Deutschland Deine Kinder (Teil 2)

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Schatten / Fotos © Evelin Frerk

(hpd) Kinderrechte und Menschenbilder. Im Jahr 2010 breitete sich die öffentliche Debatte um Kriminalität in der Heimerziehung der Nachkriegszeit aus auf Straftaten an männlichen Kindern der Mittelschicht, deren Eltern sich bei deren Einschulung sicher waren, ihrem Nachwuchs beste Karrierechancen zu ermöglichen, indem sie sie auf katholische Eliteschulen schickten. (1)

Doch die Eltern der Jungen, die Opfer sexualisierter Gewalt durch Kleriker wurden, gaben ihre Kinder preis, als sie sie den Händen der Männerhierarchie der römisch-katholischen Kirche anvertrauten. Zwar gelang vielen Betroffenen eine gesellschaftlich anerkannte Karrierelaufbahn, jedoch war der Tribut, zu den „Kultivierten und Erwählten“ (2) zu gehören, sich einem sadistischen Schweigekartell zu unterwerfen. (Im Anhang zwei persönliche Erfahrungsberichte von ehemaligen Schülern des Aloisius-Kollegs in Bonn-Bad Godesberg.)

Längst ist offenkundig geworden, dass es sich keineswegs, wie von Kirchentreuen immer wieder suggeriert, um tragische Einzelfälle gehandelt hatte, sondern um systematische Straftaten an Kindern. (3)

Mitten im Prozess der Aufarbeitung und den Hilferufen der Betroffenen rief die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2010 zu vermehrter christlicher Missionstätigkeit auf. (4) Sie bestärkte mit dieser Handlung die Position der Amtskirche und schwächte (ob bewusst oder unbewusst) die Perspektive und Forderung der Opfer von Kirchenkriminalität nach Aufklärung, Rechenschaft und Prüfung, ob das christliche Menschenbild für eine menschenwürdigen Erziehung von Kindern überhaupt geeignet ist. (5) In den östlichen Bundesländern etablieren sich inzwischen christliche Institutionen zunehmend in den Branchen Gesundheit und Soziales und nutzen diesen staatlichen Versorgungsauftrag gleichzeitig, um die Bevölkerung - ungefragt und möglicherweise ungebeten - zu missionieren. (6) Parallel dazu wehren sich im Westen Menschen, die als hilflose Säuglinge per ritualisierter Wassertaufe in den Kirchenstaat assimiliert werden sollten, wenden sich als erwachsene Bürger von der Amtskirche ab und kündigen ihre Mitgliedschaft.

Während nach dem zweiten Weltkrieg ca. 800.000 westdeutsche Kinder und Jugendliche (häufig Kinder alleinerziehender, nicht verheirateter Mütter) als Ausgestoßene der Gesellschaft - christlich begründet als „Kinder der Sünde“ diffamiert - in der Heimerziehung unter elenden Bedingungen leben mussten und von Bildung ausgegrenzt wurden (7), entstand für die Kinder der westlichen Mittelschicht ein neues Bildungssystem in Form von Elite-Schulen und Klosterinternaten für Jungen. Für Mädchen sollte nach der Wiederaufbauleistung durch die so genannten „Trümmerfrauen“ die christliche Idee der Einengung von Frauen (im katholischen Sprachgebrauch „Ideal“ genannt) auf die alleinige Rolle der Hausfrau und Mutter durchgesetzt werden. Frauen sollten, so das Bestreben christlich-konservativer Politiker, wieder aus dem Erwerbsleben verdrängt werden. (8)

In der Dissertation von Christian Schmidtmann „Katholische Studierende 1945-1973“ wird diese Entwicklung beschrieben:
"Wenn es eine Institution in Deutschland gab, die im Mai 1945 nicht 'verlor', sondern 'gewann', dann war das die katholische Kirche. Ihre Rolle nach dem Zusammenbruch wird jedenfalls in der Forschung als 'Siegerin in Trümmern' akzentuiert. In ihrer Sichtweise als 'Repräsentantin der geistigen Gegenmacht zum Nationalsozialismus' fühlten sich die Bischöfe als 'bestätigt und legitimiert, auf der Grundlage des Christentums eine neue Ordnung in Staat und Gesellschaft aufzubauen'. Diese 'Hochstimmung in der Kirche' fand ihren Halt in einem scheinbar weitverbreiteten 'kirchlichen Hochgefühl' der Nachkriegszeit, für die Zeitgenossen sichtbar in überfüllten Kirchen, machtvollen Prozessionen und anfänglicher Hochschätzung kirchlicher Instanzen bei den Besatzungsmächten. Neuere Forschungen haben freilich die Haltlosigkeit der Erwartung einer durchgreifenden Rechristianisierung der Gesellschaft unter Führung der Kirche gezeigt, und auch das vermeintliche religiöse Revival der Nachkriegsjahre empirisch differenziert. Auf statistischer Grundlage wurde die Nachkriegsbeteiligung am kirchlichen Leben höchstens als Reaktivierung alter Bindungen interpretiert, im Vergleich zur Weimarer Republik sogar eine Abnahme der Kirchenbindung konstatiert. (9)

Die Reorientierung an der christlichen Religion in den Jahren der Nachkriegszeit kann als verzweifelte Suche einer tief in eigene Täterschaft verstrickten, kriegstraumatisierten Gesellschaft nach Stabilisierung und Halt verstanden werden.

1955 wurde das Cusanuswerk gegründet, eine katholische Begabtenförderung, die seit 1956 staatlich umfangreich bezuschusst wurde. Dort wurden ausschließlich männliche Studierende zugelassen, „die sich durch eine hervorragend intellektuelle und gesamtmenschliche Begabung, durch hohe charakterliche und männliche Qualität, sowie durch klare religiöse und kirchliche Gesittung auszeichnen“. (10) Das erklärte Ziel war die Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft. Daher wurde ausdrücklich formuliert, dass nicht Rechtsanwälte, Landärzte oder Buchhalter gefördert werden sollten, sondern potentielle Minister, einflussreiche Professoren und Wirtschaftsführer.