Interview mit Dr. Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte

Edward Snowden oder das "Goldene Zeitalter der Überwachung"

BERLIN. (hpd) Anlässlich des Erscheinens der Publikation "Mutige Aufklärer im digitalen Zeitalter" der Internationalen Liga für Menschenrechte hat der Humanistische Pressedienst mit dem Herausgeber und Vize-Präsidenten der Liga, Dr. Rolf Gössner, ein Interview geführt.

hpd: Gerhart Baum, der frühere Bundesinnenminister (FDP), erwähnte in seiner Laudatio auf Edward Snowden, dass die Große Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung das Versprechen festgehalten hat, "sich für ein Völkerrecht des Netzes einzusetzen". Können Sie uns sagen, was damit gemeint ist und wie weit dieses Vorhaben gediehen ist.

Rolf Gössner: Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD (2013) ist die durchaus richtige Erkenntnis zu lesen, dass das Recht auf Privatsphäre, wie es im Internationalen UN-Pakt für bürgerliche und politische Rechte garantiert ist, "an die Bedürfnisse des digitalen Zeitalters angepasst" werden müsse. Damit die Grund- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger auch in der digitalen Welt gelten und zur Förderung der demokratischen Teilhabe der Bevölkerung am weltweiten Kommunikationsnetz will sich die Große Koalition für ein "Völkerrecht des Netzes" einsetzen – so zumindest die Absichtserklärung. Was daraus in den vergangenen zwei Jahren geworden ist?

Leider gibt es dazu nicht viel zu sagen. Ich kenne jedenfalls außer einer Mitte 2014 vorgelegten "Digitalen Agenda 2014–2017", in der das Vorhaben wiederholt wird, keine nennenswerten konkreten Schritte der Regierung in diese Richtung. Im Gegenteil, muss man inzwischen sagen: eher konkrete Rückschritte. Aktuelles Beispiel: die erneute Legalisierung der Vorratsdatenspeicherung, also der zwangsweisen und anlasslosen Speicherung von Telekommunikations(verbindungs)daten aller Nutzer auf bestimmte Zeit und auf Vorrat für den Fall, dass sie für die Verfolgung schwerer Straftaten gebraucht werden könnten.
 

Was wäre denn von der Bundesregierung an konkreten positiven Schritten zu erwarten gewesen?

Zunächst mal das Naheliegendste: Dass sie zumindest ihren eigenen verfassungsrechtlichen Kernaufgaben nachkommt und die Bevölkerung sowie von Wirtschaftsspionage betroffene Betriebe vor den feindlichen Massenausforschungsattacken "befreundeter" Dienste, also von NSA & Co., schützt.

Das hat sie, wie schon die vorherigen Bundesregierungen, bis heute sträflich unterlassen. Das auffallend zögerliche Verhalten und die geradezu unterwürfige Zurückhaltung gegenüber den USA dürften mit der engen deutsch-amerikanischen Geheimdienst-Kooperation zu erklären sein – Snowden spricht hier davon, dass NSA und BND "in einem Bett" liegen, eine wirklich grauenhafte Vorstellung, doch leider Realität. Die Untätigkeit ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass der bundesdeutsche Auslandsgeheimdienst BND ebenfalls befreundete Staaten, Regierungen und Bevölkerungen ausspäht, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Von wegen "Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht". Geht doch – und nicht nur einseitig!

All das zeigt: Wir brauchen dringend einen nationalen, europa- und weltweiten Kampf für Bürgerrechte und für den Schutz der Privatsphäre als Menschenrecht gerade auch im digitalen Zeitalter - Rechte, die gegenwärtig global, massenweise und systematisch verletzt werden. Ohne Widerstand und Engagement aus der Bevölkerung wird dieser Kampf um die universelle Geltung der Menschenrechte im digitalen Zeitalter und gegen krakenartige und übergriffige Geheimorgane kaum zu gewinnen sein.

