoffisotopen, die Informationen liefern zu vergangenen Tiefseetemperaturen, zum globalen Eisvolumen und dem Kohlenstoffkreislauf. Sie sind in fossilen Schalen von Kleinstlebewesen gespeichert, die am Meeresboden gelebt haben. Sie bilden ein Archiv vergangener Klimabedingungen, das Forschende nutzen, um Vergleiche zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu ziehen. 

Gewaltige, internationale Gemeinschaftsanstrengung

Den Grundriss einer globalen Klimareferenzkurve gibt es bereits seit 2001, detailliert reicht sie 34 Millionen Jahre zurück. Seitdem allerdings sind die Klimaaufzeichnungen in vielen neuen Bohrungen quantitativ und qualitativ besser geworden. Vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten haben die wissenschaftlichen Ozeanbohrprogramme gezielt auch in ältere Schichten gebohrt. Damit konnten Forschende nun auf ein qualitativ hochwertigeres, vollständigeres Archiv zurückgreifen und das globale Klima deutlich detaillierter rekonstruieren als jemals zuvor. 

Die neue, CENOGRID genannte Klimareferenzkurve (CENOzoic Global Reference benthic foraminifer carbon and oxygen Isotope Dataset) bildet das Klima seit dem letzten großen Massenaussterbeereignis vor 66 Millionen Jahren und dem Beginn eines neuen Erdzeitalters, dem Känozoikum, ab. "Es ist eine gewaltige internationale Gemeinschaftsanstrengung von vielen Kolleginnen und Kollegen, das Probenmaterial zu erbohren, zu analysieren und zu einer Übersichtskurve zusammenzufügen", erklärt Westerhold. 

Der wichtigste Baustein der neuen Referenzkurve ist das Altersmodell. Wiederkehrende Muster in den Sedimentkernen zeichnen Änderungen der Erdbahn um die Sonne nach, die so genannten Milanković-Zyklen. Wie ein Metronom haben diese Schwankungen den Takt für Klimaveränderungen vorgegeben. Anhand dieser astronomischen Zyklen konnte nun zum ersten Mal das Klima der vergangenen 66 Millionen Jahre kontinuierlich durchgetaktet und damit viel genauer als zuvor datiert werden. "Im Besonderen haben wir für den Zeitraum älter als 34 Millionen Jahre die Datenauflösung und das Altersmodell entscheidend verbessert", sagt Westerhold. Das sei insofern bedeutsam, als dass es in der Paläoklimaforschung auch immer darum gehe, in der Vergangenheit Parallelen zum aktuellen Klima zu finden. "Wir wollen verstehen, welche Klimazustände es in der Vergangenheit gab, welche Prozesse dahintersteckten und wie es weitergegangen ist. Besonders interessant ist die Zeit von 66 bis 34 Millionen Jahren vor heute, als es auf dem Planeten deutlich wärmer war als jetzt." 

Datenanalyse ermöglicht, fundamentale Zustände statistisch präzise nachzuweisen

Innovationen sowohl in Bohrstrategie und -technik als auch in neuen statistischen Analyseverfahren haben in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, einen detaillierten globalen Klimadatensatz zu erstellen. Das CENOGRID ermöglicht es, Verfahren zur Analyse komplexer Daten anzuwenden. In der Studie liefern sie nun einen maßgeblichen Beitrag, die Klimazustände der Vergangenheit und ihre Dynamiken zu bestimmen und besser zu verstehen. "Wir können so zeigen, dass es vier dominierende Klimazustände im Känozoikum gab – Hothouse, Warmhouse, Coolhouse und Icehouse", erklärt Marwan. "In groben Zügen ist diese Einteilung schon länger bekannt, aber erst mit der Datenanalyse ist es uns gelungen, die fundamentalen Zustände statistisch präzise nachzuweisen und ihre charakteristischen Dynamiken offenzulegen."

Schlüssel dafür ist die statistische Methode der Rekurrenz-Analyse. "Die Rekurrenz-Analyse zeigt uns die Dynamik des komplexen Klimasystems, Änderungen und verborgene Muster", so Norbert Marwan. "Das geht über die direkte Datenanalyse aus den Bohrkernen dann weit hinaus." Diese Art der Analyse ermögliche es auch, Aussagen zur Wahrscheinlichkeit von Ereignissen zu treffen – vorausgesetzt, es gibt sehr viele Daten und lange Datenreihen. Für verschiedene Szenarien sei der extrem lange Zeitraum von 66 Millionen Jahren vorteilhaft, "denn nur so können wir untersuchen, ob klimatische Ereignisse oder Muster wiederkehren und somit durch natürliche Vorgänge bestimmt sind. Oder ob sie hier herausragen und deshalb beunruhigend sind." 

Die neue Klimareferenzkurve CENOGRID kann künftig Forschenden weltweit als Grundlage dienen, um ihre Daten sehr präzise in die Klimageschichte einzuordnen. Mit mehr Daten kann nun nicht nur das Bild der klimatischen Vergangenheit weiter verfeinert, sondern auch gezielt regionale Effekte ausgewiesen werden. Das, betonen die Autorinnen und Autoren, sei grundlegend, um die Zuverlässigkeit von Klimamodellen für die Zukunft zu testen.

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