Deutschland Deine Kinder (1)

Die Möglichkeit, eine neutrale Institution damit zu beauftragen, das Unrechtssystem in den Heimen zu untersuchen, mit der Kompetenz, die Herausgabe von Heimakten zu erzwingen und Zeugen zu stellen, wie z.B. in Irland praktiziert, wurde bewusst nicht genutzt. So sind weitere zwei Jahre vergangen, in denen Akten von ehemaligen Heimkindern von Jugendämtern, Heimen und Klöstern zumindest potentiell vernichtet oder in den Archiven des Vatikans versiegelt werden konnten. (6)

Experten rechnen damit, so die Verlautbarungen, dass sich von den ca. 800.000 Betroffenen lediglich ca. 30.000 melden werden, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Diese Äußerung hat eine suggestive Botschaft. Man kann sie leicht so interpretieren, dass der Staat nicht erwartet, dass sich mehr Berechtigte melden werden. Wie eine Einladung oder gar eine Ermutigung an die Nachkriegs-Kinderheim-Überlebenden klingt dies nicht.

Das Ergebnis ist aus Sicht der Betroffenen ehemaligen Heimkinder, die heute zwischen 45 und 70 Jahre alt sind, als mangelhaft zu bezeichnen. Ungenügend und erneut diskriminierend sind die zugesagten Regelwerke für finanzielle und immaterielle Entschädigungen. (7) Den Betroffenen wurde immer wieder nahegelegt, Verständnis dafür entwickeln, dass „kein Geld da“ sei, während der Staat aus allgemeinen Steuergeldern (die Kirchensteuereinnahmen sind hier nicht berücksichtigt) jährlich ca. 500 Mill. Euro allein für kirchliches Personal ausgibt. (8)

Besonders erschütternd ist es, dass der Runde Tisch Heimerziehung sich ausdrücklich dagegen verwehrt hat die Ansprüche von Betroffenen mit körperlichen- und geistigen Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. Die Begründung gab der Runde Tisch in „Amtssprache“, es wurde gesagt, man habe dafür keinen Auftrag. (9) Auch wurde die Chance vertan, die institutionelle Erziehung in eine gesamtdeutsche Betrachtung einzubeziehen, denn die Heime der ehemaligen DDR wurden von der Untersuchung ausgeschlossen.

Um ein größeres öffentliches Bewusstsein für diese zahlreichen Kindheits-Schicksale zu erwecken und zu eigenem Nachdenken und kreativen Initiativen zur Verbesserung von Kinderrechten und Entschädigungen von Betroffenen einzuladen, startet der hpd eine Artikelfolge mit der Überschrift:

Deutschland Deine Kinder

Anliegen der Folge ist es, einen Beitrag zur Integration von Erfahrungswissen in die Gegenwart zu leisten. Das klare Benennen der unbequemen Wahrheit, dass Menschenrechtsverletzungen von Kindern in einer Demokratie wie Deutschland Realität waren und sind, ist eine notwendige Voraussetzung für Lernprozesse zu einer menschlicheren und menschenwürdigeren Gesellschaft.

Unterschiedliche nationalsozialistisch, christlich und reformpädagogisch geprägte Erziehungskonzepte sollen ebenso beleuchtet werden, wie die sich darin äußernden Methoden der Bildungsselektion in Eliten und Ausgeschlossene. Damit will der hpd Anregungen zu einer gegenwartsbezogenen integrierenden Betrachtung geben, die konstruktiv nutzbar sein soll für die aktuelle Diskussion um Bildungsförderung & Integration, Gewalt & Trauma, vor dem Hintergrund von Weltanschauungen.

Der hpd wird dazu wöchentlich persönliche Erfahrungsberichte von Betroffenen, Aktennotizen, künstlerische Beiträge und auch Fachartikel und Forschungsergebnisse veröffentlichen. Um dieses Anliegen zu realisieren hat sich eine Arbeitsgruppe gegründet (Evelin Frerk, Daniela Gerstner, Manuel Koesters, Kathrina Micada), die sich aus unterschiedlichen Fachkompetenzen zusammensetzt.

Daniela Gerstner

 

Anmerkungen:
(1) Vgl. Bernhard Frings: Annäherung an eine differenzierte Heimstatistik-Statistik der Betroffenheit, in: W.Damberg, B.Frings, T. Jähnichen, U. Kaminsky (Hrsg.): Mutter Kirche-Vater Staat? Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945, Münster, 2010
(2) Interview mit Prof. Dr. Manfred Kappeler
(3) Hintergrundinformationen dazu in einem Artikel des hpd.
(4) Informationen  von Prof. Dr. Manfred Kappeler
(5) ZDF zum Endbericht des Rundes Tisches Heimerziehung / Antje Vollmer
(6) vgl. Axel Verderber: Christlich geführte Kinderheime in Irland und Deutschland, in: Hrsg: Yvonne Boenke: Lieber einen Knick in der Biographie, als einen im Rückgrat, 2010
(7) VeH-Kritik am Zwischenbericht
(8) Vgl. Carsten Frerk: Violettbuch Kirchenfinanzen, Aschaffenburg, 2010
(9) Vgl. hierzu den Beitrag des Begründers der „Gewaltfreien Kommunikation“ Marshall Rosenberg.

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Der erste Beitrag ist eine Passage aus dem Heimleben von Roswitha Weber, die in einem christlichen Kinderheim aufgewachsen ist. Sie wurde 1944 in Leverkusen geboren und lebt in der Bundesrepublik Deutschland.

Bitte beachten:
Dieser Bericht enthält Inhalte, die bei traumatisierten Menschen Erinnerungen an eigene schmerzhafte Erlebnisse wecken können. Bitte achten Sie auf Ihre Belastbarkeitsgrenzen.