Öffentlichkeit und Demokratie

II: Resolution

Stuttgart 21: „Wir können alles außer demokratische Öffentlichkeit“
Am Wochenende des 20. Jahrestags der deutschen Vereinigung haben 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus einem breiten Spektrum von Medien, Initiativen, Verbänden, Gewerkschaften und Protestbewegungen in Berlin folgende Resolution unterstützt:
Wie sehr die weitere Entleerung repräsentativer Demokratie vorangeschritten und gleichzeitig die Beteiligungsansprüche der Bürgerschaft gestiegen sind, verdeutlichen die aktuellen Auseinandersetzungen um „Stuttgart 21“. Mit ihren vielfältigen Protesten, Mobilisierungen und Gegenentwürfen haben Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger exemplarisch einen Lernprozess organisiert, der demokratische Maßstäbe setzt, an denen sich zumindest große Infrastrukturprojekte und Reformvorhaben zu bewähren haben:

• Umfassende und frühzeitige Informationen sind unabdingbar. Noch immer werden wichtige Gutachten der Öffentlichkeit vorenthalten. Bei solchen öffentlichen Vorhaben darf es keine Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse geben.

• Betroffene und potenziell Betroffene sind von Anbeginn anzuhören und an den Entscheidungen umfassend zu beteiligen. Das geltende Planungsrecht wird diesen Ansprüchen nicht gerecht.

• Gefordert ist ein Nützlichkeitsnachweis, der erwartete Kosten, den gesellschaftlichen Nutzen und mögliche Nebenfolgen abwägt. Keinesfalls legitimieren fiktive „Wachstumszwänge“ massive Eingriffe in die Lebensbedingungen von Vielen.

• Es braucht Alternativen. Wo sie nicht gesucht und ausgewiesen werden, liegt der Verdacht bornierter Interessenpolitik nahe.

• Das föderale Dickicht organisierter Verantwortungslosigkeit wie die beanspruchte „Legitimation durch Verfahren“ oder die schwächliche Ausgestaltung direkt-demokratischer Verfahren verweisen auf die Notwendigkeit von demokratieförderlichen Verfassungsrevisionen. Mehr Demokratie ermöglichen, lautet das Gebot der Stunde.

Demokratische Minima wurden in der Umsetzung von Stuttgart 21 von Betreibern und Befürwortern systematisch verletzt. Bürgerinnen und Bürger haben sie „von unten“, durch beharrliche Kleinarbeit und Professionalisierung bei der Suche nach Alternativen, aber auch zunehmend durch phantasievolle Protestmobilisierungen erstritten, für die auch die digitalen Medien eine zunehmend wichtige Rolle spielen.
Stuttgart 21 sollte zum Lehrstück in Sachen demokratische Öffentlichkeit werden. Es verweist nicht nur darauf, wie wenig alltägliche Demokratie heute in den Parlamenten und politischen Parteien anzutreffen ist. Es zeigt auch die Möglichkeiten, die sich aus dem Mut zum Neinsagen von zunächst Wenigen und schließlich einer wachsenden Zahl bei Protestaktionen, aus dem Zusammenspiel vielfältiger alter und neuer Medien ergeben können. Es braucht das alltägliche Engagement der Vielen, die sich das Recht auf ihre Stadt nehmen.
Notwendig ist ein sofortiger Baustopp und ein Überdenken des gesamten Verfahrens unter Offenlegung von Kosten, Folgelasten und die breite Erörterung möglicher Alternativen.
Demokratie braucht Öffentlichkeit!
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Theresa Siess