Deutschland Deine Kinder (1)

Das Heim-Leben der Roswitha Weber

Geboren in Leverkusen 1944

Mit dem 2. Lebensjahr wurden sie und ihre Geschwistern auseinandergerissen. Roswitha wurde von ihrer Schwester Anni liebevoll versorgt, die Mutter kümmerte sich nicht um die kleine Tochter. Von der Fürsorge Leverkusen wurde sie in das St.-Josef-Waisenhaus Lippstadt, Hospitalstr. 15, gebracht. Dort angekommen, lernte Roswitha schon als Kleinkind mit ihren ca. 4 Jahren bewusst die grausamen Erziehungsmethoden der Schwestern vom Hl. Vincenz kennen. Die Erinnerung an diese Zeit schmerzt Roswitha noch heute. Nur die Liebe von Schwester Anni hatte sie als Kleinkind erfahren dürfen. Anni hatte sie gefüttert, die Windeln gewechselt und auf allen Wegen, die sie machte, auf ihrem Arm mitgenommen. Als sie ihre Schwester Anni nach Jahren wieder sah, erkannte sie ihre große Schwester nicht mehr. Die Liebe und Geborgenheit einer Mutter kannte Roswitha nicht, sie spürte die Sehnsucht nach Liebe ein Leben lang. Die Vincentinerinnen kannten kein Erbarmen mit der kleinen Roswitha.

Bettnässerin

Sie wurde Bettnässerin, ein Verhängnis. Bei diesem Vergehen kannten die Schwestern kein Pardon. Die kleinen Mitbewohnerinnen wurden von der Nonne aufgefordert, Roswitha bei Wiederholung zu bestrafen.

Das musste sie ertragen, denn sie nässte oft ins Bett. Sie wurde dafür angespuckt, geschlagen von ihren kleinen Mitbewohnern. Wer von den Kleinen nicht mitmachte, bekam gesondert von der Nonne eine Tracht Prügel. Schwester Marte ließ nicht locker und prügelte bei den kleinsten Anlässen auf die kleinen Kinder nach ihrem Ermessen drauflos. Bettnässer bekamen ab 15 Uhr weder zu trinken noch etwas zu essen. Roswitha war ein lebhaftes Kind, wollte alles wissen und spielte gerne mit den anderen Heimkindern. Für die Schwester Marte auf der Krabbelstation war sie zu wild beim Spielen, sie nahm einen Strick und band Roswithas rechtes Bein an einem Stuhlbein fest.

Nach einigen Stunden Stillsitzens, vergaß die Kleine, dass sie angebunden war und lief mit dem ganzen Stuhl durchs Zimmer. Die Nonne Marte war aufgebracht, jetzt ging sie mit einem anderem abgeschnittenen Stück Strick anders vor. Sie nahm jetzt beide Beine von Roswitha und band sie an einem Tischbein fest. Aufstehen konnte sie nun nicht mehr und es gab, weil sie weinte, noch zusätzlich einige Ohrfeigen und Schläge auf den Hinterkopf. Bald wurde sie 6 Jahre alt und Roswitha kam in die große Mädchengruppe zu Schwester Serapa, drei Etagen tiefer. Kaum einige Stunden in der neuen Gruppe, schlich sich Roswitha die Treppen hinauf, zur Krabbelgruppe, sie wollte hier bleiben. Hinter einen Schrank im Flur versteckte sie sich und wusste nicht genau wie sie es anstellen sollte, heimlich sich auf ihren so vertrauten Platz zu schleichen. Von diesem Versteck aus konnte sie auf die Toilettenreihen der Kleinkinder sehen. Wie die „Orgelpfeifen“ saßen die Kleinen auf ihren Töpfchen. Schwester Marte war ungeduldig, hob jedes Kind vom Topf, sah hinein, wer von den Kleinen nichts im Topf hatte, wurde von ihr mit den Rücken an die Wand gekloppt. Alle schrien laut durcheinander, die Schwester wurde immer hektischer, Roswitha schlich sich leise die Treppe hinunter „Bloß weg hier, sonst schnappt die mich auch noch“, sagte sie zu sich.