Auch davon handelt übrigens die soeben erschienene Buchdokumentation "Mutige Aufklärer im digitalen Zeitalter" zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaillen an Edward Snowden, Laura Poitras und Glenn Greenwald.
 

Die Medaillenverleihung an Edward Snowden, Laura Poitras und Glenn Greenwald ist nun fast ein Jahr her. Wie hat sich in dieser Zeit unser Grundrecht auf "informationelle Selbstbestimmung" entwickelt?

Recht widersprüchlich, würde ich sagen. Sicher: Die "Informationelle Selbstbestimmung", die das Bundesverfassungsgericht mit Bezug auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Grundgesetz, in seinem berühmten Volkszählungsurteil (1983) begründet hat, ist nach wie vor als Datenschutz-Grundrecht anerkannt, und es wird immer wichtiger und existentieller. In gewissem Kontrast dazu stehen allerdings die privat-kommerzielle und insbesondere auch die staatliche IT-Praxis und –Entwicklung, die eher von Expansion und Entgrenzung gekennzeichnet sind.
 

Was meinen Sie konkret – können Sie Beispiele nennen?

Ja, klar. Die erwähnte Widersprüchlichkeit möchte ich anhand von drei Beispielen verdeutlichen:

Inzwischen sind bekanntlich weitere Überwachungsskandale und Spionageaktionen nicht nur der NSA, sondern auch des Bundesnachrichtendienstes (BND) bekannt geworden, der ohnehin heillos in das globale Massenüberwachungssystem verflochten ist. Wieder sind damit gravierende Eingriffe in das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung verbunden und damit in die menschenrechtlich geschützte Privatsphäre.

Anfang Oktober hat der Europäische Gerichtshof aufgrund der Beschwerde eines österreichischen Unionsbürgers dem transatlantischen Transfer personenbezogener Daten in die USA einen Riegel vorgeschoben: Die Safe-Habour-Vereinbarung der EU mit den USA (aus dem Jahr 2000) sei unwirksam und ungültig, die teils sensiblen Daten europäischer Facebook- und Netznutzer seien in den USA mangels eines angemessenen Datenschutzniveaus keineswegs sicher, angesichts der massiven Überwachung durch NSA & Co. würden dort die digitalen Bürgerrechte der Europäer gefährdet und verletzt, so das Gericht. Edward Snowden zeigte sich per Twitter sehr zufrieden mit diesem spektakulären Urteil – denn es ist die erste Entscheidung, die endlich mit Bezug auf seine Enthüllungen weit reichende Folgen zeitigen wird. Wieder einmal – wie schon so oft - muss ein Gericht als Reparaturbetrieb herhalten, um nachzuholen und auszubügeln, was die Politik zu Lasten von Demokratie, Grundrechten und Verfassung versäumt beziehungsweise verbockt hatte. Nun hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass die Grundrechte auf Privatsphäre und Datenschutz nicht nur innerhalb Europas gelten, sondern auch bei internationalen Datentransfers zu beachten sind. Denn staatliche Überwachungs- und kommerzielle Kontroll-Interessen stehen nun mal nicht über den Grundrechten der Bevölkerung. Daraus sind schnellstmöglich geeignete Konsequenzen zu ziehen, die auch an die Substanz bisheriger Strukturen, Praktiken und Gewohnheiten gehen müssen.

Und zwar anders, als dies nach den Grundsatzurteilen des Bundesverfassungsgerichts (2010) gegen das erste bundesdeutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung und des Europäischen Gerichtshofs (2014) gegen die zugrunde liegende EU-Richtlinie passiert ist. Trotz, ja entgegen dieser klaren Urteile hat die Große Koalition die anlasslose Vorratsdatenspeicherung unter anderem Etikett und in abgewandelter Form ("Höchstspeicherfrist" von 4 bis 10 Wochen) kürzlich – mutwillig kann man sagen – wieder legalisiert.