3. Der Islam und das Kopftuch in der belgischen Gesellschaft
a. Bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war der Stempel der Religion (in diesem Fall Katholizismus), nicht aus dem gesellschaftlichen Leben wegzudenken. Nicht nur existierte die weltanschauliche Erstarrung, mit einem Übergewicht (in Flandern) der katholischen Säule, auch die Behörden, die neutral zu sein hätten, waren es nicht. (…)
b. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat dann ein Säkularisierungsprozess begonnen, durch den die religiös-säkularen Gegensätze allmählich aus dem öffentlichen Leben verschwanden.
Die Entkirchlichung hat sich schnell durchgesetzt und die Autorität der katholischen Hierarchie verblasste. (…) Auch die Priester und Mönche haben ihre stark auffallende Bekleidung aufgegeben.
Diese Form der Befriedung durch Säkularisierung ist ein wertvolles Gut. Sie greift in keiner Weise die Freiheit der Meinung und Meinungsäußerung an, da es genug Medien gibt, um die eigene Meinung zu verteidigen, ohne sie unerwünscht anderen aufzuzwingen. Die erste Generation der muslimischen Einwanderer hat die Säkularisierung nicht infrage gestellt: Sie blieben ihrer Religion treu, ohne das auf eine übertriebene Weise zu manifestieren. Frauen, die arbeiteten trugen, oft ein leichtes Kopftuch, wie sie es in ihrer eigenen Region gewohnt waren. Niemand hatte ein Problem damit. Die meisten Mädchen, die studierten, trugen gar kein Kopftuch.
c. Unter dem Druck der fundamentalistischen Bewegung (Iran, Muslimbruderschaft, Salafisten ...), ist seit den 80er Jahren, teils angeregt durch die Ereignisse auf internationaler Ebene (z. B. 11.09) eine stärkere Bejahung des Muslimseins entstanden, wodurch der Konfliktstoff (diskutiert unter 1. b.c.d) nun wirklich in den Vordergrund trat.
Diese globale Bewegung ist bei uns durch den Religionsunterricht und unter Einfluss einiger Imame in die Moscheen und Schulen eingedrungen. Das hat sich als erstes im Aufstieg der al Amira Hijab deutlich manifestiert. Die autochthone Bevölkerung ist sich dessen erst bewusst geworden durch seine Ausbreitung bei immer mehr Beamten und bei einer zunehmenden Anzahl von (meist) minderjährigen Schülern.
Diejenigen, welche das Problem bei einer anti-islamischen Reaktion der Autochthonen suchen, stellen, wahrscheinlich gedankenlos, die Sache auf den Kopf. Der Prozess der Säkularisierung, welcher die religiösen Gegensätze dadurch befriedete, dass er deren ungefragten öffentlichen Äußerungen aus dem öffentlichen Leben abfließen ließ, war ein sehr positives Geschehen, das ohne Zwang auskam.
Ausgerechnet dieser Prozess wurde unterbrochen durch die salafistischen religiösen Einflüsse von Religionslehrern, die Kinder ermutigen, veraltete islamische Interpretationen in Form der Hijab auszudrücken. Kleidungsvorschriften, wie das allgemeine Verbot einer Kopfbedeckung im Unterricht, die jeder früher ohne Probleme akzeptierte, führen jetzt zu heftigem Widerstand. Die Leute realisieren nicht, dass die langsame Entwicklung in Richtung einer friedlichen Gesellschaft, welche die Religion als Konfliktstoff hinter sich gelassen hat, durch diese provokatorischen Äußerungen in umgekehrter Richtung getrieben wird. Man realisiert nicht, dass, wenn wir Hijab, mit Hinweis auf die Religionsfreiheit in Schulen und bei Beamten zulassen, die unter '1. b. c. d.' angesprochenen Verhaltensweisen und Praktiken sich mit den gleichen Argumenten etablieren werden - etwas, das wir jetzt bereits feststellen können.
Insbesondere wird dabei vergessen, dass es dann jedem frei steht, durch die Kleidung die eigenen Sichtweisen zu artikulieren. Ein T-Shirt mit den Worten "Allah gibt es nicht" in der Schule oder bei Beamten (und viele weniger saubere Varianten) würde dann eine rechtmäßige Meinungsäußerung sein. Eine friedliche Gesellschaft können wir dann wohl vergessen.
Kurz gesagt, das öffentliche Aufzwingen von markanten religiösen Symbolen in einer Gesellschaft, die sich davon bereits verabschiedet hatte, ist die eigentliche Quelle des Konflikts, und nicht eine plötzliche Reaktion der Intoleranz oder Islamophobie.
Viele Gegner des Kopftuchverbots starren verblendet auf die belgische Situation und sind sich nicht der globalen Natur dieser Bewegung bewusst. Sie denken, dass die Muslime noch keine Zeit hatten, sich an unsere Kultur anzupassen, während sich de facto eine Gegenbewegung gegen diese Art der Anpassung entwickelt hat.
Sieht man wirklich nicht, was in Algerien, Sudan, Ägypten, Kaschmir, der Türkei, Pakistan, Afghanistan, Malaysia, Nigeria und vielen anderen Ländern los ist? Im Vereinigten Königreich, das einigen als Beispiel dient, muss man jetzt ein Zugeständnis nach dem anderen machen: Da haben sich der Niqab und die Burka in Marsch gesetzt, Demonstrationen für den Mord an Salman Rushdie konnten frei stattfinden und Sharia-Gerichte arbeiten bereits in vielen Stadtteilen.