Kommentar

Der 8. Mai sollte ein bundesweiter Feiertag sein

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Wiederaufgebaut und seit 1999 wieder Sitz des deutschen Parlamentes: Das Reichstagsgebäude
Das Reichstagsgebäude

Der heutige Tag war eine historische Zäsur und markierte den Beginn unserer heutigen von Frieden und Wohlstand geprägten Epoche. Dennoch ist er nach wie vor kein Feiertag, auch eine einmalige bundesweite Regelung zum 75. Jubiläum fand keine Mehrheit. Ein Skandal, wenn man bedenkt, dass dies zum Reformationsjubiläum möglich war, aber nicht zur Feier des Kriegsendes. Ein Kommentar.

Heute jährt sich zum 75. Mal der "Tag der Befreiung". Der Befreiung vom Weltkrieg und vom Nationalsozialismus. Ein bedeutender Tag, markiert er doch den Beginn einer zuvor nie dagewesenen Phase des Friedens in Europa. Die Länder, die sich bis zu diesem Tag vor 75 Jahren immer wieder gegenseitig die Köpfe einschlugen, haben sich seitdem in einer Gemeinschaft zusammengefunden, die zusammen Politik macht und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum bildet. Ja, man kann viel an ihr kritisieren, sie könnte einiges besser machen. Sie wird durch die aktuelle Lage wieder einmal auf die Probe gestellt und gibt dabei kein besonders geeintes Bild ab. Und dennoch: Was ist der Streit über Corona-Bonds verglichen mit einer kriegerischen Auseinandersetzung?

Der 8. Mai ist ein Datum, der den Beginn einer neuen Epoche markiert, unserer Epoche, in der man über Wohlstandsproblemchen und Wutbürgertum manchmal den Blick dafür verliert, was für ein Glück wir eigentlich haben, dass wir die Muße haben, uns über Tempolimit und die nicht zu Potte kommende Digitalisierung aufzuregen, weil die existenziellen Fragen geklärt sind. Was echte Probleme sind, darin erteilt uns gerade die Corona-Pandemie eine Lehrstunde.

Trotz aller Bedeutung des Tages, einer Online-Petition mit fast 100.000 Unterzeichnern und des offenen Briefes der Vorsitzenden des Auschwitz-Komitees konnte man sich nicht dazu durchringen, wenigstens zum 75. Jubiläum einmalig einen bundesweiten Feiertag am 8. Mai auszurufen. Lediglich ein einzelnes Bundesland, Berlin, erweist dem Datum in diesem Jahr die Ehre. Während andere Länder diesen Tag groß feiern (ob man dies mit Militärparaden tun muss, sei dahingestellt), wird er bei uns eher verschämt zur Kenntnis genommen.

Sicher haben die Besiegten wohl damals anders empfunden, aber mittlerweile dürfte ja allen klar sein, dass diese Niederlage ein Grund zum Feiern ist. Aber nein: Während ein entsprechender Antrag der Linkspartei von allen Fraktionen außer den Grünen abgelehnt wurde, zeigte die AfD einmal mehr, wes Geistes Kind sie ist: "Für die KZ-Insassen ist er ein Tag der Befreiung gewesen. Aber es war auch ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit", zitiert das Redaktionsnetzwerk Deutschland Bundestags-Fraktionschef Alexander Gauland – was immer dieser mit dem "Verlust von Gestaltungsmöglichkeit" auch gemeint haben mag.

War es 2017 möglich, anlässlich des Lutherjahres aus dem Reformationstag am 31. Oktober einen bundesweiten Feiertag zu machen, war das beim 8. Mai offenbar nicht der Fall. Ein Hassprediger, der mit seinen judenfeinlichen Schriften die geistige Saat ausbrachte, die knapp 400 Jahre später im Holocaust erblühte, kann also bundesweit gefeiert werden, während die Befreiung davon es nicht verdient? Welcher Logik folgt diese Entscheidung? Was sagt das über Deutschland aus? Und was über den Einfluss der evangelischen Kirche im Vergleich zu den Vertretern der Erinnerungskultur? Warum die Reform einer Glaubensinstitution vor einem halben Jahrhundert für die Gegenwart bedeutsamer sein sollte als das Ende eines beispiellosen Vernichtungskrieges und einer menschenverachtenden Ideologie, steht noch auf einem ganz anderen Blatt.

Es bleibt zu hoffen, dass man es wenigstens in Zukunft schafft, hier die richtigen Signale zu senden. In München war es in diesem Jahr erstmals möglich, öffentlichkeitswirksam ein Zeichen durch gehisste weiße Fahnen in der ganzen Stadt zu setzen. Es wäre zu begrüßen, wenn diese Aktion auch in anderen Orten Nachahmer fände. Sollte es daran scheitern, dass man keinen zusätzlichen Feiertag will, könnte man dafür einen der kirchlichen Feiertage abschaffen, deren Bedeutung – abgesehen davon, dass man frei hat – sowieso niemanden in unserer bald überwiegend konfessionsfreien Bevölkerung interessiert.

Es wird sicher Leute geben, die an diesem Kommentar etwas auszusetzen haben werden. Dass in der Friedensphase seit 1945 dennoch der Vietnam- und der Jugoslawienkrieg stattgefunden haben, 9/11 und seine Folgen. Dass es auf der Welt immer noch Armut gibt, Ausbeutung und Ungleichheit. Dass es noch immer Antisemitismus gibt. Aber dennoch müssen auch diese Kritiker zugeben, dass es trotz aller Unzulänglichkeiten insgesamt betrachtet keine friedlichere, sicherere und von Wohlstand geprägtere Phase in der Menschheitsgeschichte gegeben hat als die letzten 75 Jahre. Und deshalb sollte der 8. Mai ein Feiertag sein.

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