„Heringsschwänze"

Roswitha erzählt weiter: „Mir ist von einer Speise eingefallen, die wir essen mussten. Ganz wichtig ist, dass man von dieser Art der Nahrungsaufnahme und der Behandlung etwas erfährt“, sagt Roswitha: „Am Morgen, früh um 6 Uhr, vor dem Frühstück, gingen wir in die Hauskapelle zur Messe. Mittags und am Abend, vor jedem Essen beten, das Gebet lautete: „Alle Augen warten auf dich oh Herr, für diese Speisen danken wir dir, Amen ...“ Es gab zum Mittagessen mal wieder ganze Heringsschwänze, Melcher mit Grießbrei, oder ganze Heringsschwänze gekocht mit getrockneten Pflaumen vermischt, als Alternative. Wenn dieses Essen uns Kindern vorgesetzt wurde, hatten sich mehrere Kinder, so wie ich, übergeben müssen. Die Blechnäpfe (Teller) mit dem Erbrochenen, wurden bis zur nächsten Mahlzeit auf die Seite gestellt. Keines von uns Kindern wusste, von wem das Erbrochene auf dem Blechnapf (Teller) war, den man wieder vorgesetzt bekam. Es musste gegessen werden.

Die Blechnäpfe (Teller) wurden immer voller, immer wieder musste ich mich übergeben. Es stank und gärte nur so vor sich hin. Ein anderes Essen gab es nicht. Nach Tagen wurde mir mit Gewalt die „Gülle“ in meinen Rachen gegossen. Nach diesen Essenszwängen wurde besonders darauf geachtet, dass auch ich mein Nachtischgebet laut mitbete: „Wir danken dir oh Herr, für diese Speisen, die wir empfangen haben ... Amen.“ Nach einiger Zeit wurde ich sehr krank und bekam Mundfäule. Ich hatte Schmerzen im Mund, konnte kaum etwas essen, als Kind wusste ich noch nicht, woher diese Mundfäule kam.

Die leckeren, ausgenommenen Heringe wurden den Nonnen mit Pellkartoffeln schön serviert. Ich musste, als ich 11–12 Jahre alt war, fast täglich das silberne Tablett mit den Speisen für die Nonnen in ihren Speisesaal tragen und dabei kräftig an die Türe vom Refektorium anklopfen, (bei 2 Türen, Innen und Außentür) warten, bis eine Nonne mir das silberne Tablett abnahm. Ich musste warten und blieb nach meinem Klopfen an der Tür stehen, bis eine Nonne mir die Türen aufmachte, hinein in den „heiligen Raum“ durfte ich nicht. Neugierig war ich schon, was da wohl in diesem Raum, abgeschirmt von uns Kindern, stattfand. Kurz hinein geblinzelt habe ich, obwohl es streng verboten war. Es blieb ein geheimnisvoller Ort für mich, erkennen konnte ich nie etwas.

Während ich mit dem Tablett wartete, schaute ich oftmals unter die Haube, mit der das Essen abgedeckt war. Es sind mir bei dieser Heimlichkeit, nur beim Hinschauen, fast die Augen ausgefallen, das Wasser lief mir in meinem Mund zusammen. Das allerbeste Essen war unter diesen Hauben. Die Heringe, von Kopf und Schwänzen befreit, mit wunderbaren Pellkartoffeln. Es waren gute Butter, Schinken und die schönsten Wurstsorten darunter, die wir als Heimkinder an unserem Tischen nicht mal zu Gesicht bekamen. Die Heringsschwänze hatten wir essen müssen. Zum Abendessen gab es für uns Brote mit knapp bestrichener Margarine. Stullen mit nichts drauf, „Karo barfuss“ wurden diese Brote von uns genannt. Während wir Heimkinder dünn und schmächtig waren, immer hungrig, waren die Nonnen „propper“ an Körperfülle.